Zwi­schen Haching und Hamp­den

2002-05-04_Reiner_Calmund_troestet_Michael_Ballack_3.jpg

In der von den Fans immer wieder voller Leidenschaft mitgeschmetterten Hymne des so genannten Werksklubs Bayer 04 Leverkusen heißt es: „Wir haben den UEFA-Cup/und den DFB-Pokal/und Deutscher Meister werden wir im nächsten Jahr . . .“. Das ist, wie man weiß, leichter gesungen als getan. Seit mittlerweile 40 Jahren kämpfen Fußball-Profis mit dem Bayer-Kreuz auf der Brust darum, dieses Versprechen endlich wahr zu machen. Geschafft haben sie es bisher nicht. Aber einige waren doch verdammt nah‘ dran. Die Vereinschronik vermeldet (seit 1997) fünf Vizemeisterschaften, die unter teils abenteuerlichen Umständen errungen wurden. Gleichbedeutend mit fünf Teilnahmen an der Champions League, der nobel besetzten europäischen Königsklasse. Wer hier aufspielen darf, hat sich quasi ein Abo für die alljährlichen Treffen des europäischen Fußball-Hochadels und damit seinen Platz auf der kontinentalen Fußball-Landkarte gesichert.

Die Qualifikation für diese weltweit beachtete Bühne bedeutet einen riesengroßen Schritt für einen Klub, der zwar einen global operierenden Sponsor und schon einen internationalen Titel (UEFA-Cup 1988) sein eigen nennt, aber ansonsten wenig auffällig daherkommt. Mit einem manchmal etwas rabauzig und rastlos auftretenden Manager wird er allenfalls als potentieller Störenfried für die Platzhirsche der Zunft, die bis dahin die Jahreserträge unter sich aufgeteilt haben, wahrgenommen.

Fünf Vizetitel. Eine mit Schleifchen versehene Bilanz wie auf Glanzpapier. Fünf Erfolgsstorys also!? Ja und nein. Die einen sagen so. Die anderen sagen so. Die Bewertung fällt nicht so eindeutig positiv aus wie man auf den ersten Blick annehmen möchte. Zwei Kommentare spiegeln die erhebliche Bandbreite der Einschätzungen wider. Einerseits ist da der niederländische Ex-Bayer-Profi und aktuelle sky-Experte Erik Meijer, dessen auf Stein gepinselte drastische Formulierung die Besucher am Aufgang F1 in die BayArena begleitet: „Nix ist scheißer als Platz 2“. Andererseits hat nach wie vor die seinerzeitige melodramatische Aussage des langjährigen Bayer-04-Managers Reiner Calmund Bestand: „Wenn man mir in den nächsten Jahren Platz zwei garantiert, dann unterschreibe ich das mit meinem eigenen Blut“. Hier spricht der Vereinspatron mit Blick auf Planungssicherheit, auf Soll und Haben, der seine Fußball-Leidenschaft den schwarzen Zahlen unterordnet. Dort der unverfälschte Ehrgeiz des Sportsmanns. 

crop_1997_Torjubel_Paulo_Sergio_Erik_Meijer.jpg
„Nix ist scheißer als Platz 2": Das Zitat von Erik Meijer ist genauso legendär wie sein Jubelhopser mit Paulo Sergio.

Die vergebliche Jagd nach dem magischen, goldenen Stern auf dem Trikot, der zwar keinen Namen trägt, aber alle Zeiten übersteht, hat den Leverkusenern in der Szene den später urheberrechtlich geschützten Beinamen „Vizekusen“ eingebracht. Das hämisch gefärbte Wortspiel ist dem in der Branche allenthalben grassierenden Futterneid geschuldet. Die Bayer-Fans haben die entsprechenden Rufe in den Stadien der Republik („Ihr werdet nie Deutscher Meister!“) irgendwann mit Selbstironie beantwortet („Wir werden nie Deutscher Meister!“) und so dem Rivalen den Wind aus den Segeln genommen. Bei nächster Gelegenheit versprechen sie sich allerdings wieder gegenseitig lauthals: „ . . . und Deutscher Meister werden wir im nächsten Jahr“.

Die Anfänge von „Vizekusen“ sind unter dem im Fußball bei passender Gelegenheit gerne benutzten Stichwort „ausgerechnet. . .“ abgeheftet. Ausgerechnet . . .  im Sommer 1996 verpflichtet der Klub als neuen charismatischen Cheftrainer Christoph Daum. Ausgerechnet . . . am Ende einer total verbeutelten Saison, in der die Mannschaft dem Abstieg nur um ein Haar und ein unvergessliches Tor von Markus Münch im entscheidenden Duell gegen Kaiserslautern entkommen ist, legen die Verantwortlichen den Grundstein für einen Aufschwung, mit dem zu diesem Zeitpunkt niemand im Ernst rechnen konnte.

