Auf einen Schlag ist alles anders nach diesem 9. November 1989. Die Mauer ist weg. Abgewrackt. Es herrscht Tauwetter. Statt Beton und Blockade stehen die Zeichen auf Entspannung. „Gorbi“ und „Wind of Change“ statt Erich und Erich. Statt Mielke und Honecker. Niemand muss mehr bei Gefahr für Leib und Leben Republikflucht begehen. Auch kein Fußballer, der seine Kopfballstärke im Westen vergolden will. Reiner Calmund in Leverkusen findet bei seinem Werben um die besten Beine des Sozialismus eine dramatisch veränderte Verhandlungsbasis vor. In „Deutschland einig Vaterland“ herrscht auf einmal der freie Austausch von Spielen und Spielern, von Toren und Talenten. Fortan soll ihm sein Prinzip helfen, das ihm in dieser beinharten Branche schon so oft geholfen hat: „Die Schnellen fressen die Langsamen“.
Der Macher des Traditionsklubs unter dem Bayer-Kreuz ist bei aller rheinischen Fröhlichkeit und Leutseligkeit ein Mann der Tat. Er hat am 9. November 1989 vor Ort in Berlin ausführlich den historischen Mauerfall gefeiert und anschließend am heimischen Schreibtisch einen Plan ersonnen und entwickelt, wie sein Verein von der Entwicklung profitieren kann. Dabei ist ihm ein waghalsiges Bubenstück mit überschaubarem Risiko eingefallen. Am 15. November tritt die DDR-Auswahl im Wiener Praterstadion zu einem Qualifikationsspiel gegen Österreich für die im Jahr darauf angesetzte Fußball-WM in Italien an. Unter den 57.000 Zuschauern im weiten Rund befinden sich hunderte Scouts, Talentspäher und Spieler-Agenten aus allen Teilen Europas, die mit hungrigen Blicken den Auftritt der ostdeutschen Kicker verfolgen.
Auch Bayer 04 ist vertreten. Aber mittendrin statt nur dabei. Im Innenraum. In Augenkontakt mit den Protagonisten. Calmund hat den in der Szene weitgehend unbekannten Wolfgang Karnath, einen Chemielaboranten und den Trainer seiner A-Jugend-Elf, ins Rennen geschickt. Und zwar ausgestattet mit der Akkreditierung eines Pressefotografen. Er soll versuchen, die für seinen Chef wichtigen Daten der Jungs (Adressen, Telefon-Nummern etc.) zu besorgen.
Was nun passiert, hat der Ex-Manager oft genug erzählt. Mal „sachlich-fachlich“, wie es bevorzugt in seinem Wortschatz heißt, mal eine Spur weit ausgeschmückt, sodass auch die Absurdität der Situation nicht zu kurz kommt. Während die Partie läuft, rückt Karnath immer näher an die Reservistenbank der Gäste-Mannschaft und lässt sich dort letztlich auch nieder. Andreas Thom im Rückblick: „Der saß am Ende mit Foto-Leibchen bei uns auf der Bank und hat sich keine Platte gemacht.“ Frechheit siegt.
Das war’s freilich noch nicht. Der vermeintliche Bildreporter gelangt dank seines smarten Auftretens nach dem Abpfiff auch ins Teamhotel des DDR-Ensembles in Lindabrunn und ergattert schließlich sogar die Erlaubnis, den Flieger zurück nach Berlin mitzubenutzen. Das Ding ist geritzt, würde man im Rheinland sagen. Calmund erhält am folgenden Tag im Grand-Hotel an der Friedrichstraße einen Spickzettel mit sämtlichen für ihn entscheidenden Unterlagen sowie dem Hinweis, welche Spieler Interesse an einem Wechsel in den Westen geäußert hätten. Darunter ist auch Andreas Thom, seit Jahren Stammspieler in der DDR-Auswahl. Der 24-Jährige, Spielmacher und Vollstrecker beim BFC Dynamo, dem bevorzugten Klub des Stasi-Chefs Erich Mielke, gilt mit seinem brillanten Fußball-Verstand und seinen feinen Füßchen als begehrtester Profi des Ostens. „Calli“ ist on fire und augenblicklich unterwegs zum Autogramme-Sammeln.
