Sonstiges: Das Wunder von Leverkusen – Das Final-Rückspiel gegen Espanyol Barcelona – 35 Jahre danach

Zwei Spiele, ein Titel: Am 4. Mai 1988 steht in Barcelona das Final-Hinspiel des UEFA-Cups an, zwei Wochen später das Rückspiel in Leverkusen...
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Das Rückspiel in Leverkusen

Der 18. Mai 1988 ist ein schöner Tag. Morgens scheint schon die Sonne, der Himmel strahlt in blauen Farben und die Vögel zwitschern. Die Stimmung in der Mannschaft ist gelöst. Nach dem Mittagsschlaf drehen wir unsere Runde, machen einen kleinen Nachmittagsspaziergang, der die vom Mittagsschlaf übriggebliebene Trägheit vertreibt. Bei diesem Spaziergang gehe ich mit Falko Götz und wir fachsimpeln über das bevorstehende Spiel. Heute, in der Nachbetrachtung, ist mir klar, dass Falko zu dem Zeitpunkt schon weiß, dass er spielen wird. Mir ist die Aufstellung noch unbekannt, aber Trainer Erich Ribbeck hat am Abend zuvor mit dem Spielerrat über mögliche Aufstellungen diskutiert, und sie haben sich gemeinsam für eine entschieden. In dieser spielt Falko eine wichtige Rolle. Er soll als Stoßstürmer auflaufen, also immer im Zentrum des Geschehens stehen, Kopfballduelle gewinnen und den einen oder anderen Abpraller reinwuseln. Falko kommt aus der ehemaligen DDR und hat dort fast ausschließlich als Mittelstürmer gespielt. Erst in Leverkusen wird er zum offensiven Mittelfeldspieler umfunktioniert. Die Mannschaftssitzung und die Bekanntgabe der Aufstellung gehen aber erst nach dem Spaziergang über die Bühne.

„Bis dahin hab‘ ich drei gehalten“

Ich schlendere also mit Falko, und dabei ergibt sich folgender Dialog:

Falko: „Stell dir vor, wir schaffen das noch.“

Ich: „Das wäre ein Traum.“

Falko: „4:0 ist hoch, aber vielleicht schaffen wir es ins Elfmeterschießen. Da schieß‘ ich höchstens den letzten.“

Ich: „Feigling, da kommst du ja nicht mehr dran. Bis dahin hab‘ ich drei gehalten.“

Wir lachen beide und bis heute weiß Falko nicht, wohin er den letzten Elfmeter geschossen hätte, denn er wäre unser fünfter Schütze gewesen.

Die Taktik ist klar. Druck über die Flügel und Flanken, um viele Strafraumszenen hervorzurufen und für Unruhe zu sorgen. Immer wieder wollen wir die Spanier beim Spielaufbau stören und so früh wie möglich den Ball zurückerobern. Wenn wir erst mal den Ball haben, soll es auf direktem Weg auf das spanische Tor gehen. Der Tenor: Alles versuchen, um das 0:3 aufzuholen und wenn möglich, in der ersten Halbzeit zwei Tore schießen. Wir sind zuversichtlich, haben wir doch unseren „Mr. Europacup“ Christian Schreier wieder dabei. Unser Physiotherapeut Dieter „Tscholli“ Trzolek hat ihn bis zum Anpfiff fit bekommen. Nach mehreren Wochen Verletzungspause und ohne eine vernünftige Trainingseinheit halten wir ihn dennoch für so unverzichtbar, dass er von Anfang an aufläuft. Zwei Mann sind allerdings stocksauer. Herbert Waas und Klaus Täuber müssen aus der Aufstellung weichen – und in ihnen brodelt es.

18:15 Uhr: Abfahrt zum Spiel. Als wir im Stadion ankommen, hören wir schon die Fans. Wir bringen schnell unsere Taschen in die Kabine und gehen zum „Atmosphäre schnuppern“ ins Stadion. Fahnenschwenkend, das Lied von den „Plüschprümme“ mitträllernd, verströmen die 17.000 Leverkusener eine Zuversicht, die sich langsam auch in uns ausbreitet.

„Ja, der Cup muss her, ja, der Cup muss her, das wollen wir und sonst nichts mehr."

„Oleeee Ole Ole Oleeeee, we are the champions, we are the champions.”

Euphorische Stimmung auf der Baustelle

Manolo, der Trommler der spanischen Nationalmannschaft und auch Begleiter von Espanol, geht auf den Platz und küsst den dort stehenden UEFA-Pokal. Unser Fansprecher Peter Bode und zwei weitere Fans gehen nicht ganz so weit. Sie kommen auf den Platz, breiten ihre Fahnen aus, verneigen sich lachend dreimal und beten um göttlichen Beistand.

