Ehe das neue Werkself-Magazin dieser Tage an die Mitglieder von Bayer 04 geht, gibt es vorab schon jetzt exklusiv auf bayer04.de das große Interview mit Florian Wirtz zu lesen. Die Nummer 10 der Werkself ist am Ball ein Künstler, manchen gilt er als Genie. Was also liegt näher, als den 21-Jährigen dort für das Werkself-Magazin zu interviewen und abzulichten, wo die Leverkusener Kunst stets greifbar ist: im Schloss Morsbroich, genauer im imposanten Spiegelsaal. Florian Wirtz posierte geduldig – und sprach anschließend über Saisonziele, Lerneffekte, kindliche Prägungen und spontane Finten.
Florian, vor dreieinhalb Jahren haben wir zuletzt ein Interview für das Werkself-Magazin geführt. Du warst gerade 18 Jahre alt geworden und hast noch die Kette mit deiner damaligen Rückennummer 27 um den Hals getragen. „Ich träume groß“, lautet die Zeile. Inwieweit hat sich das erfüllt und inwieweit erkennst du, wie du dich entwickelt hast?
Wirtz: Ich war wirklich noch ein jüngerer Kerl. (lacht) Aber die großen Träume hatte ich tatsächlich schon als Kind. Ich bin definitiv zufrieden mit dem, was ich in der Zwischenzeit geschafft habe. Die Titel in der vergangenen Saison waren etwas ganz Besonderes – für den Verein, aber natürlich auch für mich persönlich, für die Familie, die Freunde, alle drumherum, die mitgefiebert haben. Gerade der Gewinn der Meisterschaft war ein persönliches Ziel von mir. Aber ich bin bereit, weiter zu träumen und weitere, noch größere Ziele zu erreichen.
Gibt es denn ein, zwei spezielle Momente für dich in der Titelsaison?
Wirtz: Ich muss ehrlich sagen: Ich vergesse schnell. Deshalb ist die vergangene Saison auch gar nicht mehr so sehr präsent in meinem Kopf. Aber die Partie gegen Bremen, in der wir die Meisterschaft klargemacht haben, wo alle Fans auf den Platz gekommen sind und in der ich auch noch drei Tore geschossen habe, war natürlich speziell. Das wird für mich immer so ein prägender Moment sein, den ich immer in meinem Herzen behalten werde.
Die Szene, wie du die Fans mit deiner Gestik zurückhältst nach deinem zweiten Treffer zum 4:0, ist längst ikonisch, wurde zuletzt auch zum „Sportfoto des Jahres“ gewählt.
Wirtz: Das Bild sehe ich tatsächlich an vielen Orten, es hängt auch bei uns im Kabinentrakt. Das ist schon ein cooles Foto. Wir Spieler wussten, dass wir die Einzigen sind, die vielleicht die Fans noch ein bisschen zurückhalten können. Ich glaube, das hätte sonst keiner, kein Ordner oder Polizist, bewirken können. Ich wollte ja zum Jubeln auch erst zu den Fans laufen, aber habe sofort gemerkt, dass sie ein bisschen unruhig geworden waren. (lacht)
Das ist eine nette Untertreibung.
Wirtz: Man muss die Fans ja schon verstehen, denn sie haben so lange darauf gewartet. Ich finde, sie haben sich dann gut zusammengerissen bis zum Schluss, und der Schiedsrichter hat das am Ende dann letztlich auch gut gelöst. Ein großartiger Moment.
Nach Meisterschaft und DFB-Pokal folgte im Anschluss die Fußball-EM in Deutschland. Hast du überhaupt mal Zeit gefunden, das Geschehene sacken zu lassen, zu reflektieren, was da passiert ist?
Wirtz: Tatsächlich fehlt das. Ich habe es auf jeden Fall nicht bewusst gemacht, irgendwie ging alles immer ineinander über. Ich habe mich nie wirklich hingesetzt und noch mal alles durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht werde ich das in einer ruhigeren Phase nachholen oder auch nach meiner Karriere. Ich bin grundsätzlich jemand, der sich immer stark auf den Moment konzentriert, bin mit meinem Kopf bei den aktuellen Dingen. Wenn wir uns die ganze Zeit nur mit der letzten Saison beschäftigen, kommen wir nicht weiter. Wir wollen ja weiterhin erfolgreich sein und haben in dieser Saison auch große Ziele.
Ihr habt euch am Anfang der Saison ein bisschen schwergetan. Wie hast du das empfunden?