„Andi“ Thom unterschreibt neun Tage nach einer ersten Begegnung in seiner Plattenbau-Wohnung den Vertrag. Für ihn ist wichtig, dass der Deal auf jeden Fall offiziell über den DDR-Verband abgewickelt wird, will er doch unter allen Umständen gesichert wissen, dass seiner Familie durch den Tapetenwechsel keinerlei Probleme drohen. Anfang Dezember 1989 kommt es zur Einigung mit den DDR-Funktionären. Die Ablösesumme soll 2,5 Millionen D-Mark betragen. Am 12. Dezember wird der erste Transfer eines Spielers aus der DDR in die Bundesliga öffentlich bekanntgegeben und vorgestellt. Bayer 04 hat ein gutes Stück deutsch-deutscher Sportgeschichte maßgeblich mitgestaltet.
Thom soll am 16. Dezember im Heimspiel gegen den FC Homburg erstmals in seiner neuen Arbeitskleidung auflaufen. Die Partie fällt wegen Unbespielbarkeit des Rasens ins Wasser. Zur Premiere kommt es dann an gleicher Stätte im Nachholspiel am 17. Februar 1990. Beim 3:1-Sieg erzielt Thom auf Vorlage von Andrzej Buncol den Führungstreffer, sein erstes Tor für Bayer 04. Während seiner fünfjährigen Beschäftigung beim Werksverein kommt er in 161 Einsätzen auf 37 Einschüsse. An die anfängliche Erfahrung, als eine Art Exot aus dem Osten bestaunt zu werden, hat er sich übrigens bald gewöhnt, zumal sich das nach sechs Wochen legte: „Man hat gesehen, dass ich auch nur einen Kopf und zwei Beine hatte.“
Der Thom-Transfer ist der Startschuss für die nun im Ost-Fußball vorherrschende Parole: „Go West“. Der umtriebige Calmund hat noch zwei weitere erstklassige Kandidaten als heiße Eisen im Feuer. Er überzeugt die Nationalspieler Ulf Kirsten und Matthias Sammer, beide außergewöhnliche Persönlichkeiten am Ball, beide sogenannte Unterschiedsspieler und die entscheidenden Säulen ihrer Mannschaft Dynamo Dresden, dass sie in Leverkusen als erste Station ihrer Karriere im Westen bestens aufgehoben sind.
Calmund bekommt zügig, was er will, zwei wertvolle Unterschriften, und wähnt sich am Ziel seiner Wünsche. Doch die Personalien laufen nicht so reibungslos wie gedacht; bei der Umsetzung ergeben sich Probleme. Die Konzernspitze befürchtet nach Intervention von Bundeskanzler Helmut Kohl („Sie können nicht die DDR leerkaufen“) Imageprobleme, wenn Bayer gleich die drei besten Kicker der DDR auf einen Schlag verpflichtet. Die Verträge mit Kirsten (24) und Sammer (22) werden schweren Herzens gelöst. Rotschopf Sammer bindet sich daraufhin kurzfristig an den VfB Stuttgart. An den Diensten Kirstens zeigt sich Borussia Dortmund stark interessiert, hat jedoch Schwierigkeiten, die vom Dresdner Management geforderten finanziellen Rahmenbedingungen des Wechsels zu erfüllen. Als sich die Sache hinzieht, greift Calmund noch einmal ein und macht den Vertrag mit dem treffsicheren „Schwatten“ erneut wasserdicht. Diesmal bleibt’s dabei.
Mit seinem Kumpel Thom bildet „Torgarant“ (so der Titel seiner Biografie) Kirsten aus Riesa ein kongeniales Sturm-Duo und wird bald zum erklärten Liebling der Bayer 04-Fans. Die Zuneigung hält bis heute unverändert an. Im Werkself-Dress trägt er sich (bis 2003) mit sagenhaften 181 Treffern in 350 Spielen in die Annalen ein. Hundert Mal streift er ein Nationaltrikot über, 49mal das der DDR, 51mal das schwarz-rot-goldene. Er hat drei vom Kicker verliehene Mini-Kanonen als erfolgreichster Torjäger der Liga im Trophäen-Schrank und ist ein begeisterter Motorrad-Freak.