Der damals 42-jährige Daum, der in seiner Kölner Zeit als Neuling im Geschäft durch Attacken gegen die übermächtige Bayern-Hierarchie aufgefallen war, heuert mit der Empfehlung von Meistertiteln mit dem VfB Stuttgart und Besiktas Istanbul an, hatte also schon nachgewiesen, wie’s geht. Sein Dienstantritt mit dem Versprechen, das Haberland-Stadion werde „Fußballfeste erleben“, veranlasst Jürgen von Einem, den Sportbeauftragten der Bayer AG, zu einem erleichterten Seufzer: „Endlich, das Ende der Anspruchslosigkeit. . .“.

Daum_1.jpg
Mit Christoph Daum wird nicht nur alles bunter, sondern vor allem erfolgreicher.

Daum löst mit seinen Jungs das Versprechen ein. Die Mannschaft sammelt gleich 15 Heimsiege und hält das Rennen um die Meisterschaft bis zum vorletzten Spieltag offen. In der Endabrechnung liegen die Münchner mit zwei Punkten vor dem rheinischen Herausforderer, gegen den sie am 9. März 1997 an der Dhünn sensationell mit 2:5 verloren hatten. Bayer 04 ist Zweiter. Torgarant Ulf Kirsten trifft 22 Mal ins gegnerische Netz, einmal mehr als Rivale Toni Polster, und wird mit der begehrten „Torjäger-Kanone“ des Fachblatts „Kicker“ ausgezeichnet. Die erste Vizemeisterschaft. Plötzlich ist man wer im Bundesliga-Betrieb. Es ist ein „Jahr der Superlative“, wie Calmund und Fußball-Chef Kurt Vossen übereinstimmend festhalten.

Ulf_Kirsten.jpg
1997 wird Bayer 04 erstmals Vizemeister - und Ulf Kirsten gewinnt zum zweiten Mal die Bundesliga-Torjägerkanone.

Der nächste „Vize-Streich“ folgt in der Spielzeit 1998/99. Wieder heißt es Daum&Co. gegen den FC Bayern. Diesmal sind die Verhältnisse allerdings praktisch seit dem 1. Spieltag eindeutig. Mit der „besten Mannschaft, die der FC Bayern je hatte“ (Franz Beckenbauer) und unter der Regie von Ottmar Hitzfeld setzt sich der „Stern des Südens“ früh an die Spitze, und bleibt dort auch. Zu Ultimo weist die Tabelle 15 Zähler Vorsprung aus – vor Bayer 04, das fortan unter der Firmierung „Bayer 04 Leverkusen Fußball GmbH“ in der schmucken BayArena spielt und einiges vorhat.

Der Verlauf des nächsten Versuchs, beim Sprung an die Spitze die sperrige Vorsilbe „Vize“ abzustreifen und sich endlich als uneingeschränkter Meister feiern zu lassen, ähnelt einem epischen Drama und ist Bayer-04-Sympathisanten unter dem Hashtag „Haching“ nach wie vor lebhaft und ungut im Bewusstsein. Der denkwürdige 20. Mai 2000, das Finale der Millennium-Saison 1999/2000, stürzt unseren Klub und seine Anhänger aus der denkbar größten Euphorie in die tiefste Enttäuschung. Die Bilder der fassungslosen Spieler und Fans gehen um die Welt und graben sich tief in die Erinnerung nicht nur der Bürger dieser Stadt ein.

Mit drei Punkten Vorsprung hatten Mannschaft, Betreuer und Fans die Auswärtsreise zum letzten Saisonspiel angetreten. Das Ziel ist der Sportpark von Unterhaching vor den Toren Münchens. Was sollte da schon passieren?  Die Hausherren hatten als Aufsteiger den Klassenerhalt frühzeitig festgezurrt und würden wohl wenig Ärger machen. Verfolger FC Bayern weist zwar die bessere Tordifferenz gegenüber den Rheinländern auf, liegt allerdings vor dem Spiel im Olympiastadion gegen Bremen mit drei Punkten zurück. Vor allem wissen die Bayer-Leute den Vorteil auf ihrer Seite, das Heft des Handelns in der eigenen Hand zu halten, während der Konkurrent auf Nachbarschaftshilfe angewiesen ist.  Die Sache scheint geritzt. Das Leverkusener Fuß(ball)volk feiert seine Helden – zu früh.

Der Favorit agiert hypernervös und vergeigt seinen Auftritt mit 0:2. Einige Kilometer entfernt gewinnen die Bayern 3:1 gegen Bremen und sind selbst am meisten verdutzt, als sie auf ihren 16. Titel anstoßen dürfen. Die echte Meisterschale befindet sich in Haching und wird nicht gebraucht. Der Meister erhält fürs erste eine Kopie. Bayer 04 ist endgültig „Vizekusen“. Was zählt in diesem Moment der 2. Platz? Die Heimfahrt erfolgt unter Schock.

