WM-Play-offs gegen die Ukraine 2001 – Völler: „Ich hätte auswandern müssen“

Größer könnte der Kontrast nicht sein: Wenn die deutsche Nationalmannschaft am Sonntagabend, 14. November (Anstoß: 18 Uhr), ihr letztes WM-Qualifikationsspiel in Armenien bestreitet, ist sie schon längst für das Turnier in Katar im Winter 2022 qualifiziert. Auf den Tag genau vor 20 Jahren lagen die Dinge ganz anders. Die DFB-Auswahl unter Teamchef Rudi Völler trat am 14. November 2001 in der WM-Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2002 in Japan/Südkorea zum entscheidenden Play-off-Spiel gegen die Ukraine an.
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Beim Hinspiel in Kiew hatte die deutsche Elf vier Tage zuvor ein 1:1 erreicht. Im Interview mit bayer04.de erinnert sich Rudi Völler an die schwierigsten Tage seiner Karriere. Der Bayer 04-Geschäftsführer Sport spricht unter anderem über die angespannte Situation vor den beiden Play-off-Partien, Konsequenzen im Falle eines Scheiterns und über den erlösenden 4:1-Sieg in Dortmund, bei dem fünf Bayer 04-Profis Hauptrollen spielten.

Rudi, wie war Ihre Gemütslage in den Tagen vor den beiden WM-Relegationsspielen gegen die Ukraine am 10. und 14. November 2001?

Völler: Wir hatten genügend Zeit, uns gut vorzubereiten auf die beiden Partien. Michael Skibbe, Erich Rutemöller und ich haben uns damals alles über die ukrainische Nationalmannschaft auf Videokassetten zusammenschneiden lassen. Mir war schon bewusst, dass das die größte Herausforderung in meinem Fußballerleben bis zu dem Zeitpunkt war. Und auch die größte Drucksituation, die ich jemals hatte. So etwas habe ich weder beim ersten Spiel als Teamchef noch später bei der WM in Japan/Südkorea oder bei der EM in Portugal jemals wieder erlebt. Die Konstellation damals war so, dass es tatsächlich auch Deutschland mal erwischen konnte, nicht zu einer WM zu fahren. Was natürlich undenkbar war in diesem Fußball-Land. Niemand konnte sich so etwas vorstellen.

Es qualifizierten sich nur die Gruppenersten direkt für die WM und Deutschland bekam es in seiner Gruppe mit starken Engländern zu tun.

Völler: Ja, und dass es eine der großen Mannschaften, wir oder die Engländer, eben nicht schaffen würde, sich direkt für die WM zu qualifizieren, war klar. Zweiter in dieser Gruppe zu werden, wäre keine Schande gewesen. Aber es gegen die Ukraine in den Play-offs nicht zu schaffen, das hätte man in Deutschland als große Blamage, als Katastrophe empfunden.

Schon die öffentliche Kritik nach dem 0:0 gegen Finnland am letzten Gruppenspieltag war groß.

Völler: Was viele immer vergessen: Ja, wir haben natürlich schlecht gespielt gegen Finnland, keine Frage, aber das 0:0 hätte sogar gereicht, wenn die Engländer im Parallelspiel zu Hause gegen Griechenland nicht in allerletzter Sekunde noch das 2:2 gemacht hätten. Unser Spiel war bereits beendet, da lag England noch 1:2 zurück. Und dann haut David Beckham in der Nachspielzeit noch einen Freistoß zum Ausgleich in den Winkel. Wir wären sonst Gruppenerster geworden. So wie ich es mir natürlich auch gewünscht hätte. Aber vielleicht war das Abenteuer danach mit den beiden Relegationsspielen gegen die Ukraine auch gar nicht so verkehrt. Klar, das sage ich jetzt im Nachhinein mit dem Wissen, dass es gutgegangen ist. Wir haben durch das 4:1 in Dortmund die Zuschauer wieder auf unsere Seite geholt. Auch für die Entwicklung bis zur WM 2002 brauchten wir diesen Zusammenhalt, diesen Teamgeist, der sich in den Play-off-Spielen entwickelt hat. Denn wir zählten ja nicht zu den Top-Mannschaften. Da gab es schon andere, die besser waren.

Auch die Ukraine hatte ein hochkarätig besetztes Team. Wie haben Sie den Gegner eingeschätzt?

Völler: Die Ukraine hatte wirklich zum ersten Mal überhaupt eine richtig gute Nationalmannschaft. Da gab’s eben nicht nur Andrej Shevchenko, die hatten noch andere Top-Stürmer wie Serhiy Rebrov und ein Top-Mittelfeld um Anatoly Tymoshchuk. Es war klar, dass es schwierig werden würde für uns.

