Nur der VfL Wolfsburg und Juventus Turin: Die Niedersachsen bewegten sich bis vor Kurzem in bester Gesellschaft. Denn bis in die vergangene Woche hinein waren in Europas Top-Ligen nur der Gruppen-Gegner der Werkself und eben die Wölfe in allen Pflichtspielen ungeschlagen. Dann endete die Serie der Niedersachsen mit einem deutlichen 1:6 im DFB-Pokal gegen RB Leipzig, am Samstag folgte am 11. Spieltag die erste Niederlage in der Bundesliga – ein 0:3 bei Borussia Dortmund. Was in der Liga weiterhin Bestand hat, ist die weiße Weste vor eigenem Publikum: Sollte Bayer 04 am Sonntag in der Volkswagen-Arena gewinnen, es wäre die erste Heimniederlage in der Bundesliga für den VfL in dieser Saison. Und nicht nur das: Die Werkself könnte in diesem Fall auch an den Wölfen vorbeiziehen, die aktuell zwei Punkte und zwei Tabellenplätze vor den Leverkusenern liegen. Das gestern ausgetragene Duell in der Europa League gegen den belgischen Vertreter KAA Gent verloren die Wölfe nach einer 1:0-Pausenführung noch mit 1:3.
Neben anderen Trainer-Verpflichtungen des Sommers wie die von Julian Nagelsmann und Marco Rose ging die Personalie Oliver Glasner beinahe unter. Fast ein wenig bezeichnend, denn den Österreicher macht eine betont unaufgeregte Art aus, die ihm schnell nicht nur die Sympathien der VfL-Anhänger einbrachte. Der 45-Jährige setzt konsequent auf ein 3-4-3-System, will das defensive Zentrum verdichten und offensiv das Flügelspiel forcieren. Als Abnehmer für Hereingaben steht dann in der Regel Wout Weghorst bereit. Der Niederländer markierte bislang 8 Tore in 15 Pflichtspielen, in der vergangenen Spielzeit steuerte er in der Bundesliga ganze 17 Treffer bei. Der großgewachsene Mittelstürmer ist der Prototyp eines torgefährlichen Mittelstürmers, ausgestattet mit einer beeindruckenden Lufthoheit und dem vielzitierten Torinstinkt. Prunkstück des neuen Glasner-Teams war – zumindest bis vergangene Woche – aber die Defensive. Selbst nach dem 0:3 in Dortmund stellt der VfL mit nur acht Gegentoren noch die beste Abwehr der Bundesliga. Und das, obwohl Stammtorwart Koen Casteels bereits seit September ausfällt. Vor ihm machte das Team in der Rückwärtsbewegung aber meist einen hervorragenden Job, vor allem der zuvor bereits aufs Abstellgleis abgerutschte Innenverteidiger Marcel Tisserand ist unter Glasner zuletzt aufgeblüht.
Casteels ist nicht der einzige etatmäßige Stammspieler, der derzeit nicht für die Wölfe auflaufen kann – die Verletztenliste des VfL ist lang. Besonders schwer wiegt der langfristige Ausfall von Xaver Schlager, im Sommer als Königstransfer und Glasners Wunschspieler aus Salzburg gekommen. Der Mittelfeldspieler zeigte gleich sein außerordentliches Können, zog sich aber am 3. Spieltag einen Knöchelbruch zu. Zuletzt gab es jedoch Hoffnung: Durch die Behandlung eines Spezialisten könnte Schlager noch in der Hinrunde auflaufen, ein Einsatz gegen die Werkself ist allerdings ausgeschlossen. Gleiches gilt für Angreifer Daniel Ginczek sowie für den Ex-Leverkusener Admir Mehmedi, der das Duell mit den alten Kollegen aufgrund eines Muskelfaserrisses verpassen wird. Zwischen 2015 und 2018 hatte der Schweizer in 86 Pflichtspielen für die Werkself 13 Tore erzielt.
Mit Glasner hat Wolfsburg einen echten Fachmann am Ruder. Und Sportdirektor Jörg Schmadtke tätigte in den vergangenen zwei Jahren einige kluge Transfers wie Jerome Roussillon, Weghorst oder zuletzt Schlager. So hat sich der VfL aufgeschwungen vom zweimaligen Relegations- zum ambitionierten Europa-League-Teilnehmer. Die Struktur im Verein stimmt, die finanziellen Möglichkeiten sind da, die sportliche Führung verfolgt einen klaren Plan. Die Weichen sind gestellt, um den Deutschen Meister von 2009 wieder langfristig im vorderen Drittel der Bundesliga zu etablieren.
Auch in dieser Saison scheint der Sprung unter die ersten Sechs wieder möglich, der VfL verfügt über die nötige Qualität, die nach der Rückkehr von Schlager und Casteels sogar noch weiter ansteigen wird. Eine entscheidende Saisonphase steht den Wölfen aber jetzt bevor: Wie geht die Mannschaft mit den ersten und deutlichen Niederlagen der Saison um? Wie mit dem schwierigen Restprogramm bis Weihnachten, das nach Bayer 04 unter anderem noch Borussia Mönchengladbach, den FC Schalke 04 und den FC Bayern München beinhaltet? Das Aufeinandertreffen mit der Werkself könnte ein richtungsweisendes Spiel für die Niedersachsen werden.
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