Gegner-Check: Die Eisernen sind schwer zu knacken

Seit sieben Spieltagen Bundesliga-Spitzenreiter, nach dem 1:0-Sieg in Saint-Gilloise für die K.-o.-Runden-Play-offs in der UEFA Europa League qualifiziert und auch im DFB-Pokal noch mit allen Möglichkeiten: Der 1. FC Union Berlin spielt einmal mehr eine erstaunliche Saison. Am Sonntag, 6. November (Anstoß: 15.30 Uhr), sind die Eisernen zu Gast in der BayArena. Die Werkself wird auf ein selbstbewusstes Team mit vielen Stärken treffen, wie der Gegner-Check zeigt.
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Position

Der Last-Minute-Treffer von Danilho Doekhi gegen Borussia Mönchengladbach bescherte den Eisernen am vergangenen Wochenende bereits ihren achten Saisonsieg in der Bundesliga. Das ist schon jetzt neuer Hinrunden-Rekord für den Klub. Das Tor zum 2:1 in der siebten Minute der Nachspielzeit hatte das Stadion An der Alten Försterei in ein Tollhaus verwandelt. Kein Wunder, die Köpenicker waren wieder einmal über sich hinausgewachsen, hatten sich in der extrem intensiven zweiten Hälfte Chance um Chance erspielt und erkämpft. „Es war ein geiler Nachmittag“, fand Mittelfeldakteur Rani Khedira. „Gladbach konnte unserer Mentalität am Ende nichts mehr entgegensetzen.“ Es sei „eine brutale Willensleistung “ gewesen, so der 28-Jährige. Auch Trainer Urs Fischer hatte „eine fantastische zweite Halbzeit“ seiner Mannschaft gesehen und war nach dem packenden Spiel sichtlich angefasst. „Ein Wahnsinn – wirklich“, befand der Schweizer angesichts des leidenschaftlichen Auftritts seines Teams und der Verteidigung der Spitzenposition. Seit nun bereits sieben Spieltagen führt der 1. FC Union Berlin die Tabelle an.

Dass man – mit dem nötigen Selbstvertrauen ausgestattet – erfolgreich sein kann, ohne spielerisch zu glänzen, bewies das Team von Trainer Urs Fischer am Donnerstagabend auch in der Europa League. Beim schon vor dem Anpfiff als Gruppensieger feststehenden belgischen Klub Royale Union Saint-Gilloise musste Union gewinnen, um sich als Zweiter für die K.-o.-Runden-Play-offs zu qualifizieren – und meisterte mit dem 1:0-Sieg auch diese Drucksituation. Dieses Mal waren die Berliner früh durch Sven Michel in Führung gegangen (6.). Einen fußballerischen Leckerbissen bekamen die Zuschauer nicht zu sehen. „Das war schon ein eher schlechtes Spiel, aber am Ende haben wir 1:0 gewonnen und überwintern in der Europa League, und das nach diesem Start in der Gruppenphase“, zeigte sich Rani Khedira nach dem Schlusspfiff erleichtert. Ergebnistechnisch waren die Köpenicker in Gruppe D in der Tat minimalistisch unterwegs. Die ersten beiden Partien hatten sie jeweils mit 0:1 verloren – und gewannen dann viermal in Folge ebenfalls jeweils mit einem 1:0. Das fand selbst Urs Fischer bemerkenswert: „Wahnsinn! Mit vier Toren zwölf Punkte geholt“, staunte der Coach nach der Partie über seine Mannschaft, die auch noch im DFB-Pokal vertreten ist und dort im Achtelfinale Ende Januar 2023 den VfL Wolfsburg empfängt.

Personal

In der BayArena kann Urs Fischer fast aus dem Vollen schöpfen. Nicht dabei ist jedoch Torhüter Frederik Rönnow, der sich am vergangenen Donnerstag im Europa-League-Spiel am Oberschenkel verletzt hatte und in der zweiten Hälfte von Lennart Grill vertreten wurde. Der 23-jährige Keeper, der im Sommer von Bayer 04 an die Eisernen ausgeliehen wurde, wird demnach auch am Sonntag in Leverkusen zwischen den Pfosten stehen. Auch Mittelfeldspieler Andras Schäfer erlitt am Donnerstag eine Verletzung am rechten Fuß und wird fehlen. Vermutlich wird Fischer nach dem Erfolg in Belgien auch darüber hinaus ein wenig rotieren und der einen oder anderen Stammkraft eine Pause gönnen. So könnte in der Dreierkette wieder Timo Baumgartl zum Einsatz kommen. Dort waren zuletzt der Portugiese Diogo Leite auf der linken Seite und Robin Knoche zentral gesetzt. Rechts kamen wahlweise Paul Jaeckel, Danilho Doekhi oder eben Baumgartl zum Zug. Auf den Außenbahnen davor wechseln sich Kapitän und Routinier Christopher Trimmel, der Norweger Julian Ryerson, der Pole Tymoteusz Puchacz und Niko Gießelmann ab.