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Haben Sie in den Trainingseinheiten vor den beiden Spielen irgendetwas verändert, mussten Sie neue Reize setzen?

Völler: Nein, die Spieler haben begriffen, worum es hier ging. Jeder wollte zur WM, den Anspruch hatten alle. Jeder war absolut fokussiert. Wir brauchten da nichts Besonderes im Training machen. Und am Tag X waren dann ja auch alle auf den Punkt fit, physisch und mental. 

Waren es für Sie die schwierigsten Tage in Ihrer Zeit als Teamchef der deutschen Nationalmannschaft?

Völler: Wenn du für die Nationalmannschaft verantwortlich bist und du kannst dich nicht für eine WM qualifizieren, was für Deutschland ja immer selbstverständlich war, dann ist das der Super-GAU. Wobei wir es ja nicht zum ersten Mal so spannend gemacht haben. Wenn ich mich an unser letztes Qualifikationsspiel für die WM 1990 in Italien erinnere: Wir führten gegen Wales 2:1 und mussten dieses Spiel unbedingt gewinnen, in der 88. Minute köpfte Mark Hughes aus fünf Metern den Ball übers Tor, normalerweise machte der solche Dinger im Schlaf rein. Hätte er zum 2:2 getroffen, wären wir nicht zur WM gefahren, wären nicht Weltmeister geworden. So eng liegt das manchmal beieinander.

Hatten Sie sich im Vorfeld Gedanken über persönliche Konsequenzen gemacht? Wären Sie im Falle eines Scheiterns zurückgetreten?

Völler: (lacht) Ich habe damals zu meinem Co-Trainer Michael Skibbe gesagt: ‚Wenn wir es nicht schaffen, wandere ich nach Australien aus, nach Melbourne oder Sydney. Vielleicht kriegst du ja noch mal eine Chance, aber mein Name ist dann verbrannt‘. Keine Chance – ich hätte auswandern müssen. Aber Spaß beiseite: Ich wäre der erste verantwortliche Teamchef oder Trainer einer deutschen Nationalmannschaft gewesen, der sich nicht für eine WM qualifiziert hätte. Ich hatte deshalb keine Albträume und bin nicht regelmäßig schweißgebadet aufgewacht damals. Aber hin und wieder, wie auch jetzt bei diesem Gespräch, wird mir schon bewusst, was das für ein ungeheurer Druck war. Und wenn ich dann noch an die ersten 20 Minuten in Kiew denke, da war es ganz extrem. Im Olympiastadion war der Teufel los. Es kamen fast 85.000 Zuschauer zum Spiel. Und die Ukraine fing ja an wie die Feuerwehr, führte nach 18 Minuten schon 1:0. Wir kamen kaum über die Mittellinie und hatten Glück, dass wir nicht schon höher in Rückstand lagen.

Aber dann raufte sich Ihre Mannschaft zusammen.

Völler: Ja, und es hat sich hier gezeigt, was ich danach in meinen vier Jahren als Teamchef immer wieder bestätigt sah: Meine Säulen im Team waren Oliver Kahn als Torwart und vor allem Michael Ballack. Michael hatte in beiden Spielen die entscheidenden Tore gemacht. In der Ukraine den 1:1-Ausgleich, mit dem er das Stadion zum Schweigen brachte. Danach wurden wir stärker und hatten die Ukraine in der zweiten Halbzeit im Griff. Im Rückspiel machte Ballack das 1:0 für uns nach vier Minuten. Manchmal frage ich mich, wie es gegen die Ukraine hätte ausgehen können, wenn Ballack nicht dabei gewesen wäre. Und genauso denke ich manchmal, dass wir 2002 im Finale beim 0:2 gegen Brasilien eine gute Chance gehabt hätten, wenn Ballack nicht gelb-gesperrt gewesen wäre.

Lassen Sie uns über das 4:1 in Dortmund reden. Wie war die Stimmung im Team vor dem Spiel?

Völler: Wir sind gleich nach dem Hinspiel von Kiew aus nach Dortmund geflogen. Die Stimmung nach dem 1:1 war gut, wir hatten eine gute Ausgangsposition, aber natürlich war es damit noch nicht gelaufen. Wir waren auch vor dem Rückspiel angespannt, aber positiv angespannt. Weil wir wussten: Wir hatten der Ukraine nach dem 1:1 gezeigt, dass wir besser sind.

