Huntington, West Virginia. Gähnende Leere in der Innenstadt, amerikanische Kinder und Jugendliche, die am nächsten Tag nicht zum Schulunterricht müssen. Einzig ein passierender Steppenläufer fehlt, um die Kulisse eines klassischen Westerns zu komplettieren. In der 50.000-Einwohner-Stadt im mittleren Osten der USA herrscht Ausnahmezustand, die Straßen sind wie leergefegt – doch nicht, weil ein Tornado jenseits des großen Teiches die amerikanische Bevölkerung in Alarmbereitschaft versetzt. Nein, in diesem Fall ist ein rundes Spielgerät der Auslöser.
An jenem 17. Mai 2021 trifft das Fußball-Team der Marshall University (West Virginia) im Finale der National Collegiate Athletic Association (NCAA) auf den Favoriten aus Indiana. Wer keines der 5.000 Tickets – ohne die Pandemie wären es 15.000 gewesen – ergattern konnte, der sichert sich einen Platz für das Public Viewing im Stadtkern Huntingtons, um das wichtigste Spiel in der Stadt-Historie live mitzuverfolgen. Am Ende gewinnen die „Herds“ das Finale in Cary, North Carolina, gegen die Indiana Hoosiers tatsächlich mit 1:0 nach Verlängerung und schreiben so durch den erstmaligen Titelgewinn der nationalen College-Meisterschaft, an der insgesamt über 220 Mannschaften teilnehmen, ein Stück „West Virginian history“.
Vor, während und nach der Partie herrscht pure Ekstase – mittendrin: Max Schneider. Der ehemalige Bayer 04-Jugendspieler, der von der U13 an mit Ausnahme der U16 alle Leverkusener Nachwuchsmannschaften durchlief, entschied sich 2019 zum Spagat zwischen Auslandsstudium und Leistungssport. Er ist als „Sechser“ das Herz eines multikulturellen Fußball-Teams, das nur so vor internationalem Talent strotzt.
Dass er mit seiner Universität den größten nationalen College-Titel gewonnen hat, kann der 20-Jährige selbst noch nicht so recht glauben: „Die vergangenen Tage, auch schon die Wochen während des Turniers, waren wie in einem Film. Die Leute sind im Vorfeld und während des Spiels vollkommen abgegangen. Ich habe noch nie vor solch einer Fankulisse gespielt“, schwärmt der gebürtige Kölner und ergänzt: „Es war einfach unfassbar. Man kann schon sagen, dass wir durch unseren Titel auf dem College-Campus Berühmtheit erlangt haben.“
Max Schneider, Sohn des ehemaligen Zweitligaspielers und heutigen Bayer 04-Physiotherapeuten Hansjörg Schneider, und seine Mannschaftskollegen sind jetzt eine Art bunter Hund – laufen, so wie er selbst sagt, „den Football-Spielern auf den Campus inzwischen den Rang ab“. Die Anerkennung für den größten sportlichen Erfolg in der Historie der Marshall University geht dabei jedoch noch weit über das Universitätsgelände hinaus. Auch in Huntington selbst kennt man nun die Spieler der Marshall Thundering Herds. „Wenn wir mal in ein Restaurant oder in eine Bar gehen, müssen wir oft nicht bezahlen, weil irgendjemand die Rechnung für uns übernimmt. Viele nehmen uns tatsächlich als Helden war, was mir aus meiner Position schon fast ein wenig absurd erscheint“, erklärt der heute 20-Jährige demütig.
Doch was war der Schlüssel zum Erfolg für das Team um Max Schneider? Welche Stellschrauben wurden gedreht, um aus einer Mannschaft, die vor vier Jahren nicht einmal unter den Top 80 College-Fußballteams in Amerika gelistet wurde, ein erfolgsgekröntes Mannschaftsgefüge zu formen.
Der wohl größte Faktor ist die Kaderzusammenstellung von Cheftrainer Chris Grassie. Der Engländer, der das Team vor vier Jahren übernahm, setzt auf einen multinationalen Kader mit fußballerischen Einflüssen aus aller Welt. In der Startelf für das NCAA-Finale gegen Indiana standen neben Max Schneider und drei weiteren Deutschen ein Engländer, ein Amerikaner, ein Kanadier ebenso wie drei weitere Brasilianer. „Es ist bei uns im Team einfach ein guter Mix zwischen Ernsthaftigkeit in der Verteidigung und Spielfreude in der Offensive“, beurteilt der defensive Mittelfeldspieler die Spielanlage seines Teams.
Insbesondere jene drei Brasilianer bereiten dem Deutschen, der sich selbst die Aufgabe zuschreibt, „im Spiel die Räume zuzulaufen und schnelle Ballgewinne zu generieren“, große Freude: „Ich spiele meistens hinter den beiden offensiveren Brasilianern. Da muss ich eigentlich nur abräumen und zusehen, dass ich denen die Bälle vernünftig zuspiele. Die machen dann ihr ‚Joga Bonito‘ und kümmern sich quasi um den Rest (lacht). Das ist schon extrem, was die brasilianischen Jungs für eine Technik mitbringen, die man so in Deutschland auch nicht sieht.“
Dennoch möchte Schneider, der neben seinen fußballerischen Ambitionen in den Vereinigten Staaten sein Psychologie-Studium vorantreibt, seine deutsche Spielanlage, die er sich in den Bayer 04-Nachwuchsmannschaften angeeignet hat, nicht missen: „Spielübersicht, Spielkontrolle, technische Fähigkeiten – das sind die Eigenschaften, die mich als Fußballer auszeichnen.
Das sind alles Sachen, die mir jetzt in den USA weiterhelfen und die ich heute nicht haben würde, wäre ich nicht in Leverkusen ausgebildet worden.“ Besonders gegen athletische Teams, die in den USA keine Seltenheit sind und den „Kick and Rush“-Spielstil bevorzugen, helfe ihm und seiner Mannschaft ein spielerischer Fußball – um besonders körperliche Gegner zu knacken. „Im Leistungszentrum Kurtekotten habe ich gelernt, das Spiel und den Gegner mit Ballbesitz zu kontrollieren“, erklärt er.
Für seine Zukunft hat das Ex-Bayer 04-Talent bereits konkrete Pläne: „Ich möchte meinen Abschluss machen. Das ist mir auch wichtig, deswegen bin ich hier hergekommen. Ich hoffe aus sportlicher Sicht aber auch, dass ich mir hier eine Chance erarbeiten kann, im Profifußball der USA Fuß zu fassen, um somit meinen Traum ‚Profifußballer‘ zu verwirklichen.“ War die Major League Soccer vor einigen Jahren noch das Ziel von europäischen Fußball-Legionären, die ihren Karriereabend in den USA ausklingen lassen wollten, ist die MLS inzwischen auch eine Adresse für viele junge, talentierte Fußballer aus dem In- und Ausland. Denn laut Schneider habe auch Amerika inzwischen das Potenzial des Fußballs erkannt und rüstet in der Entwicklung von Talenten mächtig auf – zumal die Weltmeisterschaft 2026 USA/Mexiko zum Teil im eigenen Land ausgetragen wird. „Die USA wird in den nächsten Jahren definitiv Talente produzieren. Einfach, weil das Geld, 330 Millionen Menschen und der Wille da sind, die MLS neben den anderen US-Top-Sportarten zu etablieren“, beurteilt Schneider die sportliche Entwicklung des Fußballs, der in Amerika bis vor kurzem nicht mehr als der „kleine Bruder“ von Sportarten wie American Football oder Basketball war. Zudem sorgen amerikanische Idole wie Christian Pulisic in den europäischen Top-Ligen für Furore. Der US-Amerikaner gewann zuletzt sogar mit Chelsea-Mannschaftskollege und Ex-Bayer 04-Profi Kai Havertz die Champions League.
Dass sich „Soccer“ in den USA in die richtige Richtung entwickelt, konnte Schneider parallel auch in seinem Umfeld beobachten, als er und sein Team die NCAA-Trophäe nach West Virginia brachten. „Als ich vor zwei Jahren nach West Virginia kam, gab es eigentlich keine Fan-Community, die sich für den Fußball interessiert hat. Seitdem wir aber den Titel geholt haben, steht jetzt im Raum, dass hier sogar eine ‚Soccer-Academy‘ entstehen soll. Ich glaube, die Amerikaner realisieren gerade, dass Fußball einfach der beste Sport der Welt ist. Ich bin mir sicher, es wird in den nächsten Jahren den einen oder anderen weiteren Pulisic geben“, glaubt der NCAA-Sieger.
Schneider selbst treibt seine fußballerischen Ambitionen aktuell ebenfalls voran – in der Sommerpause war er in Atlanta zu einem Probetraining bei einem „Senior Team“. Irgendwann würde er auch gerne wieder nach Deutschland zurückkehren – idealerweise natürlich als Profifußballer. Ein Stück Kurtekotten trägt er heute zumindest immer noch im Herzen: „Die Zeit in Leverkusen war quasi meine halbe Kindheit und Jugend. Die Jungs, die ich da als Freunde gewonnen habe, die werden lebenslange Freunde bleiben. Die gemeinsame Zeit in der Kabine, die zahlreichen Turniere im Ausland. Mit der U13 sind wir in die Niederlande, nach Italien oder sogar nach Katar gereist. Das sind Erinnerungen, die wird mir keiner mehr nehmen können. Und ich erinnere mich gerne zurück – dazu gehören auch die Derbys gegen den FC.“
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