Wirtz: Es ist nicht ganz so gelaufen, wie wir wollten oder wie wir es auch gewohnt waren. Das mussten wir uns erst wieder erarbeiten und hatten dann natürlich ein paar Spiele, in denen wir einige Punkte unnötig liegen gelassen haben. Wir haben uns dann noch mal bewusst gemacht, dass wir jedes Spiel bis zum Schluss alles geben müssen, um es zu gewinnen. Dieses Selbstverständnis, Spiele zu gewinnen, war ja auch ein Grund, der uns in der vergangenen Saison so erfolgreich gemacht hat. Uns war vor dem Anpfiff bewusst, wir gewinnen dieses Spiel, egal was passiert, egal, ob wir bis zur 90. Minute hinten liegen oder es unentschieden steht. Dieses Bewusstsein hat auf jeden Fall sehr viel ausgemacht. Zuletzt hatten wir ja einen sehr guten Lauf. Viele Siege hintereinander, extrem gut gepunktet. Wir wissen, es sind noch genug Spiele und wir versuchen, weiterhin so viele wie möglich zu gewinnen. Und dann schauen wir, was rauskommt.
Du hast mehr als vier Jahre auf dein erstes Champions-League-Spiel mit Bayer 04 warten müssen. War die Premiere in Rotterdam dann entsprechend emotional?
Wirtz: Die Europa-League-Spiele haben bei mir auch schon sehr viel ausgelöst, vor allem die K.-o.-Spiele. Aber die Champions League ist noch mal anders, das spürt man. Ich habe mich schon Wochen im Voraus darauf gefreut, dass ich endlich in diesem Wettbewerb spielen kann. Als dann die Hymne erklang, habe ich mich ein bisschen im Stadion umgeschaut, weil ich meine Eltern finden wollte. Ich habe es einfach nur genossen in dem Moment und mir keine großen Gedanken über das Spiel gemacht, sondern hatte Lust, dass es losgeht. Und, ja, ist dann auch gut losgegangen. (lacht)
Nach fünf Minuten hattest du deinen ersten Treffer erzielt. Insgesamt sechs Tore in den acht Spielen der Ligaphase, fünfmal „Man of the Match“: Die Champions League scheint die passende Bühne für dich zu sein.
Wirtz: Ich habe versucht, auf der höchsten Ebene zu zeigen, was ich kann. Es macht unglaublich Spaß, gegen Mannschaften zu spielen, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt. Die Champions League hat noch mal einen besonderen Reiz, allein durch die Anstoßzeit, Abendspiele unter der Woche, das Flutlicht, die berühmte Hymne – das ist speziell. Ich merke schon einen Tag vor dem Spiel, dass ich es kaum erwarten kann.
Was traust du eurem Team in der Königsklasse zu?
Wirtz: Wir haben uns nun direkt für das Achtelfinale qualifiziert. Das war als Ziel schon in meinem Kopf, bevor es losging. Ich wusste, dass wir dafür die Qualität haben. Wir fühlen uns auf jeden Fall bereit und in der Lage, jeden Gegner zu schlagen. Natürlich kommt es auch immer auf die eigene Tagesform an – und die des Gegners. Also ich denke nicht, dass wir auf jeden Fall die Champions League gewinnen. (lacht) Aber wir werden alles dafür geben, weit zu kommen. Wir haben zum Beispiel im zurückliegenden Jahr an Borussia Dortmund gesehen, dass es auch für einen Außenseiter möglich ist, ins Finale zu kommen.
Du gehst auch auf dem Rasen selbstbewusst voran. Inwieweit würdest du dich, trotz deines jungen Alters, selbst als Führungsspieler sehen? Wie siehst du deine Rolle in der Mannschaft, vor allem in wichtigen Spielen?
Wirtz: Ich versuche auf jeden Fall voranzugehen, jemand zu sein, auf den sich die Mannschaft verlassen kann. Die anderen sollen sehen, dass ich gut drauf bin, sie sich auf mich verlassen können, auch wenn es bei ihnen selbst vielleicht mal nicht so gut läuft. Die Spieler, insbesondere die Jüngeren im Team, sollen sich an mir hochziehen und sich im Zweifel etwas abgucken können. Natürlich versuche ich, mit meiner fußballerischen Qualität voranzugehen, meinen Job zu erledigen und es den Mitspielern einfacher zu machen, indem ich sie gut anspiele oder mich gut freilaufe und ihnen so auf dem Platz helfe.
Dir selbst wird es nicht leicht gemacht. Man hatte zuletzt ein bisschen das Gefühl, dass die Gegner versuchen, dich mit Scharmützeln vom Weg abzubringen, siehe Atlético oder Leipzig.