Im Mittelfeld bilden meist Rani Khedira, der Bruder von Weltmeister Sami Khedira, sowie Janik Haberer, Neuzugang vom SC Freiburg, und der Ungar András Schäfer eine Achse. In Belgien stand anstelle von Schäfer der Japaner Genki Haraguchi in der Anfangsformation. Vorne sind fast immer Sheraldo Becker und Jordan Siebatcheu gesetzt. Nicht auszuschließen aber, dass in Leverkusen einer der bisherigen Joker Kevin Behrens, Jamie Leweling oder Sven Michel, der Siegtorschütze in Saint-Gilloise, in der Startelf stehen wird.

Prunkstück

Union stellt mit nur neun Gegentoren die beste Defensive der Liga. Aber auch offensiv zählen die Köpenicker mit ihren 21 Treffern zu den Top 4. Aufpassen sollte die Werkself vor allem bei hohen Bällen: Beim 2:1 gegen Mönchengladbach erzielten die Eisernen ihre Kopfballtreffer sechs und sieben – Bestwert in der Liga. So wundert nicht, dass Union bislang aus dem Spiel heraus auch die zweitmeisten Flanken aller Bundesligisten geschlagen hat (168). Noch ein Trumpf der Hauptstädter: Die Spieler, die von der Bank kommen, können Partien entscheiden. Nicht nur vier Jokertore – bester Wert nach Borussia Dortmund – sprechen für einen ausgeglichen besetzten Kader. Gegen M'gladbach wechselte Urs Fischer beim Stand von 0:1 nach einer Stunde in Genki Haraguchi, Sven Michel und Christopher Trimmel drei frische Kräfte ein. „Das hat nochmals Geschwindigkeit reingebracht“, so der Coach, der dann mit den Stürmern Jamie Leweling und Kevin Behrens noch zweimal nachlegte. Letzterer erzielte den Ausgleich, Leweling schlug die Flanke zum 2:1. Beeindruckend auch, wie widerstandsfähig sich die Köpenicker zeigen. Selbst zwei (zu Recht) nicht gegebene Tore gegen M'gladbach brachten sie nicht aus dem Konzept. Die Mannschaft glaubt bis zum Schluss an sich. Und mit jedem weiteren Sieg wächst das Selbstvertrauen.

Probleme

Die Doppelspitze Sheraldo Becker/Jordan Siebatcheu hat nach starkem Saisonbeginn zuletzt an Durchschlagskraft eingebüßt. Seit dem 7. Spieltag beim 2:0 gegen den VfL Wolfsburg konnte keiner der beiden Stürmer mehr einnetzen. „Solche Phasen gibt es“, zeigt Urs Fischer Verständnis, „es ist entscheidend, dass sie weiter dranbleiben“. Bisher kommt das Duo zusammen auf neun Treffer und sechs Torvorlagen.

Prognose

War es eiserne Tiefstapelei, gepflegtes Understatement oder schlicht realistische Selbsteinschätzung? Angesichts der Tatsache, dass der 1. FC Union Berlin Bundesliga-Spitzenreiter ist, wirken die vor der Saison von Verantwortlichen und Spielern formulierten Saisonziele jedenfalls längst überholt. „In erster Linie geht es darum, drei hinter sich zu lassen“, hatte Oliver Ruhnert, Geschäftsführer Profifußball, verkündet. „Für die Bundesliga rufen wir definitiv wieder den Klassenerhalt aus“, betonte auch Kapitän Christopher Trimmel. Und selbst jetzt, nach zwei Monaten an der Tabellenspitze und den Fan-Gesängen „Deutscher Meister wird nur der FCU“, bleiben die Köpenicker auf dem Teppich. Trainer Urs Fischer gibt weiter die Zielmarke von 40 Punkten aus, erst danach könne man weitersehen. „Die Mannschaft bleibt klar, obwohl sie zurzeit an erster Stelle steht. Sie kann es sehr gut einschätzen.“ Fakt ist auch, dass Union es seit Jahren immer wieder schafft, die Abgänge von Leistungsträgern wie Robert Andrich (Bayer 04), Max Kruse (VfL Wolfsburg) oder zuletzt Taiwo Awoniyi (Nottingham Forest) zu kompensieren. Elfter, Siebter, Fünfter: Bislang konnten sich die Eisernen noch in jeder Saison steigern. Und so, wie sie sich bislang in ihrer vierten Bundesliga-Spielzeit präsentieren, ist ihnen dieses Mal alles zuzutrauen.

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