Es war das letzte Europapokalspiel mit Zuschauern vor dem Lockdown. Vor genau einem Jahr, am 12. März 2020, trat die Werkself im Hinspiel des Europa-League-Achtelfinals bei den Glasgow Rangers an. Während das legendäre Ibrox brodelte, legte die Corona-Pandemie das soziale Leben in fast ganz Europa lahm. Im Rahmen einer Reportage, die in Ausgabe 25 des Werks11 Magazins erschienen ist, blicken wir zurück auf die 60 Stunden zwischen gelebter Fußball-Kultur und einem tödlichen Virus, das inzwischen unseren Alltag prägt...
Der Jubel ist groß, kurz bevor das Flugzeug auf dem Boden des Flughafens Köln/Bonn aufsetzt. Es ist Freitag, der 28. Februar. Am Vorabend hat die Werkself mit 3:1 in Porto gewonnen und sich damit für das Achtelfinale der Europa League qualifiziert. Während sich die Mannschaft und die gesamte Delegation auf die Landung vorbereiten, wird im schweizerischen Nyon die Runde der letzten 16 Teams ausgelost. Losfee Didi Hamann entfaltet das Papier und hält es in die Kamera: „Rangers FC (SCO)“. Gejohle und glückliche Gesichter im Sonderflug von Porto nach Köln/Bonn. Die Rangers, der schottische Rekordmeister, das legendäre Ibrox – Gänsehaut, wenn 50.000 singende Schotten ihr Team nach vorne peitschen. Ein Traumlos für Groundhopper und Fußball-Nostalgiker. Die Vorfreude bei Schwarz-Rot ist groß, das Thema Coronavirus weit weg – Covid-19-Infizierte am 28. Februar in Deutschland: 30.
Knapp zwei Wochen später ist es endlich so weit. Mittwoch, 11. März, einen Tag vor dem Auswärtsspiel bei den Rangers. Das Abschlusstraining vor dem Europa-League-Duell muss in Leverkusen stattfinden. Es hat zu viel geregnet in Glasgow, man sorgt sich um das Geläuf. Aber das Hinspiel soll am nächsten Tag angepfiffen werden, vor Zuschauern. Während die Spiele in Sevilla und in Mailand wegen der Coronavirus-Pandemie bereits abgesagt sind, und Frankfurt sowie Wolfsburg vor leeren Rängen antreten werden, ist das Ibrox Stadium für den nächsten Tag nahezu ausverkauft: 47.494 Menschen fiebern dem Duell entgegen. Doch schon am Flughafen merken die Mitglieder der Leverkusener Delegation, dass dies keine „normale“ Europapokal-Reise ist. Die Abflughalle ist gegen 14 Uhr am Nachmittag nahezu verwaist. Nur vereinzelte Reisende schlendern nahezu lautlos über die Bodenfliesen der Marke Galaxy. Wo sich sonst Weggefährten in Sachen Bayer 04 umarmen, abklatschen oder zumindest die Hand geben, wird auf einmal Abstand gehalten. Das Desinfektionsmittel als Give-Away neben Begegnungsschal und Pocket-Guide ist schnell vergriffen. Die Gespräche changieren zwischen dem bevorstehenden Spiel und dem Coronavirus.
Bis 16 Uhr an dem Tag werden in NRW 801 Covid-19-Infizierte registriert; 3 von ihnen sind an den Folgen der Infektion gestorben. Die Landesregierung gibt bekannt, dass Großveranstaltungen ab 1000 Zuschauern verboten sind; und Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigt die Entscheidung der lokalen Behörden, Bundesligaspiele am Wochenende ohne Zuschauer auszutragen. Das Handy, die Verbindung zur Außenwelt, die sich zunehmend nur noch um das Coronavirus dreht, verschwindet in der Hosentasche. Zurück am Flughafen, zurück in der eigenen Realität: Beim Einsteigen misst Mannschaftsarzt Dr. Karl-Heinrich Dittmar, der gleichzeitig auch Pandemie-Beauftragter von Bayer 04 ist, die Temperatur der Mitreisenden. Ungewöhnlich, aber angesichts der Meldungen verständlich, die minütlich auf dem Smartphone eintreffen.