Wie sah der Matchplan aus? Was haben Sie der Mannschaft in der Kabine gesagt?

Völler: Wir wollten genau da weitermachen, wo wir in der Ukraine aufgehört hatten. Wollten von Beginn an viel Druck aufbauen. Wir hatten uns bewusst für Dortmund als Spielort entschieden, weil wir wussten, dass das Stadion hier kochen würde. Die Fans würden wie eine Wand hinter uns stehen. Trotzdem wollten wir sie natürlich auch sofort durch guten Fußball auf unsere Seite ziehen. Ich habe den Spielern auch gesagt, dass sie hier keine Angst vor Fehlern haben müssen, weil ihnen in diesem Spiel, in dem es ums große Ganze geht, alles verziehen wird. Wir haben schon im Vorfeld gespürt, dass ganz Deutschland uns die Daumen drückt. Und ich hatte im Stadion von Anfang an das Gefühl: Heute brennt hier nichts an, die rennen wir nieder. Man hat es der Ukraine in den ersten Minuten auch angemerkt, dass sie selbst nicht mehr so richtig an sich glaubten. Gut, nach 15 Minuten war das Ding dann ja auch entschieden. Wir lagen 3:0 in Führung. Der Druck war ein bisschen weg, ich konnte mich zurücklehnen. Mir ist aber auch in diesem Moment noch einmal klar geworden, was dieses Spiel für eine enorme Bedeutung hatte.

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Michael Ballack machte das 1:0 auf Vorarbeit von Bernd Schneider, Oliver Neuville legte zum 2:0 nach und bereitete das 3:0 durch Marko Rehmer mit einem Eckball vor. Den vierten Treffer erzielte wieder Ballack. Das Bayer 04-Quintett in der Startformation vervollständigten Calle Ramelow und Jens Nowotny. Die Leverkusener Nationalspieler erhielten Bestnoten und hatten einen riesen Anteil an der WM-Qualifikation. 

Völler: Bernd Schneider war an diesem Abend neben dem Doppel-Torschützen Michael Ballack der beste Mann auf dem Platz. Schnix spielte den Ukrainern Knoten in die Beine. Er hat gefühlt 25 Flanken von rechts geschlagen. Wenn er den dritten Ukrainer umdribbelt hatte, wusste er, dass in der Mitte schon irgendwo Michael Ballack stehen würde, den ja neben aller fußballerischen Eleganz auch seine unglaubliche Kopfballstärke auszeichnete. Olli Neuville erzielte nicht nur ein Tor, sondern machte auch ein super Spiel. Genau wie Carsten Ramelow. Und wenn ich dann immer höre, Leverkusener könnten nicht mit Druck umgehen, ärgert mich das schon sehr. Weil es nämlich einfach nicht stimmt. Nur noch ein Beispiel dazu. Bayer 04 ist in der Bundesliga der Verein, der am häufigsten in die Qualifikation für die Champions League musste, viermal insgesamt. Wenn du dich in solchen Spielen nicht durchsetzen kannst, ist das eine unglaubliche Enttäuschung. Aber Bayer 04 hat sich immer qualifiziert. Jedes Mal.

Dr. Manfred Schneider, der damalige Vorstandsvorsitzende der Bayer AG, sagte nach dem 4:1 gegen die Ukraine: „Es erfüllt mich mit Stolz und Genugtuung, dass ausgerechnet die in der Vergangenheit so oft gescholtenen Spieler von Bayer 04 unter Druck in der Lage waren, dem deutschen Fußball in dieser misslichen Situation weiterzuhelfen.“ Wie groß war Ihre Genugtuung?

Völler: So etwas wie Genugtuung habe ich erst später bei der WM in Japan und Südkorea empfunden, als wir überraschend Vize-Weltmeister wurden. Nach dem 4:1 gegen die Ukraine fühlte ich einfach eine große Erleichterung. Denn wir hatten gegen einen richtig guten Gegner gewonnen. Und das mit Ausnahme der ersten 20 Minuten in Kiew auf diese überzeugende Art und Weise – das war schon stark.

Haben Sie und Ihr Team die Qualifikation für die WM noch in Dortmund ein bisschen gefeiert?

Völler: Nein, die Partie fand ja an einem Mittwochabend statt und am Wochenende mussten die Spieler wieder in der Bundesliga ran. Ich habe mit Michael Skibbe und Torwarttrainer Sepp Maier noch ein, zwei Bier in der Kabine getrunken, aber danach ging es ab nach Hause.

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