Es ist eine euphorische Stimmung. Die sich im Rohbau befindliche Haupttribüne bietet Platz für viele Bayer 04-Mitarbeiter, die an diesem Abend offensichtlich alle da sind , denn das Stadion ist rappelvoll und es herrscht eine spannungsgeladene Atmosphäre. Während des Aufwärmprogramms bekommt Trainer Erich Ribbeck die Aufstellung der Spanier in die Finger und wirft unsere Startformation kurzerhand noch einmal um. Florian Hinterberger ist der Leidtragende. In der Kabine teilt unser Coach dem maßlos enttäuschten Hinterberger mit, dass er nicht auflaufen wird. Die Spanier haben einen sehr gefährlichen und flinken Rechtsaußen, mit dem wir gerechnet hatten, aber der spielt nicht. Stattdessen ist ein Mittelfeldspieler mehr auf dem Spielberichtsbogen, außerdem laufen mit Pichi Alonso und Losada zwei echte Stürmer für Espanol auf. Für Florian Hinterberger kommt Erich Seckler auf den Platz.

Das Spiel beginnt um 20:15 Uhr und wird im ZDF übertragen. Reporter ist Günter-Peter Ploog. Er wächst, ähnlich wie die Fans von Bayer 04 und die Mannschaft, über sich hinaus und macht eine tolle Berichterstattung, für mich eine der besten Kommentatoren-Leistungen, die ich jemals gehört habe. Er wird in diesem Text auch immer wieder zu Wort kommen, denn mit eigenen Worten kann ich das Geschehen nicht immer so wiedergeben, wie er es den Zuschauern damals vermittelt hat.

16 Millionen an den Bildschirmen

Wolfgang Rolff hat den Traum, dass wir 3:0 führen und in der 90. Minute das 4:0 schießen – Ploog versucht aber, die Erwartungshaltung herunterzufahren. Er sagt den Zuschauern: „Es heißt ja aus deutscher Sicht Daumen drücken, vielleicht gibt es ja dieses Wunder von Leverkusen, aber seien Sie nicht zu enttäuscht, wenn das nicht funktioniert.“

Rund 16 Millionen Zuschauer sitzen vor den Bildschirmen, eine für Leverkusen unfassbar hohe Zahl. 24 Sender aus 20 Ländern weltweit übertragen das Spiel live. Pünktlich pfeift der niederländische Schiedsrichter Jan Keizer die Partie an. Die Stimmung ist gigantisch. Und von Beginn an spielen die Spanier auf Zeit und wir sind darauf erpicht, Unruhe in die deren Defensive zu bekommen. Meine Mitspieler rotieren ständig, bis auf Erich Seckler und Alois Reinhardt hält keiner wirklich seine Position. Selbst Wolfgang Rolff, der für den verletzten Thomas Hörster Libero spielt, rückt immer wieder ins Mittelfeld, um den Druck auf die Spanier zu erhöhen. In der 4. Minute bekommen wir unsere erste kleine Chance. Andrzej Buncol setzt sich rechts durch und zieht den Ball vor das Tor, aber leider kann ein Spanier klären.

Schlitzohr Tita

Dann der Coup von Tita. Ihm ist in der Videoanalyse des Hinspiels aufgefallen, dass Thomas N’Kono, der kamerunische Torwart von Espanol, bei seinen Abschlägen den Ball lange frei auf der Hand hält. Und jedes Mal, wenn N’Kono den Ball in die Hand nimmt, ist Tita in der Nähe, um ihn erstens zum Abschlag zu zwingen und das Zeitspiel zu verkürzen, und zweitens, um auf seine Chance zu lauern. Schon nach sechs Minuten gibt es zum ersten Mal diese Situation, aber Tita hält sich noch zurück. Doch einige Minuten später kommt die große Chance. Der Ball liegt frei in N’Konos Hand, Tita köpft ihn aus dieser und schießt die Kugel ins Tor. Jubelnd dreht er ab in Richtung Fankurve und merkt anhand der Reaktionen der Zuschauer, dass das Tor nicht zählt. Völlig entsetzt dreht er sich um, meine Mitspieler versuchen, den Unparteiischen zu beeinflussen, aber nichts hilft, das Tor zählt nicht. Der holländische Schiedsrichter Jan Keizer sagt nach dem Spiel in einem Interview zu dieser Szene: „Das war ein Fehler.“

Richtige Chancen spielen wir uns in der ersten Halbzeit nicht heraus, aber wir haben gefühlte 90 Prozent Ballbesitz. Immer wieder laufen wir uns in der vielbeinigen Abwehr fest. Kurz vor der Halbzeit macht Günter-Peter Ploog den Fernseh-Zuschauern Mut: „Man kennt das ja, ein einziges Tor, ich würde auch an Ihrer Stelle zu Hause diese Mannschaft noch nicht aufgeben, ein einziges Tor setzt ja oft ungeheure neue Kräfte frei, das ist noch gar nicht mal entschieden. Wenn das Tor irgendwann mal kommen würde, was meinen Sie, was dann hier los ist. Unmögliches kann ja manchmal sofort erledigt werden, Wunder dauern etwas länger.“