Wirtz: Ich bin das schon gewohnt – auch, dass ich immer einen Spieler auf die Füße gestellt bekomme. Mir macht das eigentlich nicht viel aus. Ich denke, dass ich aus dem Madrid-Spiel auch was lernen konnte, dass ich mich nicht so viel in Labereien verwickeln lasse. Denn generell bin ich jemand, der das gar nicht an sich ranlässt. Dann können sie mir so viel erzählen, wie sie wollen.
So wie Atlético-Profi Rodrigo de Paul, mit dem du in Madrid öfter aneinandergeraten bist. Wie habt ihr euch ausgetauscht?
Wirtz: Er auf Spanisch, ich auf Englisch. Also keiner hat keinen verstanden. (lacht) Ich wollte mir halt nicht alles gefallen lassen. Aber ich glaube, dass ich schon in der zweiten Halbzeit in Madrid aus der ersten Halbzeit gelernt habe. Ich muss mich einfach nur auf meine Dinge konzentrieren.
Als Beobachter sieht dein Spiel immer unglaublich leichtfüßig aus. So, als wäre dir der Druck, der mit dem Spiel einhergeht, nicht bewusst. Du wirkst dann wie der Junge vom Bolzplatz, der einfach zocken will.
Wirtz: Ich höre ziemlich oft, dass es so locker aussieht. Dabei bin ich schon extrem fokussiert, mental sehr beim Spiel und im Tunnel, konzentriere mich auf meine Stärken. Aber mich freut es natürlich auch, wenn es von außen locker und lässig aussieht, wenn ich höre, dass viele Leute wirklich unsere Spiele gucken, weil sie meine Spielweise mögen. Das motiviert mich, auf diese Art weiter zu machen.
Hattest du als Kind selbst ein Vorbild?
Wirtz: Ich gucke selbst immer noch viel Fußball, freue mich dann, wenn da Spieler spielen, für die es sich allein lohnt, einzuschalten, weil sie Sachen machen, die nicht viele kennen und können. Früher war es immer Lionel Messi, mittlerweile schaue ich einfach, bei wem ich mir etwas abgucken kann.
Weißt du eigentlich selbst in den Duellen immer, was du als nächste Finte auspackst – oder geschieht es rein intuitiv?
Wirtz: Meistens ist es sehr spontan, was ich mache, weil es mir in der Situation als beste Lösung erscheint. Mein Treffer gegen Freiburg („Tor des Jahres“ 2023; Anm. d. Red.) etwa ist dafür das perfekte Beispiel. Da habe ich einfach immer das gemacht, was gerade in der Situation noch ging und was ich am schlauesten fand. (lacht) Aber manchmal, wie zuletzt gegen RB Leipzig, ahne oder weiß ich schon vorher, was die Gegner machen werden und dann ist es umso einfacher, meine eigenen Finten zu machen, weil ich vorhersehen konnte, wie sich die Gegenspieler bewegen werden, wann wer grätscht. Es ist sicher eine meiner Stärken, dass ich manchmal vorher weiß, was passiert – und mich dann darauf konzentrieren kann, wie meine Lösung dafür ist, dass ich sozusagen die Situation antizipiere und mir dadurch einen Vorteil verschaffe.
Dieses Antizipieren ist eine große Stärke. Ausbaufähig dagegen, so hast du es selbst 2021 im besagten Interview gesagt, sei der letzte Pass. Inzwischen bist du bester Vorlagengeber der Liga.
Wirtz: Ja, das ist sicher eines der entscheidendsten Dinge, die ich in den letzten Jahren verbessert habe. Das gelingt aber auch nur durch Spielen auf hohem, auf höchstem Niveau – weil man da am meisten lernt. Ich merke mir zum Beispiel, was die Gegner in welcher Situation am häufigsten machen, ob ich mal den Pass durch die Beine spielen kann, weil der Gegenspieler einen langen Schritt macht. Das sind Dinge, die mit der Zeit, mit der Erfahrung kommen. Ich habe gelernt, darauf zu achten, was die anderen machen, um dann die beste Entscheidung zu treffen. Du musst immer lernfähig sein, wenn du ein besserer Spieler werden willst.
Das ist dein Ziel. Wir zitieren an dieser Stelle Lothar Matthäus, der gesagt hat, du seist „ein Zauberer. Ein Künstler.“ Die L'Équipe aus Frankreich hat geschrieben: „Er ist eine Nummer 10 wie keine andere.“ Was lösen diese Lobeshymnen bei dir aus?
