Im Sommer 2019 wurde die Riege der Ehrenspielführer um Rüdiger Vollborn und Stefan Kießling erweitert. bayer04.de nutzt die aktuell spielfreie Zeit, um in den kommenden Wochen jeweils freitags diesen verdienten Werkself-Legenden zu danken. Der zweite Part der sechsteiligen Serie gehört Ulf Kirsten, 2004 der erste Ehrenspielführer in Schwarz und Rot.
And the winner is: Der Schwatte! Als Bayer 04 vor ziemlich genau einem Jahr seine Fans bat, im Rahmen des Jubiläums „40 Jahre Bundesliga unter dem Bayer-Kreuz“ ihre „Bundesliga Allstars“ zu nominieren,war die Sache für 91 Prozent der 12.000 Online-Wähler klar: Ohne Ulf Kirsten geht hier gar nichts. Auch gut 16 Jahre nach seinem Karriere-Ende steht der „Torgarant“ (so der Titel seiner Biografie) ganz oben in der Gunst der Werkself-Anhänger, da kann ihm fast niemand das Wasser reichen.
Die innige Verehrung hat sich der erste Ehrenspielführer von Bayer 04 im wahrsten Sinn des Wortes erarbeitet: furchtlos und unerschrocken, immer bereit für den Kampf Mann gegen Mann. „Wo andere den Fuß wegziehen, geht der Kirsten noch mit dem Kopf hin“, hat sein ehemaliger Trainer Eduard Geyer mal anerkennend festgestellt. Und Uli Borowka, früherer beinharter und tretfreudiger Ausputzer in Bremen und Mönchengladbach, hat erst kürzlich in einem Interview mit 11Freunde Bezeichnendes gesagt, was Kirstens Nehmerqualitäten und Wehrhaftigkeit anging: „Mit einigen Stürmern konnte man mit offenem Visier kämpfen, das war sensationell. Andere sind lieber abgehauen. Wenn ich zu Jürgen Klinsmann gesagt habe, ,Heute bist du dran', dann war er nicht mehr zu sehen. Wenn ich das zu Andreas Möller gesagt habe, hat er anschließend Doppellibero gespielt. Einer, der aber immer wieder kam, war Ulf Kirsten. Auf den konntest du eintreten und zwei Minuten später hattest du selbst einen drin. Einmal hat er mir gleich beim ersten Zweikampf einen verpasst. Hab ich ihn gefragt, was das sollte. Meinte er: ,Das war noch vom letzten Mal.'“
Ulf Kirsten, ein gefechtsbereiter Neuner wie aus dem Bilderbuch. Wenn die Widerstände wuchsen, war sein Ehrgeiz erst recht entfacht: „Mich stachelt es einfach nur an, wenn mich ein ganzes Stadion auspfeift.“ Von den eigenen Fans geliebt zu werden, schön und gut, aber everybody's darling wollte er nie sein. Das hätte auch gar nicht gepasst zu seinem manchmal aufbrausenden Naturell: Ging ihm was gegen den Strich, gewann öfter auch mal der Grantler und Motzki in ihm die Oberhand. Wenn es seine ballgewandten Kollegen für seinen Geschmack mal übertrieben mit dem künstlerisch wertvollen Zauberfußball, statt ihn einfach nur im Zentrum mit klaren Pässen und scharfen Flanken zu füttern, konnte er auch nach Siegen schon mal poltern und kurzzeitig ungenießbar sein. Dann war er „ein Bollerkopp“, wie es sein sportlicher Ziehvater Reiner Calmund mal ausgedrückt hat, für den Kirsten ungeachtet aller Südamerika-Verpflichtungen von Bayer 04 „mein absoluter Jahrhundert-Transfer“ war.
Das Schleifchen drumrum entsprach dabei nie seinem Verständnis von Effizienz. „Ein Tor muss nicht schön sein, einfach über die Linie reicht“, lautete seine Devise. Damit ist Ulf Kirsten in seiner Profikarriere immer bestens gefahren. In Zahlen liest sich das beim Herrn der Tore dann so: 446 Pflichtspiele für Bayer 04 und 238 Treffer, Siegtorschütze beim DFB-Pokalfinale 1993 gegen die Amateure von Hertha BSC (siehe auch das Interview am Ende des Textes), dreimal Torschützenkönig der Bundesliga 1993, 1997 und 1998, 100 Länderspiele (49 für die DDR, 51 für die Bundesrepublik), mehr hat keiner geschafft, der für beide Nationalteams gespielt hat.
Der Junge aus Riesa, der bei Dynamo Dresden sportlich groß wurde, zwei Meisterschaft und drei Pokale gewann und 1990 als DDR-Fußballer des Jahres zur Werkself kam, lieferte in Leverkusen vom ersten Tag an ab. Ein echter Importschlager aus dem Osten nach dem Mauerfall. Gleich beim Bundesliga-Debüt im Münchner Olympiastadion gegen die Bayern traf er in typischer Kirsten-Manier (Endstand 1:1) und setzte sofort mal eine Duftmarke. Es folgten unzählige Sternstunden des dynamischen Kraftpakets im Bayer 04-Dress – gerade in den „großen“ emotionalen Spielen wie gegen die Bayern oder im Derby gegen den 1. FC Köln oder auch auf internationaler Ebene etwa gegen die PSV Eindhoven, in denen er den Gegnern jeweils einen Dreierpack einschenkte, schienen ihm manchmal Flügel zu wachsen.
Bayerns Brasilianer Giovane Elber kam nach Kirstens Hattrick am 30. November 1997 zum 4:2-Sieg der Werkself nach 0:2 und in Unterzahl zu einem klaren Urteil: „Ich habe schon viele Stürmer gesehen, aber noch keinen wie Kirsten. Wie er ackert, kämpft, rennt, sich für das Team zerreißt und auch noch trifft – heller Wahnsinn!“ Kurt Vossen, der damalige Vorsitzende der Fußball-Abteilung, hat für den Vollblutstürmer mal diese Worte gefunden: „Ihm ist nichts leicht in den Schoß gefallen. Wenn ich an seine nicht enden wollenden Sprints und Läufe während eines Spiels denke. Für seinen Erfolg macht er das Schweißvergießen und die Härte gegen sich selbst zur Bedingung. Ich glaube, viele Menschen sehen ihn unbewusst als Vorbild. Leben heißt eben auch kämpfen, dir wird nichts geschenkt, du darfst aber nie aufgeben.“
In der UEFA-Cup-Saison 1994/95, in der Bayer 04 erst im Halbfinale am späteren Sieger AC Parma scheiterte, war Kirsten mit zehn Treffern der beste europäische Schütze. Einen nochmaligen Leistungsschub erfuhr der konstante Knipser, der in den ersten Jahren bei Bayer 04 mit seinem Jahrgangs-Spezi Andy Thom ein kongeniales Duo gebildet hatte – der eine ein Brecher, der andere ein Sprinter – , unter der Ägide von Christoph Daum. Als der im Sommer 1996 nach dem Beinahe-Abstieg bei der Werkself einstieg, erlebte Kirsten nach der schwachen Spielzeit zuvor, in der ihm nur acht Treffer gelungen waren, eine rasante Renaissance. Er, für den die Nichtberücksichtigung bei der EM '96 einen üblen Tiefpunkt bedeutete und der als Reaktion darauf beinahe zu Benfica Lissabon gewechselt wäre, ließ sich von der Staubsaugervertreter-Mentalität von Daum anstecken – gleichsam des Trainers Variante von Oliver Kahns: ,weiter, immer weiter' – und erwachte zu neuer Blüte. Neuer Anlauf, neues Spiel, neues Glück. 22 Treffer brachten ihm 1997 zum zweiten Mal die Torjägerkanone.
„Ulf besitzt einen angeborenen Torinstinkt, der nicht zu erlernen ist. Er ist ein hochexplosives Energiebündel, sein Aktionsradius geht sogar so weit, dass er die eigenen Abwehrspieler verblüfft und auf der Torlinie noch die Bälle wegköpft. Und er besitzt ähnlich günstige Hebelverhältnisse wie früher Gerd Müller. Eines seiner Tore werde ich nie vergessen. Bei unserem Champions-League-Spiel in Lierse bearbeiteten ihn zwei Belgier mit Ellbogencheck und Tritten. Ulf ging zu Boden, rappelte sich auf und donnerte den Ball unter die Latte ins Tor. So hätte es auch Gerd Müller gemacht“, sagte Daum.
Der „Bomber der Nation“ aus Bayern konnte dem damals nur zustimmen. „Er ist mein legitimer Nachfolger in den 90er Jahren. Wir ähneln uns auch von der Statur her: kräftige Oberschenkel, ausgeprägte Muskulatur und nicht sehr groß gewachsen. Dafür können wir aber mit kurzen, schnellen Bewegungen die entscheidenden Zentimeter Vorsprung gegen die Abwehrspieler gewinnen. Wir sind beide nicht sehr elegant, dafür aber sehr effektiv.“ Ein Ritterschlag aus berufenem Müller-Mund für den Leverkusener Mittelstürmer, der sich 1998, wiederum mit 22 Treffern, ein drittes Mal zum besten Goalgetter der Liga krönte.
Aus seinen beiden sehnlichsten sportlichen Wünschen, Deutsche Meisterschaft und WM-Gewinn, ist indes nichts geworden. Mit der Werkself wurde er 1997, 1999, 2000 und 2002 Vizemeister, obwohl er gefühlt die beiden letzten Jahre schon eine Hand an der Schale hatte. Im Nationalteam des DFB kam er nie so hundertprozentig an, trotz 51 Einsätzen und 20 Toren. Bei der WM 1994 in den USA kam er wegen einer Muskelverletzung im Oberschenkel überhaupt nicht zum Einsatz, vier Jahre später in Frankreich blieb der Erfolg ebenfalls überschaubar. „In der Nationalelf war ich immer nur Lückenbüßer“, sagte er. Klare verbale Kante war schon immer sein Ding, auch in die eigene Richtung.
Am 1. Juli 2003 endete die Profi-Laufbahn von Ulf Kirsten, der bei seinem Abschiedsspiel im großen Rahmen am 16. November in seiner Heimatstadt Dresden noch ein letztes Mal von den Fans gefeiert wurde – Ehrenrunden mit feuchten Augen inklusive. Fortan machte er bei der Werkself erst zwei Jahre als Assistenztrainer unter Klaus Augenthaler weiter und coachte anschließend sechs Jahre lang bis 2011 die 2. Bayer 04-Mannschaft in der Regionalliga. Und auch, wenn es danach deutlich ruhiger um den begeisterten Motorrad-Freak geworden ist: Für die Bayer 04-Fans ist der „Schwatte“ immer noch simply the best.
Im folgenden Interview blickt Ulf Kirsten auf den DFB-Pokalsieg 1993 zurück:
Ulf, 1993 hast du mit deinem Tor das Pokalfinale im Berliner Olympiastadion gegen die Amateure von Hertha BSC entschieden. Mal ganz ehrlich: Wie oft hast du dir den Pokalsieg von Bayer 04 später noch mal komplett im Fernsehen angeschaut?
Kirsten: Ehrlich gesagt, habe ich danach das Spiel nie mehr gesehen. Natürlich, meinen Siegtreffer gab es hin und wieder in Ausschnitten zu bestimmten Anlässen zu sehen. Das gefällt mir dann schon ganz gut, was ich da sehe. Dann bin ich stolz auf mich und denke mir: Wirklich toll gemacht, das ist mir gut gelungen.
Wirst du denn heute, fast 27 Jahre später, noch auf dieses Tor und den Pokalsieg von Fans angesprochen?
Kirsten: Eigentlich sehr selten. Mehr werde ich auf meine Torjägerkanonen angesprochen. Das ist aber auch verständlich. Heute geht schon wieder eine andere, eine jüngere Generation zum Fußball. Ich denke mal, viele von ihnen, die heutzutage in die BayArena kommen und sich für Fußball interessieren, waren 1993 noch gar nicht geboren. Das erklärt auch, warum die Sehnsucht vor allem bei den Jugendlichen nach einem Titel und solch einem Erlebnis besonders groß ist.
Und die Spielszene, die zum Siegtreffer führte, läuft die bei dir im Kopf noch zuweilen wie ein Film ab?
Kirsten: Ganz sicher, solche Aktionen vergisst man nicht. Ich weiß es noch genau. Ich sehe, wie Pavel Hapal von links flanken will und bewege mich deshalb sofort auf den langen Pfosten. Der Ball kommt auch, ich springe höher als Berlins Torwart Fiedler mit seinem ausgestreckten Arm und platziere den Ball ins lange Eck. Endlich hatten wir unser Tor gemacht. Wir waren ja total überlegen. Den Berlinern gelang mal ein laues Schüsschen von Carsten Ramelow, der ja dann wenig später zu uns wechselte. Ein 6:0 für uns wäre eigentlich normal gewesen. Zudem glaube ich, dass uns Schiedsrichter Markus Merk einen Treffer nicht anerkannt hat. Der Ball war für mich nach einem Schuss an die Unterkante der Latte klar hinter der Torlinie. Damals gab es ja noch keinen Videobeweis. Aber Schwamm drüber.
Ihr wart der klare Favorit, was sollte da schon schiefgehen, wenn ein Bundesligist auf eine Amateurmannschaft trifft. Wie seid ihr damit umgegangen?
Kirsten: Das war mir egal. Schließlich hatten wir quasi ein Auswärtsspiel. 50.000 unterstützten die Berliner, aus Leverkusen durften nur rund 20.000 im Stadion sein. Das hat uns alles nicht beeindruckt. Nur der Titel zählt, der Gegner spielt dabei keine Rolle. Es wird schnell vergessen, dass wir im Halbfinale den Topfavoriten Eintracht Frankfurt mit Trainer Stepanovic, der danach für Reinhard Saftig zu uns wechselte und in Berlin auf unserer Bank saß, in einem überragenden Spiel mit 3:0 ausgeschaltet hatten.
Kannst du dich noch an den Augenblick erinnern, als du den Pokal in die Höhe gestemmt hast?
Kirsten: Das war wirklich ein geiles Gefühl, ein einmaliges Erlebnis. Ich bin ja oft in der Schwadbud, da sehe ich noch viele Fotos vom Pokalsieg. Dieser Sieg war eben auch sehr wichtig für unsere Fans. Wir haben zwar eine kleine Fangemeinde, aber eine sehr gute.
Stimmt es denn, dass du die Nacht mit dem Pokal in deinem Bett verbracht hast?
Kirsten: Natürlich nicht. Das war nur ein gestelltes Foto für die Presse. Ich habe den Pokal dann an einen Mitspieler weitergegeben. An wen weiß ich nicht mehr. Schließlich war ich in dieser Nacht gar nicht im Bett. Wir feierten bis acht Uhr durch und sind dann um neun nach Hause geflogen.
Stimmt es denn wenigstens, dass Stepi den Pokal gar nicht angefasst hat?
Kirsten: Stimmt auch nicht. Er tanzte wie viele von uns mit dem Pokal sogar auf dem Tisch. Und das war auch in Ordnung.
Was bleibt dir noch in Erinnerung?
Kirsten: Die vielen Umarmungen mit Reiner Calmund. Wir haben ein großes Ziel gemeinsam erreicht. Er war ja immer wie ein zweiter Vater für mich. Er hat mich aus Dresden geholt, er hat mich nie gehen lassen. Ich erinnere mich noch, wie er bei der Feier am Tag danach im Leverkusener Rathaus die Jeans-Kutte mit den Bayer-Stickern von unserem Fanbeauftragten Andreas Paffrath trug, dazu ein Baseballkäppi. So etwas vergisst man nie.
Zur Person:
Geburtsdatum und -ort:
4. Dezember 1965 in Riesa
Vereine:
BSG Chemie Riesa, BSG Stahl Riesa, Dynamo Dresden, Bayer 04
Bundesligaspiele:
350
Bundesligatore:
182
Erfolge:
51 Länderspiele für Deutschland (20 Tore), 49 Länderspiele für die ehemalige DDR (14 Tore), DFB-Pokalsieger 1993, Bundesliga-Torschützenkönig 1993, 1997 und 1998, Champions-League-Vize 2002, DFB-Pokal-Finalist 2002, Deutscher Vizemeister 1997, 1999, 2000, 2002, DDR-Meister mit Dynamo Dresden 1989 und 1990, DDR-Pokalsieger mit Dynamo Dresden 1984, 1985 und 1990, Fußballer des Jahres 1990 in der DDR