„Nein“, sagt Gerd Kentschke, „wir haben uns nicht anders auf diese Spiele vorbereitet, als wir das vor normalen Bundesligapartien auch taten“. Kein Trainingslager also, keine besonderen Motivationshilfen von Seiten des Vereins wie etwa 1996, als Bayer 04-Mitarbeiter kurz vor dem Abstiegsendspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern einen flammenden Appell an die Mannschaft gerichtet hatten. Business as usual also? Nein, keineswegs. Man war sich unterm Bayer-Kreuz der immensen Bedeutung der Relegationsspiele Anfang Juni 1982 gegen Kickers Offenbach durchaus bewusst. Mit einer Veränderung hoffte Bayer 04, der Mannschaft einen vielleicht entscheidenden Impuls geben zu können. Der zur neuen Saison von Bayer 04 verpflichtete Star-Trainer Dettmar Cramer trat die Reise zum Bieberer Berg bereits mit an. „Er war der Überflieger der deutschen Trainergilde, der Fußball-Professor, den man nun gebeten hatte: ‚Schau dir das schon mal an in Offenbach‘“, erzählt Kentschke. Cramer, der 2015 im Alter von 90 Jahren verstarb, wäre auch im Falle eines Abstiegs Chefcoach geworden. Nun, Anfang Juni 1982, nahm er zunächst eine Art Beraterrolle ein.
Der ehemalige Assistent von Bundestrainer Helmut Schön hatte mit dem FC Bayern München zweimal den Europapokal der Landesmeister gewonnen. Ob seine Ausstrahlung, sein Charisma auf die Schnelle wirklich schon etwas bewirkt haben vor den beiden Entscheidungsspielen am 4. und 9. Juni? Cramer selbst hat seinen Einfluss viele Jahre später einmal zurückhaltend so beschrieben: „Welchen Anteil soll ich schon gehabt haben? Ich führte ein paar Einzelgespräche, trainierte vielleicht ein- oder zweimal mit der Mannschaft und habe versucht, ein bisschen Freude zu stiften.“ Den großen Rest überließ er Gerd Kentschke, seinem einstigen Spieler, der 1956 unter ihm in der Schüler-Nationalmannschaft gekickt hatte. Gerdchen, so nannte Cramer seinen Schützling damals. Und jetzt, 26 Jahre später, sagte er zu ihm: „Gerdchen, mach du das mal mit Offenbach.“
Wenn Kentschke sich heute an das erste Relegationsspiel auf dem Bieberer Berg erinnert, muss er schmunzeln. „Cramer nahm zunächst auf der Tribüne Platz, aber als wir kurz nach der Pause durch Dieter Herzog das 1:0 erzielten, saß er plötzlich neben mir auf der Bank.“ Dass der allseits verehrte Cramer die Blicke auf sich zog und auch die Fernsehkameras den Fokus auf ihn richteten, war dem damals 39-jährigen Kentschke klar. „Er war der Weltmann, ich der kleine Fuzzi, so wurde das von einigen wahrgenommen.“
Dabei hatte Kentschke das Team in der Endphase der Saison endlich in die Spur gebracht. Mitte November 1981 war Chefcoach Willibert Kremer, der den Klub zwei Jahre zuvor in die Bundesliga geführt hatte, entlassen worden. Auch unter dessen Co-Trainer, Freund und Nachfolger Kentschke gab es zwar keine Trendwende. „Wir hatten zu spät erkannt, dass die Mannschaft keine harmonische Einheit war, dass es Gruppenbildung und Streit gab.“ Aber als die Truppe um Kapitän Jürgen Gelsdorf, Peter Hermann, Thomas Hörster und Dieter Herzog am 30. Spieltag ein 0:0 beim Tabellenführer und späteren Deutschen Meister Hamburger SV holte und eine Woche später zu Hause gegen den MSV Duisburg, einem direkten Konkurrenten um den Klassenerhalt, das Spiel nach 0:1-Rückstand in der Schlussphase noch in einen 2:1-Sieg drehte, „hat das etwas mit der Mannschaft gemacht, das hat sie wachgerüttelt“, ist Kentschke überzeugt. „Das war, zumindest was die Moral und den Zusammenhalt betraf, ein Wendepunkt.“
Am Ende hätte es sogar fast noch gereicht für den direkten Klassenverbleib. Nur zwei Tore mehr und kein Gegentreffer im letzten Spiel gegen Arminia Bielefeld, dann wäre Bayer 04 die Relegation erspart geblieben. So aber landeten die Leverkusener nach dem 3:1-Sieg auf der Alm am 34. Spieltag der Saison 1981/82 auf Platz 16, punktgleich zwar mit dem Tabellenfünfzehnten Fortuna Düsseldorf, nur eben mit der um zwei Treffer schlechteren Tordifferenz.
Immerhin konnte sich die Werkself glücklich schätzen, dass sie überhaupt noch die Chance auf den Klassenerhalt bekam. Denn Relegationsspiele zwischen dem Drittletzten der Bundesliga und dem Drittplatzierten der neu geschaffenen eingleisigen 2. Bundesliga hatte es seit Gründung der deutschen Eliteliga 1963 noch nicht gegeben. „Natürlich war die Anspannung bei allen riesengroß, auch bei mir“, gesteht Kentschke. „An der ganzen Sache hing so viel dran. Mein Puls war vor dem Anpfiff auf dem Bieberer Berg schon extrem hoch.“ Bei den Spielern sah es nicht anders aus. Jürgen Gelsdorf, Kapitän der Truppe und einer der Aufstiegshelden von 1979, erinnert sich: „Die beiden Spiele gegen Offenbach waren heftig. Uns war allen klar: Wir haben so lange gebraucht, um in die Bundesliga aufzusteigen. Und nun konnte in zwei Spielen alles vorbei sein.“
Der Gegner, die Offenbacher Kickers, war nicht zu unterschätzen. Noch am drittletzten Spieltag hatte der OFC in der 2. Liga auf einem direkten Aufstiegsplatz gestanden. In seinen Reihen spielten erfahrene Profis wie Michael Kutzop – ein Freund von Rudi Völler aus gemeinsamen Offenbacher Zeiten und später dessen Teamkollege beim SV Werder Bremen – und Talente wie der 21-jährige Uwe Bein, der 1990 unter anderem gemeinsam mit Völler Weltmeister wurde. Allerdings herrschte gegen Saisonende auch am Bieberer Berg Unruhe. Drei Spieltage vor Schluss rutschten die Kickers nach einer 1:4-Niederlage gegen die SG Wattenscheid 09 auf Rang drei ab. Der Klub trennte sich von Coach Franz Brungs und der noch aktive Spieler Kurt Geinzer übernahm interimsweise den Trainerposten. Am letzten Saisonspieltag kassierte der OFC unter Geinzer eine 2:5-Niederlage beim TSV 1860 München. Vierfacher Torschütze bei den Löwen: ausgerechnet der ehemalige Offenbacher Rudi Völler, Trainer der Sechziger war seit wenigen Wochen: Willibert Kremer. Geschichten, die der Fußball so schreibt.
Noch vor den Relegationsspielen wurde bei den Kickers erneut der Trainer gewechselt. Lothar Buchmann, der ein Jahr zuvor mit Eintracht Frankfurt DFB-Pokalsieger geworden war, übernahm die sportliche Verantwortung. „Angst hatten wir nicht vor den Offenbachern“, erinnert sich Peter Hermann. Bayer 04 behielt an diesem 4. Juni, einem Freitagabend, tatsächlich kühlen Kopf am Bieberer Berg, hielt dem Druck der Gastgeber stand und gewann am Ende durch ein Tor seines 35-jährigen Routiniers Dieter Herzog mit 1:0. „Die Hütte hat gebrannt dort, aber wir waren die bessere Mannschaft und haben das Spiel verdient für uns entschieden“, sagt Kentschke. Auf der Rückfahrt nach Leverkusen analysierten er und Cramer in dessen Auto das Spiel noch einmal eingehend.
Schon fünf Tage später, am 9. Juni, stand das Rückspiel im Ulrich-Haberland-Stadion an. Und wie schon in Offenbach, pendelte Cramer während der Partie in Leverkusen ständig zwischen Tribüne, Trainerbank und Außenlinie hin und her. Bereits nach drei Minuten hatte Bernd Walz zum Entsetzen der Bayer-Fans die Offenbacher 1:0-Führung erzielt und damit das Ergebnis aus dem Hinspiel egalisiert. Nur vier Minuten später zog sich der Torschütze nach einem Zusammenprall mit einem Leverkusener einen Knöchelbruch zu. Und noch einmal traf die Offenbacher schon in der ersten Halbzeit das Verletzungspech, als Kickers-Kapitän Keinzer mit einer schweren Gehirnerschütterung ebenfalls ausgewechselt werden musste. Mit zunehmender Spieldauer dominierten dann die Gastgeber vor 20.000 Zuschauern. „Die Mannschaft hat den Rückstand gut weggesteckt, ist nicht nervös geworden, sondern hat noch mal eine Schippe draufgelegt“, sagt Kentschke.
Nach einem Traumpass von Thomas Hörster gelang Peter Szech in der 27. Minute der Ausgleich. Und als derselbe Spieler nach knapp einer Stunde und maßgenauer Flanke von Jürgen Gelsdorf das 2:1 köpfte, kochte das Ulrich-Haberland-Stadion – während Dettmar Cramer mal wieder an der Seitenlinie Präsenz zeigte und Kapitän Gelsdorf schnell noch ein paar Instruktionen mit auf den Weg gab. Einige Meter entfernt jubelte Kentschke mit Staff und Ersatzspielern. „Als endlich der Abpfiff ertönte dachte ich: ‚Jawoll, ich hab’s geschafft‘“, sagt der heute 79-Jährige. „Wer weiß, wie sich der Verein bei einem Abstieg entwickelt und wie die Bayer AG reagiert hätte. Fest steht für mich jedenfalls, dass wir nie in diesen Schlamassel geraten wären, wenn wir immer so gespielt und gekämpft hätten, wie in den beiden Relegationsspielen gegen Kickers Offenbach.“
Gefeiert wurde der Klassenerhalt mindestens genauso euphorisch wie drei Jahre zuvor der Bundesliga-Aufstieg. Bayer 04-Fans und OFC-Anhänger lagen sich nach dem Schlusspfiff auf dem Platz in den Armen und besiegelten ihre ganz besondere Fan-Freundschaft, die heute noch aktiv gepflegt wird. Und schon ein Jahr nach den Relegationsspielen durften sie erneut zusammen feiern: 1983 gelang Kickers Offenbach der direkte Bundesliga-Aufstieg.
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