In Matthias Stammann wechselt im Sommer 1990 noch ein dritter ostdeutscher Fußballer nach Leverkusen. Der Mittelfeldspieler wird vom PSV Schwerin verpflichtet, absolviert in vier Jahren 41 Bundesligaspiele für die Werkself und holt mit dem Verein 1993 den DFB-Pokal. Bayer 04 gilt fortan als ebenso seriöse wie beliebte Anlaufstation für das fußballerische Jungvolk aus den neuen Bundesländern: Mario Tolkmitt, René Rydlewicz, Heiko Scholz, Jens Melzig, Mike Rietpietsch, Stefan „Paule“ Beinlich – die Liste der Namen ist lang, auch der 2016 verstorbene Torwarttrainer Werner Friese, der von 1993 bis 2001 die Bayer 04-Keeper coachte, gehört dazu. Und zwei weitere der ganz Großen in der Werkself-Historie entstammen ebenfalls dem Fußball-Osten, auch wenn sie vor ihrem Wechsel nach Leverkusen noch eine Zwischenstation im Westen hatten: Bernd Schneider (kam aus Frankfurt) und Michael Ballack (Kaiserslautern).
Sie alle hatten ihre Vorgänger in zwei Profis, die 1983 noch unter Einsatz ihres Lebens die Seiten gewechselt hatten: Die Jungtalente Falko Götz (21), ein ambitionierter Angreifer, und Dirk Schlegel (22), ein starker Abwehrspieler, setzten sich während einer Europapokal-Reise ihres Klubs BFC Dynamo Berlin nach Belgrad zum Match bei Partizan ab und schlugen sich in den Westen durch. Ihr Ziel: Das gelobte Fußballer-Land, die Fußball-Bundesliga! Götz und Schlegel nutzten einen Moment der Unaufmerksamkeit ihrer Aufpasser, um sich bei einem Shopping-Bummel in einem Kaufhaus durch einen Seiteneingang in Richtung BRD-Botschaft aus dem Staub zu machen. Mit diplomatischer Hilfe und später auf eigene Faust gelang es ihnen, in Ljubljana den Nachtzug nach München zu besteigen. Die abenteuerliche Flucht führte sie in ein neues Leben. Zu neuer Beinfreiheit. Auf dem Platz und neben dem Rasen.
In Deutschland (West) wurden die jungen Leute aus Deutschland-Ost laut FIFA-Reglement zunächst einmal für ein Jahr gesperrt. Falko Götz, UEFA-Cup-Sieger 1988 mit Bayer 04 und Torschütze zum 2:0 im Final-Rückspiel gegen Espanyol Barcelona, erinnert sich: „Für mich war es wichtig, Kontakt zu Jörg Berger zu bekommen. Er war mein Trainer bei der Jugend-Nationalmannschaft der DDR und deshalb die erste Anlaufstation für mich.“ Berger, der 1979 ebenfalls über Jugoslawien aus der DDR geflüchtet und mittlerweile als Coach im westdeutschen Profifußball gut im Geschäft war, vermittelte den Kontakt nach Leverkusen zu Reiner Calmund, der beide mit einem Vertrag ausstattete. Die DDR-Aussteiger stellten sich in ihren spärlichen öffentlichen Aussagen als „Flüchtlinge in Sachen Sport“ dar. Um nicht ein ähnliches Schicksal wie ihr früherer Mitspieler Lutz Eigendorf (Kaiserslautern) zu erleiden, der bei einem manipulierten Unfall ums Leben kam, hielten sie sich im Übrigen streng an Bergers Rat, auf keinen Fall irgendwelche Provokationen in Richtung des DDR-Regimes zu äußern oder sich gar als „politische Flüchtlinge“ zu outen. Dennoch fanden sich später in der Stasi-Akte von Götz Zeichnungen, die auf eine geplante Entführung hindeuteten.
Der Text stammt zu großen Teilen aus der Feder des Autors Hermann-Josef Weskamp.
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