Wirtz: Ich freue mich natürlich über solche Komplimente, habe das bis jetzt aber auch noch nicht mitbekommen. Daran sieht man vielleicht, dass ich mich nicht so viel damit beschäftige. Natürlich ist es schön, gerade von Ex-Spielern, die es einschätzen können. Ich mache mir daraus trotzdem nicht viel, weil ich weiß, dass es auch schlechtere Zeiten geben wird. Im Fußball kann es schnell hoch und genauso schnell wieder runtergehen. Deshalb konzentriere ich mich nicht darauf, was andere sagen, sondern darauf, für mich selbst besser zu werden. Über mich reden können andere.
Du giltst als Künstler am Ball, aber zugleich bist du, mit gewaltigem Abstand sogar, der erfolgreichste Zweikämpfer der ganzen Bundesliga. Auch bei den Laufwerten bist du weit vorn. Wie passt das zusammen?
Wirtz: Ich wollte schon als Kind immer und überall auf dem Feld sein. (lacht) Ich glaube, eine meiner größeren Qualitäten ist, dass ich viel laufen kann, auch in schnellem Tempo. Ich habe einfach die körperliche Voraussetzung, in viele Zweikämpfe zu kommen. Ich gebe in jedem Spiel alles, damit wir gewinnen. Dafür suche ich auch die Zweikämpfe oder laufe mit nach hinten, weil ich weiß, dass das dazugehört, um als Mannschaft erfolgreich zu sein. Ich habe Lust dazu, alles zu geben und so viel zu laufen, bis es nicht mehr geht.
Da kommt der leidenschaftliche Fußballer durch, der du offenbar schon als Kind warst. Guckst du dir noch ab und an Spiele in Brauweiler an?
Wirtz: Ja, wann immer ich die Zeit finde. Mein Vater ist dort noch im Verein aktiv, meine Freunde spielen ja auch in der Herren-Mannschaft, allerdings nicht in der Ersten. Ich sage besser nicht, in welcher Mannschaft sie spielen. (lacht) Sie haben einfach Spaß daran, Fußball zu spielen, ohne größere Ambitionen. Und nach deren Spiel kicken wir noch ein bisschen auf dem Platz. Ich habe ja auch immer Bock. (lacht)
Du hast immer noch dein gewohntes Umfeld, deine Eltern sind bei nahezu allen Spielen vor Ort. Welchen Anteil hat auch der Klub Bayer 04 an deiner Entwicklung?
Wirtz: Ich bin extrem dankbar, dass ich die Chance bekommen habe, bei den Profis anzufangen. Ich habe sehr viel Vertrauen gespürt, hatte von Anfang an sehr gute Mitspieler, gute Trainer und konnte mich hier in Ruhe entwickeln. Ich konnte ein besserer Spieler werden, Jahr für Jahr. Auch in der Zeit meines Kreuzbandrisses habe ich sehr viel Unterstützung erfahren und in der „Werkstatt“ von Bayer 04 beste Bedingungen gehabt. Unsere Mannschaft wurde jedes Jahr verbessert, nun haben wir ein sehr gutes Team beisammen. Ich kann auf jeden Fall froh sein, dass ich in so einem guten Verein und in so einer guten Mannschaft spielen kann und trotzdem immer noch mein ganzes Umfeld um mich herum habe.
Da stellt sich natürlich die obligatorische Frage, ob du dir vorstellen kannst, deinen bis 2027 laufenden Vertrag bei Bayer 04 sogar vorzeitig zu verlängern?
Wirtz: Man wird irgendwann etwas lesen und dann weiß man Bescheid. (lacht) Also, ich spiele gerade Fußball und mehr ist bei mir deswegen überhaupt nicht los in dieser Sache.
„Ich träume groß“ stand über dem Interview im Frühjahr 2021, als es um deine Ziele ging. Welche Überschrift würdest du dir dann, auf Bayer 04 gemünzt, für dieses Interview wünschen?
Wirtz: Wir sind natürlich auf den Geschmack gekommen durch die vergangene Saison. Aber auch da haben wir uns mit Ankündigungen zurückgehalten. Ich bin ohnehin kein großer Freund davon. Aber wir werden in jedem Wettbewerb, egal ob Meisterschaft, Pokal oder Champions League, versuchen, das Maximale rauszuholen, aus der ersten Saisonhälfte unsere Schlüsse zu ziehen und als Mannschaft wieder zu wachsen. Dann schauen wir am Ende, wofür es reicht. Aber ja, die Überschrift wäre: „Wir haben auf jeden Fall Lust auf mehr.“
Auf bayer04.de gibt es übrigens alle bisherigen Werkself-Magazine seit Ausgabe 1 aus der Saison 2015/16.
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