Flugmodus im Flieger. Das Thema Covid-19 schwirrt zwar durch das Luftfahrzeug von Sonderflug X3 8904, ist aber nicht Gesprächsthema Nummer 1. Sportliche Fragen rücken in den Vordergrund. Wie stellt Peter Bosz morgen auf? Wird es Veränderungen im Vergleich zum 4:0 gegen Frankfurt geben? Wie wirken sich die kurzfristigen Ausfälle von Lucas Alario und Daley Sinkgraven aus? Die Diskussionen sind lebhaft, die Vorfreude auf das Erlebnis „Ibrox“ steigt von Flugkilometer zu Flugkilometer. Rund 90 Minuten dauert die Reise ins 1000 Kilometer entfernte Glasgow. Vor Ort angekommen, geht es direkt ins Stadion. Der braune Backsteinbau, in dem seit 1899 Fußballschlachten geschlagen werden, saugt einen förmlich auf. Auch ohne Zuschauer übt dieser Ort eine besondere Faszination aus. Außen Industrie-Kultur, innen ein Fußball-Traum in Blau und Braun. Enge Gänge mit Holz-Vertäfelung und überall Bilder, die von der ruhmreichen Vergangenheit des Rangers Football Club zeugen. Formvollendet auch die Begrüßung im Empfangsbereich. „Welcome to Ibrox“, intoniert geradezu ein Klub-Angestellter im Anzug. Auch die Begrüßung der Kollegen von der Pressestelle der Rangers wird mit einem Lächeln vorgetragen, ist aber eher unbritisch direkt: „We know it‘s rude. But we are not allowed to shake hands with you. Advice from our medical department.“ („Wir wissen, dass es unhöflich ist. Aber wir dürfen euch nicht die Hände schütteln. Eine Anordnung unserer medizinischen Abteilung.“, Übersetzung der Red.)
Später am Abend in einem landestypischen Pub verschwindet das Thema Coronavirus im schottischen Nebel. Bei Haggis, Single Malt und Angus Filet genießt die Reisegruppe aus dem Rheinland die schottische Gastfreundschaft. Der Akku des Handys ist leer, man lebt im Hier und Jetzt.
Doch am nächsten Morgen ist das Mobil-Telefon wieder aufgeladen, die Verbindung mit der Corona-Welt steht. Die UEFA-Sicherheitsbesprechung bedeutet Fußball-Alltag, doch im Mannschaftshotel wird diskutiert. Wie gefährlich ist dieses Virus? Ist Corona wirklich so viel gefährlicher als Influenza? Sind die sich anbahnenden Maßnahmen angemessen? Wer spielt bei den Rangers eigentlich auf der Sechs? – Keine Ahnung.
Normalerweise bietet der Vormittag an Spieltagen die Chance, die jeweilige Europapokal-Destination zu erkunden. Doch beim Gang durch Glasgow fällt auf: Fans im Bayer 04-Trikot sind zwar unterwegs, doch sie gehen achtlos über den George Square, an der St. Mungos Cathedral vorbei und lassen auch Kelvingrove Art Gallery and Museum links liegen. Stattdessen glotzen alle auf ihr Handy. Ein Basketballer von Real Madrid ist positiv auf Covid-19 getestet worden: Der Verein schickt seine Basketballer und auch die Fußballer in Quarantäne. Auch Tom Hanks und seine Frau Rita Wilson sind betroffen. Sie halten sich gerade in Australien auf. Die Pandemie scheint alles zu verschlingen. Dann am Mittag greifen deutsche Medien eine Meldung der spanischen Tageszeitung MARCA auf: „Die UEFA stoppt den Spielbetrieb in der Champions und in der Europa League.“
Jetzt wird es hektisch im Mannschaftshotel. Verbindungsleute bei der UEFA werden angerufen. Haben wir die Reise nach Glasgow umsonst gemacht? Müssen wir unverrichteter Dinge wieder nach Hause fliegen? Journalisten rufen an. Fans melden sich via WhatsApp. Kurze Zeit später die Entwarnung: Es wird gespielt. Vor Zuschauern.
Auf der einen Seite Erleichterung, immerhin sind wir aus diesen Gründen nach Glasgow geflogen, und die Austragung suggeriert „Normalität“ in verrückten Zeiten. Auf der anderen Seite fühlt sich alles so surreal an, die Unsicherheit wächst von Nachricht zu Nachricht, von Tweet zu Tweet, von Breaking-News-Einblendung zu Breaking-News-Einblendung. Am Nachmittag dann endlich die Busfahrt zum Austragungsort des Europa-League-Duells. Die bekannten Routinen, man darf wieder funktionieren.
