„Vom Kurtekotten in die Profi-Welt“ – in Teil drei der Serie steht Stefan Reinartz im Mittelpunkt.
163 Bundesliga-Spiele, 15 Champions-League-Einsätze, 3 A-Länderspiele, 39 Junioren-Länderspiele, Deutscher A-Junioren-Meister, U19-Europameister – all diese Einträge in die Karriere-Daten von Stefan Reinartz hätte es um ein Haar nicht gegeben.
Zum Abschluss seines U15-Jahres, im Sommer 2004, schien es so, als würde Reinartz‘ Zeit bei Bayer 04 nach einem halben Jahrzehnt zu Ende gehen. „Eigentlich war ich da gefühlt mit einem Bein draußen“, erinnert sich der heute 32-Jährige. Doch dann fand im Trainer-Team ein Umdenken statt. „Stefan hat immer hochgradig intelligent Fußball gespielt“, erklärt sein damaliger C-Jugend-Trainer Dirk Diekmann heute. „Er hat nie etwas ohne einen Plan gemacht. Ein Befreiungsschlag war sein absolut letztes Mittel – und auch dahinter steckte bei ihm immer ein Plan.“
Nur an Tempo haperte es dem groß gewachsenen, athletischen Spieler. Reinartz bekam in der U17 von Markus von Ahlen dennoch eine Chance – als Innenverteidiger. Und da machte es Klick. Der gebürtige Engelskirchener entwickelte sich zur Stammkraft, ein halbes Jahr später war er U16-Nationalspieler und unterschrieb in seinem zweiten B-Junioren-Jahr einen Fünfjahresvertrag bei der Werkself.
„Der Weg zum Profi beinhaltet 100 Puzzlesteine und Variablen, die da mit reinspielen“, weiß Reinartz. Sein eigener Werdegang war ein passendes Beispiel dafür: Nach dem ersten Probetraining als Neunjähriger wurde er in Leverkusen noch nicht genommen. Ein Jahr später brachte ihn dann Bastian Oczipka, sein Mitspieler in Bergisch Gladbach, quasi mit unter das Bayer-Kreuz. Nach einem weiteren Probeauftritt durfte er bleiben.
Ein paar Jahre später folgten der angesprochene Wendepunkt in der B-Jugend sowie die Ausleihe zum 1. FC Nürnberg als erste Profi-Station unter Trainer Peter Hermann. Der Leih-Wechsel nach Nordbayern sei ein ganz wichtiges Puzzleteil für seine Karriere gewesen, wie er heute sagt. „Peter Hermann ist der Grund, warum ich es geschafft habe“, so Reinartz. „Für mich ist er der beste Trainer. Er hat es geschafft, aus mir einen zentralen Mittelfeldspieler zu machen. Das war zu einhundert Prozent sein Verdienst.“
Hermann zog es nach seiner Zeit in Nürnberg als Co-Trainer von Jupp Heynckes nach Leverkusen, für Reinartz folgten sechs Jahre Werkself, bevor er 2016 nach einem Jahr bei Eintracht Frankfurt seine Profi-Karriere beendete – mit gerade einmal 27 Jahren. „Ich hatte einfach das Gefühl, dass meine Geschichte fertig erzählt war“, erklärt er diesen Schritt. Heute betreibt er gemeinsam mit seinem ehemaligen U19-Mitspieler Jens Hegeler eine Analysefirma, die mit ihrer „Packing“-Methode europaweit das Scouting von Profi-Klubs unterstützt.
Reinartz‘ steiniger Weg durch den Nachwuchs der Werkself zeigt, welche Rolle die Bedeutung von Kopf und Persönlichkeit für die Ausbildung eines Fußballers spielen. „Was Persönlichkeitsausbildung und Willensschulung angeht, hat uns der Verein brutal viel mitgegeben“, erkennt er rückblickend an.
Wie Reinartz musste sich seine gesamte 1989er-Altersklasse bei Bayer 04 zwischen zwei Jahrgängen mit viel Talent immer wieder behaupten. Er erinnert sich an Trainerstreiks nach einer ganz schwachen Vorstellung der Mannschaft am Wochenende, an Schulnoten nach einem Spiel, die über das übliche Spektrum hinaus gehen oder sehr klare Ansagen: „Teilweise war das hart, aber immer stringent und mit einem klaren Plan im Hinterkopf.“ Diese Maßnahmen hätten auch dazu geführt, dass der Hunger seines Jahrgangs immer groß blieb. Und dieser gipfelte schließlich in einem ganz besonderen Spiel.
Es ist der 24. Juni 2007. Das Finale um die Deutsche Meisterschaft der A-Junioren steht an. Die BayArena als Spielort ist prall gefüllt, der Nachwuchs des FC Bayern München zu Gast. Bayer 04 geht durch einen gewissen Thomas Müller in Rückstand, Bastian Oczipka schafft in Durchgang zwei den Ausgleich. Die Verlängerung muss her – und in dieser trifft Alexander Hettich zum entscheidenden 2:1. Bayer 04 ist Deutscher A-Junioren-Meister.
„Das war ein krasses Spiel mit einem geilen Ausgang“, bringt es Reinartz heute auf den Punkt. Und dennoch: „Vom Profifußball hat sich das zu dem Zeitpunkt noch sehr weit weg angefühlt.“ Reinartz erinnert sich an Diskussionen in der Kabine, dass es großartig wäre, wenn wenigstens ein Spieler aus jedem der Final-Teams den Schritt in den Profifußball schaffen würde. Wenn man heute auf dem Aufstellungsbogen von damals Namen wie Reinartz, Oczipka, Hegeler, Marcel Risse oder Julian Schauerte auf Leverkusener beziehungsweise Müller, Toni Kroos oder Holger Badstuber auf Bayern-Seite liest, ist diese Diskussion aus der Umkleide eine interessante Vorstellung.
Dabei hatte Reinartz zu dem Zeitpunkt seinen Vertrag in Leverkusen ja bereits sicher und der damalige Kaderplaner Michael Reschke ihm für die fünfjährige Laufzeit eine klare Perspektive aufgezeigt. „Eine unfassbare Wertschätzung“, weiß Reinartz heute. Aber sein Gedanke war nur: „Toll, dass ich die Möglichkeit habe, überhaupt mit den Profis zu trainieren.“ So war er, der Stefan Reinartz. Und daran hatten all die Widerstände und Wendepunkte in seiner Nachwuchs-Laufbahn unter dem Bayer-Kreuz einen entscheidenden Anteil, wie er heute betont: „Ich finde, dass wir im positiven Sinne eine sehr gute und auch harte Schule durchlaufen haben. Ich glaube, auch deshalb haben es so viele Spieler aus meinem Jahrgang geschafft, Profi zu werden.“
„Vom Kurtekotten in die Profi-Welt“ – Teil II: Erik Zenga
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