2000-05-20_Fans_nach_der_Niederlage.jpg
Enttäuscht, fassungslos, traurig: Bayer 04-Fans in Unterhaching nach der verspielten Meisterschaft.

Fußball-Junkie Toppmöller und sein Assistenten-Trio Peter Hermann, Ralf Minge und Toni Schumacher schicken in der Saison 2001/02 eine Auswahl von Individualisten, von Teamplayern und Leadern ins Rennen, die in faszinierenden Vorstellungen Fachleute und Laien ins Staunen und die ewigen Besserwisser zum Schweigen bringen. Von Lucio über Jens Nowotny, von Carsten Ramelow über Zé Roberto, von Michael Ballack über Bernd Schneider, den „weißen Brasilianer“, von Ulf Kirsten über Dimitar Berbatov und die anderen stellen sie vor der mitreißenden Kulisse der BayArena eine Mannschaft mit eigener Identität dar. Diese Jungs wollen nur spielen. Und zwar mit dem Ball, weniger gegen den Ball. Hier ist großer Sport im Angebot.

Topmoeller_050402.jpg
Klaus Toppmöller lässt begnadete Spieler Fußball zelebrieren.

Sekt oder Selters? Die Tage der Entscheidung im Frühjahr 2002 sind unvergessen. Zunächst geht’s um die Schale. Wer wird Deutscher Meister? Wer löst Dauerchampion Bayern ab? Die Dortmunder Borussen, die sich als legitime Nachfolger aufführen, oder der kesse Herausforderer Bayer 04? Westfalen oder Rheinländer? Der Fußball-Westen kocht.

Der 32. Spieltag wird ausschlaggebend. Bayer 04, mit einem Polster von fünf Punkten Vorsprung gegenüber dem BVB ausgestattet, hat es daheim mit Werder Bremen zu tun. Der BVB hat den fast schon abgestiegenen 1. FC Köln zu Gast. Über der BayArena bricht sich die April-Sonne Bahn. „Ein Tag, um Deutscher Meister zu werden“, bemerkt der Berichterstatter der „Süddeutschen Zeitung“. Von wegen. Die Hausherren tun sich schwer und geraten durch einen Sonntagsschuss von Lisztes ins Hintertreffen. Zé Roberto gelingt der Ausgleichstreffer, dann verschießt Tormann Hansjörg Butt einen Strafstoß.

 

crop_2002-05-11_Bayer_04.jpg
Was für ein Team! Dreimal wird Bayer 04 im Jahr 2002 „Vize". Hier die Startelf vor dem Pokalfinale in Berlin.
Bremen war der Knackpunkt für die Mannschaft

Jetzt beginnen denkwürdige fünf Minuten. Auf den elektronischen Anzeigetafeln erscheint der Hinweis, dass der 1. FC Köln in Dortmund den Ausgleich erzielt hat. Bei diesem Stand braucht die Bayer-Elf ein Tor, um auf sieben Punkte davonzuziehen und vorzeitig ihren ersten Meistertitel zu buchen. Doch es kommt anders. Das große Ziel derart dicht vor Augen stürmt die Mannschaft mit Mann und Maus bedingungslos nach vorne, obwohl die Uhr noch eine halbe Stunde Restzeit anzeigt. Am Ende des Fünf-Minuten-Korridors schließt Ailton einen Werder-Konter zum 1:2 ab, während die Schwarz-Gelben dank eines höchst umstrittenen Elfmeters jubeln. Das Punkte-Guthaben ist auf zwei geschrumpft. Dortmund gewinnt die beiden restlichen Partien (in Hamburg und gegen Bremen), während Bayer 04 auch die nächste Dienstreise (in Nürnberg 0:1) vergeigt. Die Überbelastung der vergangenen Wochen mit den Dauertänzen auf drei Hochzeiten fordert ihren Tribut. Das 2:1 zum Schluss gegen Hertha ist ein bitterer Sieg. Nicht mal ein schwacher Trost. Wieder Zweiter. Wieder das vermaledeite „Vizekusen“.