Das Stadion kommt ins Blickfeld. Das Flutlicht ist schon an. Noch ist keiner drin, doch in der Schüssel aus Backstein und Stahl scheint es schon jetzt zu brodeln. Durch knarrende Holztüren geht es in den übersichtlichen Pressekonferenz-Raum. Die Video-Kollegen filmen die Ankunft der Werkself von einer Holztreppe im Eingangsfoyer das eher an ein altehrwürdiges Hotel als ein Fußballstadion erinnert. Der Portier – oder eher gesagt der Mitarbeiter der Rangers begrüßt die Besucher wie am Vortag: „Welcome to Ibrox.“
In der Kabine hat man den Eindruck, man befindet sich auf einer ehrwürdigen Bezirkssportanlage. Social Distancing ist unmöglich, dafür viel Holz, blaue gusseiserne Badewannen und Duschen, unter denen wahrscheinlich noch die Helden von Bern gestanden haben. Eine halbe Stunde vor Anpfiff geht es auf die Pressetribüne. Während diese in den meisten deutschen Stadien etwas abgeschottet von den Sitzplätzen der Fans liegt, können die Zuschauer im Ibrox quasi mitlesen, was die Journalisten in ihre Laptops hämmern, die sie auf kleinen Holztischen balancieren. Wie es sich anfühlt, wenn die hartgesottenen Rangers-Anhänger ihr Team mal wenige Sekunden nicht sehen können, bekommen die Kollegen des Werkself Radios zu spüren. „Hey, sit down!“ ist eine der netteren Bemerkungen für die stehenden Kommentatoren, die sich daraufhin zügig auf ihre vier Buchstaben setzen. „Welcome to Ibrox…“
Die grandiose Stimmung, von der man im Vorfeld immer wieder gehört hat, ist beim Einlaufen der beiden Teams fast körperlich spürbar. Gefühlt gibt es keinen einzigen Fan im Ibrox, der nicht um sein Leben schreit, um dem Team von Trainer Steven Gerrard den letzten Funken Motivation mit auf den Weg zu geben. Doch die Werkself bleibt besonnen, verlässt sich auf ihre fußballerische Stärke. Das gellende Pfeifkonzert, als Kai Havertz nach 37 Minuten zum Elfmeter antritt, tut in den Ohren weh – lässt den Schützen aber scheinbar völlig kalt. Trocken unten links verwandelt – „You‘re welcome!“.
In der Halbzeitpause schlägt allerdings das Coronavirus zurück. Schauplatz: London. Breaking News im PK-Raum: Trainer Mikel Arteta vom englischen Erstligisten FC Arsenal ist positiv auf Covid-19 getestet worden. Die ganze Mannschaft und der Stab müssen in Quarantäne. Für viele Journalisten ist klar: Das war´s. Game over.
Auf dem Platz sorgt ein Chilene für die vermeintliche Entscheidung: Der stramme Schuss aus 15 Metern von Charly Aránguiz zum 2:0 nach etwas mehr als einer Stunde lässt das Ibrox zumindest kurz verstummen. Aber als der aufgerückte Edmundson nach einer Ecke den 1:2-Anschlusstreffer erzielte, stehen alle Rangers-Fans und brüllen ihr Team wieder nach vorne. Es ist offensichtlich, warum diese Mannschaft zu Hause so schwer zu besiegen ist – vor der Partie sind „The Gers“ in 17 Europapokalspielen ungeschlagen geblieben.
Leon Bailey scheint diese Information in der 88. Minute nicht parat zu haben. Er lässt seinen Gegenspieler im Strafraum ins Leere laufen und chippt den Ball zum 3:1-Endstand ins Netz. Das Ibrox verstummt, die Leverkusener Ecke jubelt. Doch als die Spieler über die Videobande steigen wollen, um mit den Fans zu feiern, stoppt „Corona“ die Truppe: Havertz und Co. müssen aufgrund der möglichen Ansteckungsgefahr zwei Meter Abstand zu den Anhängern lassen. Gefeiert wird trotzdem. Frei nach „A Touch of Class“: „Schalalala – Oh – Bayer – Le – ver – ku – sen…“
Und auch in der Mixed-Zone wird deutlich, dass die 90 Minuten zwar alle Anwesenden aus dem Alltag gerissen haben, die Pandemie und die damit einhergehenden Sicherheitsmaßnahmen jedoch schnell wieder allgegenwärtig sind. Die Spieler der Rangers gehen erst gar nicht durch den Interview-Bereich; Bayer 04 hat hingegen zwei Spieler bestimmt, die zwei Meter von den Journalisten entfernt Fragen beantworten. Erst kurz zum Spiel, dann aber vermehrt zum Virus. Und Jonathan Tah trifft genau den richtigen Ton. Angesprochen auf die Möglichkeit, dass die Saison in der Europa League abgebrochen wird, antwortet der 24-Jährige: „Wenn Menschen dadurch geholfen wird, stehen wir voll dahinter. Dann geht es nicht um Titel, sondern um die Gesundheit. Das ist wichtiger. Das sehen wir alle so.“
Glücklich, aber auch kaputt und sehr nachdenklich. Mit diesen Gefühlen im Gepäck geht es zurück zum Flughafen. Um 2.55 Uhr landet der Charterflug X3 8905 in Köln/Bonn. Kurz vor der Landung ist es mucksmäuschenstill im Flieger. Kein Jubel, kein Gejohle. Die Freude bei Schwarz-Rot ob des Sieges ist verflogen, das Thema Coronavirus allgegenwärtig – Covid-19-Infizierte am 13. März in Deutschland: 3062.
Wenige Stunden nach der Landung an diesem Freitag wird das Montagabend-Spiel in Bremen abgesagt. Der Bremer Innensenator befürchtet, dass sich am Spieltag mehr als 1000 Fans vor dem Stadion versammeln werden. Um 16.15 Uhr zieht auch die Deutsche Fußball Liga nach und setzt den kompletten Spieltag aus.
Die Reportage entstammt dem Werks11 Magazin #25. HIER geht's zum kostenlosen Online-Blätterkatalog.
Die Video-Zusammenfassung zum Sieg im Ibrox: