Der ehemalige Rechtsaußen ist eine der ganz großen Spieler- und Trainerpersönlichkeiten in der langen Geschichte von Bayer 04. Am 23. November wäre Theo Kirchberg 100 Jahre alt geworden. An seinem Geburtstag erinnern wir uns an diesen „besonderen Mann“.
Er trug mit seinen Toren maßgeblich zum Aufstieg in die Oberliga West bei, womit dem Klub 1951 zum ersten Mal seit seinem Bestehen der Sprung in die Erstklassigkeit gelang. Als Trainer führte er sein Team 1968 zur Meisterschaft in der Regionalliga West und scheiterte mit ihm anschließend nur knapp in der Aufstiegsrunde zur Bundesliga. Aber mehr noch als der erfolgreiche Sportler und Fußballlehrer hat der Mensch Theo Kirchberg einen tiefen Eindruck hinterlassen bei denen, die mit ihm zusammenarbeiten durften. Das wird deutlich, wenn man heute mit seinen ehemaligen Spielern spricht.
Als Theo Kirchberg im Juni 1949 vom Niederrhein nach Leverkusen kam, war er schon 28. Ein Mann im besten Fußballer-Alter, dem der Krieg einige gute Jahre genommen hatte. Beim Oberligisten VfL Benrath zählte der torgefährliche Rechtsaußen zu den herausragenden Kickern und hatte auch die Verantwortlichen der Sportvereinigung Bayer 04 Leverkusen auf sich aufmerksam gemacht. Dass Theo Kirchberg deren Angebot annahm, lag nicht zuletzt an den beruflichen Perspektiven, die ihm bei der Bayer AG in Aussicht gestellt wurden. Viele Jahre sollte er dort als Werkssportlehrer arbeiten.
In der Mannschaft war Kirchberg damals gleich gefordert. Er übernahm Anfang 1950 für eine Übergangszeit als Spielertrainer Verantwortung, weil der Vertrag von Coach Karl Winkler nicht verlängert worden war. Kirchberg hatte einige Jahre zuvor an der Kölner Sporthochschule seinen Fußballlehrer-Schein bei Sepp Herberger gemacht. Am Ende der Saison landete das Team in der 2. Liga West auf Platz 10. Kirchberg hatte alle 30 Spiele für seine Mannschaft absolviert und zwölf Tore erzielt. Im darauffolgenden Jahr gelang der große Coup: Die SV Bayer 04 Leverkusen stieg 1951 auch dank der 14 Kirchberg-Tore in die Oberliga West auf und hatte es damit erstmals in die Erstklassigkeit geschafft.
1953 beendete der inzwischen fast 33-Jährige seine aktive Karriere wegen einer Knieverletzung, wurde aber 1955/1956 noch einmal für zwölf Spiele reaktiviert. Im Anschluss an die Saison war’s dann endgültig vorbei mit der Spieler-Laufbahn. Kirchberg wurde zunächst Trainer der Leverkusener Amateure, bis er im Frühjahr 1965 die erste Mannschaft übernahm. Sieben Jahre blieb er als Coach für sie verantwortlich – und damit länger als je ein Trainer vor und nach ihm bei Bayer 04.
Für Helmut Brücken war Theo Kirchberg „ein Trainer mit großem Fußballverstand und ein sehr guter Psychologe. Er kümmerte sich um alles und jeden. Ein Co-Trainer geschweige denn ein Trainerstab oder Scoutingteam stand ihm ja damals nicht zur Verfügung. Er baute die Mannschaft selbst zusammen.“ Dabei hatte Kirchberg nicht nur ein gutes Gespür für Talente. So holte er im Sommer 1967 neben den erst 19-jährigen Peter Rübenach, Karl-Heinz Brücken und Friedhelm Strzelczyk auch erfahrene Akteure wie Torhüter Hans Benzler, Verteidiger Willi Haag und Mittelfeldspieler Klaus Görtz. Und alle schlugen sofort ein.
Helmut Brücken, der schon 1963 als 19-Jähriger von DSC 99 Düsseldorf nach Leverkusen kam, führte das Team in der Meister-Saison 1967/68 als Kapitän aufs Feld. Der eigentliche Spielführer war zwar Torhüter Friedhelm Renno. Aber weil Neuzugang Hans Benzler immer zwischen den Pfosten stand, blieb Renno nur die Reservistenrolle.
Theo Kirchberg arbeitete in dieser Saison mit einem Kader von nur 15 Spielern, inklusive der zwei Torhüter. Immerhin: Ab 1967 durfte erstmals im deutschen Fußball eingewechselt werden. Zunächst allerdings nur ein Spieler pro Partie. Bei Bayer waren das meistens die damaligen Jungspunde Peter Rübenach und Wilfried Seifert. Mit einem solch kleinen Kader musste man erstmal durch die Saison kommen. Zumal alle Spieler noch einen Job hatten oder studierten. Das erforderte Flexibilität bei der Organisation von Trainingszeiten. Helmut Brücken arbeitete damals in der Hypotheken-Abteilung der Bayer AG. „Manchmal holte mich Theo aus dem Werk ab und machte nachmittags ein Einzeltraining mit mir. Er, der gelernte Rechtsaußen, schlug dann Flankenbälle ohne Ende auf mich, die immer genau in der richtigen Höhe kamen. Es war unglaublich.“
Weil gemeinsame Übungseinheiten in der Woche oft schwierig zu koordinieren waren, legte Kirchberg Wert auf regelmäßige Kurz-Trainingslager vor den Spielen am Wochenende. Freitags oder samstags ging es dann nach Große Ledder, einem Tagungs- und Seminarhotel der Bayer AG in Wermelskirchen oder nach Lope im Oberbergischen. „Da sind wir richtig zusammengewachsen“, sagt Brücken. Waldläufe, Spaziergänge und Mannschaftssitzungen standen auf dem Programm. „Theo wusste immer alles über den Gegner, machte klasse Analysen und Ansprachen.“ Helmut Brücken, der Kapitän, bekam stets die Sonderaufgabe, erst einmal den Spielmacher des Gegners auszuschalten. „Ich war schnell, zweikampfstark und hatte eine Pferdelunge. Meistens konnte ich meinen Spezialjob zur Zufriedenheit des Trainers erledigen und sogar noch einige Tore für unsere Stürmer Fredi Hennecken, Karl-Heinz Brücken, Helmut Richert und Friedhelm Strzelczyk auflegen.“
Bei aller Akribie und so sehr er Disziplin einforderte: Kirchberg konnte auch Fünfe gerade sein lassen. Als er einmal Wind davon bekam, dass zwei seiner Spieler eine Flasche Whiskey im Trainingslager dabeihatten, weihte er nur Brücken ein. „‘Helmut, sorg dafür, dass wir das Spiel gewinnen, dann vergessen wir die Sache‘, sagte er zu mir. Aber als wir beim VfR Neuss ruckzuck 0:2 hinten lagen, wurde ich schon etwas nervös. Leo Wilden und ich mussten dann auf dem Platz etwas lauter werden – wir drehten das Spiel und siegten am Ende mit 6:2.“ Der Whiskey wurde nie wieder angesprochen.
Kirchberg war natürlich klar, dass es im Trainingslager nicht zugehen konnte wie in einem Mädchenpensionat, auch wenn er Wert darauf legte, dass seine Jungs früh zu Bett gingen. Friedhelm Renno erinnert sich mit einem Schmunzeln: „Er machte abends um halb elf seine Runde, ging in jedes Zimmer, sagte: ‚Nacht, Männer!‘ und wir antworteten: ‚Nacht, Trainer!‘ – als die Tür wieder zu war, holten wir die Karten raus. Dann wurde Skat gekloppt.“ Die üblichen Spielchen in einem Trainingslager eben. Und mit dem kleinen bisschen Aufmüpfigkeit kratzte man ja nicht gleich an der Autorität des Trainers. Wäre es nötig gewesen, die Spieler wären für Kirchberg durchs Feuer gegangen. Friedhelm Renno: „Theo war jemand, der vorlebte, was er von anderen erwartete. Er zollte jedem Spieler Respekt, ging auf jeden individuell ein und tat alles für seine Mannschaft. Er brachte etwa Peter Rübenach, der damals in Bonn lebte und einer unserer Jüngsten war, oft nach dem Training mit dem Auto nach Hause. Dieses Väterliche hat mir an Theo unglaublich imponiert.“
Auch Willi Haag, von 1967 bis 1970 der rechte Außenverteidiger von Bayer 04, erinnert sich an besondere Momente mit dem Trainer. Haag studierte damals an der Kölner Sporthochschule und konnte deshalb manchmal nicht zum Training nach Leverkusen kommen. „Also kam Theo einfach nach Köln. Das muss man sich mal vorstellen: Er machte mit mir und den Mannschaftskollegen Reinhard Roder und Dietmar Mürdter Training auf den Jahn-Wiesen. Es war außergewöhnlich, wie viel Zeit und Arbeit er investiert hat in seine Spieler. Wie viel Rücksicht er auf unsere persönlichen Umstände nahm. Jeder fühlte sich aber auch verpflichtet, ihm das mit Leistung auf dem Platz zurückzugeben.“
In der Saison 1967/68 funktionierte das großartig. Der kleine Kader war tatsächlich ein von Theo Kirchberg eingeschworener und umsorgter Haufen, der ganz Leverkusen euphorisierte. Nach den Auftaktsiegen gegen Viktoria und Fortuna Köln kamen über 16.000 Zuschauer ins Ulrich-Haberland-Stadion zum Top-Spiel gegen Rot-Weiß Essen, das damals von Erich Ribbeck trainiert wurde. Die Partie ging zwar 0:3 verloren, aber die Leverkusener ließen sich nicht aus dem Rhythmus bringen. Und auch die eigenen Anhänger blieben am Ball und unterstützten ihre Mannschaft so zahlreich auch bei Auswärtsspielen wie lange nicht mehr. Am Ende der Hinrunde wurde das Team Herbstmeister, zeigte auch beim unglücklichen 0:2 in der ersten Hauptrunde des DFB-Pokals Ende Januar 1967 gegen den Bundesliga-Herbstmeister und späteren Deutschen Meister 1. FC Nürnberg eine bärenstarke Leistung. Und holte schließlich mit einem dramatischen 3:3 bei Schwarz-Weiß Essen – vor tausenden mitgereisten eigenen Fans – am letzten Spieltag den noch nötigen Punkt zum Gewinn der Meisterschaft in der Oberliga West. Damit war Bayer 04 für die Aufstiegsrunde zur Bundesliga qualifiziert.
„Theo wechselte in Essen Klaus Görtz zur Halbzeit für Fredi Hennecken ein. Und bewies damit einmal mehr ein glückliches Händchen“, sagt Helmut Röhrig. Görtz bereitete den 2:2-Ausgleich von Karl-Heinz Brücken vor und schoss das 3:2 für Bayer 04 dann selbst. Das 3:3 des Esseners Walitza hatte keine Bedeutung mehr. „Nach solchen Spielen strahlte Theo Kirchberg wie ein kleiner Junge. Man konnte ihm den Stolz auf uns aus seinen Augen ablesen“, erzählt Helmut „Bello“ Richert, der neben Fredi Hennecken und Karl-Heinz Brücken erfolgreichste Stürmer im Team. „Aber ich habe ihn nach bitteren Niederlagen auch in der Kabine weinen gesehen. Mich als Spieler hat seine emotionale Art, die nie laut daherkam, sehr motiviert. Wenn man sah, wie Theo mitlitt, musste man ihm einfach was zurückgeben. Wir haben die Spiele auch für ihn gewonnen.“
Richert hat in seiner Karriere auch ganz andere Trainertypen erlebt. Er war noch 1966, kurz bevor er an den Rhein wechselte, mit dem TSV 1860 München unter Max Merkel Deutscher Meister geworden, ging zwei Jahre später gemeinsam mit Helmut Brücken nach Düsseldorf zur Fortuna, die Otto Knefler trainierte. „Merkel und Knefler waren ja für ihre Härte und ihr überaus strenges Regiment bekannt. Die duldeten keinen Widerspruch. Didaktisch und pädagogisch fand ich das fragwürdig, um es freundlich zu formulieren. Welch ein Kontrast zu Theo Kirchberg, der eine Seele von Mensch war, feinfühlig und interessiert an jedem einzelnen. Theo legte Wert auf unsere Meinung. Wir Spieler haben viel unter uns abgesprochen – und der Trainer ließ das auch zu und förderte es.“
Karl-Heinz Brücken zieht einen anderen interessanten Vergleich: „Mit seiner ruhigen, empathischen Art hat er für mich vom Typ her Ähnlichkeit mit aktuellen Trainern wie Hansi Flick, Lucien Favre und Peter Bosz.“ Karl-Heinz Brücken kam 1967 als 19-jähriges Talent aus Grevenbroich nach Leverkusen. Er studierte zu der Zeit Maschinenbau in Düsseldorf. Und auch er fühlte sich dank des Trainers bei Bayer 04 wie in einer Familie. Um sich in der Zeit zwischen Vorlesung und Training ordentlich erholen zu können, luden Kirchberg und dessen Frau Ilse Brücken ab und zu in ihr Haus nach Langenfeld ein. „Dann nahm er mich anschließend mit zum Training nach Leverkusen – es war eine sehr persönliche Beziehung. Wobei Theo immer auf ein vernünftiges Verhältnis von Nähe und Distanz achtete.“
Den ganz Jungen war Kirchberg väterlicher Freund, mit den Erfahrenen wie dem Nationalspieler und zweimaligen Deutschen Meister Leo Wilden oder Helmut Richert sprach er gerne über Trainingsgestaltung und Spieltaktik. Warum man Kirchberg übrigens irgendwann den Spitznamen „der Fuchs“ gegeben hatte, darüber sind sich seine ehemaligen Schützlinge uneins. „Der Fuchs gilt gemeinhin als listig und schlitzohrig. So habe ich ihn nicht in Erinnerung“, sagt Willi Haag. „Vielleicht liegt es daran“, setzt Wilfried Seifert zu einer Erklärung an, „dass er manchmal ungewöhnliche taktische Entscheidungen getroffen hat, die sich im Nachhinein meistens als richtig herausstellten“. Wie dem auch sei.
Typisch Kirchberg ist zweifellos eine Szene, die Helmut Röhrig im Gedächtnis geblieben ist. Wieder einmal war der Trainer mit dem Auto unterwegs nach Köln zu Professor Schneider, um dort die angeschlagenen Helmut Röhrig und Wilfried Seifert untersuchen zu lassen. „Wir waren schon mitten in Köln, als Theo an einem Zebrastreifen eine ältere Frau stehen sah, die sich angesichts des starken Verkehrs nicht auf die andere Seite traute. Also hielt er mitten auf der Straße an, stieg aus, hakte die Frau unter und brachte sie rüber zur Straßenbahnhaltestelle. Aber damit nicht genug, er führte sie in der Straßenbahn auch noch zu einem Sitzplatz. Dumm nur, dass die Bahn inzwischen wieder losgefahren war. Wilfried Seifert und ich sahen uns an und waren perplex.“ Helmut Röhrig muss herzhaft lachen, als er die Anekdote erzählt. „Wilfried setzte sich schließlich ans Steuer, weil die Fahrer hinter uns langsam die Geduld verloren. Wir fuhren der Straßenbahn hinterher und gabelten Theo an der nächsten Haltestelle wieder auf.“ Theo Kirchberg, der edle Helfer in der Not. Fast zu kitschig, um wahr zu sein. „Nein, so war er einfach: ein grundehrlicher Mann mit Anstand und Manieren“, sagt Röhrig, der als echter „Leverkusener Jung“ schon in der Jugend unter Kirchberg trainiert hatte.
Dass es mit dem Aufstieg in die Bundesliga 1968 nicht geklappt hat, war schade, schmälert aber nicht im Geringsten die großartige Leistung der 15 Meister-Männer während der gesamten Saison. Die 1:2-Niederlage vor 28.000 Zuschauern auf dem Bieberer Berg in Offenbach, die erst in letzter Minute durch einen abgefälschten Schuss besiegelt worden war, stellte den dramatischen Höhepunkt einer mitreißenden Spielzeit dar. „Vielleicht waren wir an diesem Tag sogar besser, aber ich denke, insgesamt fehlte uns als Mannschaft und wohl auch als Verein noch die Reife für den Aufstieg in die Bundesliga“, sagt Karl-Heinz Brücken im Rückblick auf den 9. Juni 1968. Am Ende reichte es in der Aufstiegsrunde zu Platz zwei hinter den Kickers und vor TuS Neuendorf, Tennis Borussia Berlin und Arminia Hannover. Niemand hatte der Kirchberg-Truppe eine solche Saison zugetraut.
Der besondere Mannschaftsgeist, den der Trainer gefördert und vorgelebt hatte, verbindet die Männer bis heute. Vor zwei Jahren trafen sich viele von ihnen im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum des Oberliga-West-Titels in der BayArena. Theo Kirchberg war nicht mehr dabei. 23 Jahre lang, von 1949 bis 1972, hat er Bayer 04 als aktiver Spieler und Trainer geprägt. Bis zu seinem Tod am 7. Februar 2014 blieb er seinem Verein als Fan und Zuschauer im Stadion aufs Engste verbunden. Einen Ehrenplatz in der Klubhistorie wird er immer behalten.