„Bremen war der Knackpunkt für die Mannschaft“, sagt Reiner Calmund in der Rückschau, „diese Einblendung hätte nicht kommen dürfen, und das Team hätte sich cleverer verhalten müssen.“     

Auch der zweite Streich misslingt. Der schöne Traum, nach 1993 zum zweiten Mal den DFB-Pokal in den Trophäen-Schrank in der BayArena zu holen, platzt durch ein 2:4 im Berliner Olympiastadion gegen Schalke 04. Die so nicht erwartete Finalniederlage schockt den massigen Manager. Unter Tränen versucht er es mit einem Rat für die mit ihm leidende Bayer-Fangemeinde: „Geht euch einen ballern! Ich werde das heute auch tun.“

Es schmerzt bis in die letzten Fasern, aber noch gibt‘s ja was zu gewinnen. Der Preis ist heiß. Es handelt sich um den sagenumwobenen „Henkelpott mit den Ohren“, die wertvollste Trophäe für die beste Fußball-Mannschaft Europas. Also auf nach Glasgow. „Fiiinale!“ Gut und gerne 10.000 Schlachtenbummler aus der Farbenstadt und Umgebung machen sich auf den Weg in die schottische Metropole. Im legendären Hampden-Park wollen sie am 15. Mai 2002 ein Match für die Ewigkeit erleben und dabei sein, wenn durch einen Sieg gegen das große Real, gegen „das weiße Ballett“ auch die Schmach von Haching endlich getilgt wird.              

Wie ist es ausgegangen? Na, wie schon! Die Jungs aus dem deutschen Rheinland spielen beherzt und frisch von der Leber weg. Vor den Augen einer weltweiten, begeisterten  Fußball-Community gestalten sie das Fußball-Fest gegen den Favoriten nicht nur ausgeglichen, sondern phasenweise sogar überlegen und – sie verlieren. Raul erzielt ein Kullertor, Lucio gleicht aus, und Zinedine Zidane markiert das 2:1 für Real durch eine Art Lars-Ricken-Tor, einen jener Treffer, die den Schützen auf der Stelle unsterblich machen.

Abpfiff! Aus! Das darf doch nicht wahr sein. Wieder Konfetti und Komplimente, wieder Fleißkärtchen und Bestnoten in Hülle und Fülle für den Verlierer. Aber wieder auch nix für den Briefkopf. Manch einer fragt sich angesichts des rauschhaften Triumphzugs über die Fußballfelder Europas, ob nicht in diesem Fall der Weg das Ziel war. Wer sich so zu trösten sucht, weiß freilich auch, dass er einer schönen Illusion aufsitzt.

2002-05-15_028_vli_Thomas_Kleine_Anel_Dzaka_Jurica_Vranjes_Marko_Babic_Yildiray_Bastuerk_Diego_Placente.jpg
Wieder Komplimente, aber auch wieder kein Titel: Für Placente, Bastürk, Ballack und Co. bleibt nach der Final-Niederlage gegen Real nur die Silbermedaille.
Wo soll ich mit dem ganzen Silberkrempel denn hin...?

Meinolf Sprink, der damalige Bayer-Sportbeauftragte, zieht beim Blick zurück ein, so gesehen, positives Fazit: „Die Leute hatten mit Bayer 04 ihren Frieden geschlossen“ (Zitat Interview „11 Freunde“).

Ähnliches darf wohl auch für die unmittelbar beteiligten Protagonisten gelten. Trainer Klaus Toppmöller sieht’s längst eher von der praktischen Seite: „Ich konnte die Kritiker nicht verstehen, die uns als Loser abgestempelt haben. Ich bin keiner, der unbedingt einen Titel will, ich finde das lächerlich. Wo soll ich mit dem ganzen Silberkrempel denn hin . . .?“ Und Ballkünstler „Schnix“ Schneider kommentierte seinen dritten Rang bei der Wahl zum „Fußballer des Jahres 2007“ mit feiner Ironie: „Hauptsache nicht wieder Zweiter . . .“.

Heynckes_20090831_0298.jpg
Ein perfektes Gespann: Jupp Heynckes und Peter Hermann führten die Werkself 2011 zur fünften und bislang letzten Vizemeisterschaft.

Eine weitere Erfahrung mit dem Phänomen Vize konnte Bayer 04 dann noch am Ende der Saison 2010/2011 sammeln. Freilich, die Umstände waren im Vergleich zum letzten Mal doch ziemlich unterschiedlich. Die vom Erfolgstrainer Jupp Heynckes betreute Werkself hatte nicht die Klasse des Vorgängerteams. Zwar hatte sich Michael Ballack nach acht Jahren ablösefrei in der BayArena zurückgemeldet, doch der „Capitano“ litt lange unter den Folgen einer schweren Verletzung. So wurde er letztendlich im Bayer-Dress zum dritten Mal Vizemeister. Bayer 04 hatte 68 Punkte auf dem Tabellenkonto, sieben hinter Dortmund und drei vor den Bayern. Platz 2. Wieder mal. Zum fünften Mal.

Die Sehnsucht nach dem Stern ist ungebrochen. Die Jagd geht weiter. Aber dieser Weg wird kein leichter sein. Wo wüsste man das besser als in Leverkusen?