Neue Trikots für die zweite Hälfte

Als der Halbzeitpfiff ertönt, weicht die anfängliche Euphorie einer gehörigen Portion Niedergeschlagenheit: Wie sollen wir das noch drehen? Enttäuscht gehen wir in Richtung Kabine, neben uns die Spanier, jeder mit einem Radioreporter an seiner Seite. In der Kabine gibt es eine kleine, heftige Diskussion, dann herrscht Ruhe und die Spieler warten auf die Halbzeitansprache von Trainer Erich Ribbeck: „Lasst uns für die tollen Zuschauer versuchen, dieses Spiel zu gewinnen. Und wer weiß, wenn wir erstmal 1:0 führen, was dann noch geschieht.“

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Zeugwart Harald Wohner verteilt neue Trikots. Wir spielen in der zweiten Halbzeit mit den gleichen Trikots wie beim 5:1-Heimsieg gegen Austria Wien in Runde 1, bei dem wir in der zweiten Halbzeit vier Tore geschossen hatten. Ich habe lange geglaubt, dass Harry uns aus psychologischen Gründen diese Trikots hingelegt hat. Erst 30 Jahre später habe ich den wirklichen Grund erfahren. Unser Zeugwart rechnete damit, dass wir, egal wie das Spiel ausgeht, unsere Trikots nach dem Abpiff in die Fans schmeißen, und die Trikots der ersten Halbzeit benötigt er noch für die neue Saison. Der Satz Trikots, den er für Halbzeit zwei verteilt, ist für ihn verzichtbar. So einfach ist die Lösung, nichts von wegen psychologischen Tricks.

Neuer Schwung mit Herbert Waas

Herbert Waas kommt zur zweiten Halbzeit für Christian Schreier, der leider nicht die erhofften Impulse geben kann – verständlich nach wochenlanger Verletzungspause. Dafür treibt uns Herbert Waas zu einer Aufholjagd, die bis heute in allen Leverkusener Annalen ihren Platz hat und auch immer haben wird.

Es wird dunkel und das Flutlicht geht an. Die Stimmung kocht hoch, das Spiel beginnt zu brodeln und meine Vorderleute rennen um ihr Leben. Die Fans stehen hinter uns und feuern uns an. Sie treiben uns nach vorn. Wolfgang Rolff hält es nicht mehr hinten. Herbert Waas kommt jetzt immer öfter über die rechte Seite und Klaus Täuber läuft sich auch warm. Noch 40 Minuten und wir drücken und drücken. In der 51. Minute spricht Günter-Peter Ploog allen Fans aus dem Herzen: „Also wenn diese Mannschaft jetzt ein Tor schießt, dann ist ihr nach meinem Empfinden aaalllleees zuzutrauen. Da ist noch einiges drin. Der Wille ist nach wie vor da. Auch wenn nur noch 40 Minuten bleiben.“

Die Spanier diskutieren, werfen den Ball weg, geben ihn nicht her und spielen ungeniert offensichtlich auf Zeit. So langsam beginnen die kleinen Diskussionen zwischen Tita und den Espanol-Spielern. Sie fangen an, ihn zu reizen und versuchen, ihn aus der Ruhe zu bringen. Herbert Waas setzt sich wieder über außen durch, zieht den Ball scharf vor das Tor, ein Spanier hat den Fuß dazwischen, Ecke.

56. Minute: „Chancen waren da, gerade jetzt in der zweiten Halbzeit.“

57. Minute: Cha führt den Ball im Mittelfeld. Mit Tempo spielt er auf Waas nach Rechtsaußen. Der setzt sich durch, dringt in den Strafraum und spielt den Ball scharf vor das Tor. Ein Spanier stoppt den Ball und will ihn zu seinem Torwart zurückspielen. Tita spritzt dazwischen und spitzelt ihn über die Linie. Direkt springt er ins Tor, reißt den Ball an sich, sprintet zur Mittellinie, legt den Ball auf den Mittelpunkt und grüßt in die Fankurve. Das Stadion tobt. Weiter, weiter, weiter. Ploog kommentiert das Tor so: „In 35 Minuten gehört dieser Pott vielleicht Espanol, aber jetzt Waas, Missverständnis – Tita – Tooooooor. Und Keizer gibt es. Tita 1:0 und da hat er es eilig. Ich kann jetzt für nichts mehr garantieren. Ich traue dieser Leverkusener Mannschaft mit dieser Steigerung alles zu.“

58. Minute: Tita bekommt einen Schlag ins Gesicht.

59. Minute: Bayer, Bayer, Bayer dröhnt es von den Rängen. Das Stadion wird zum Tollhaus, wie ich es vorher nie erlebt habe.

60. Minute: Tita schießt aus Abseitsposition nach dem Pfiff auf das Tor. Die Spanier spielen wieder auf Zeit, regen sich theatralisch über Tita auf, bedrängen ihn. Einer tritt ihm auf den Fuß, Tita kocht.

Götz‘ Traumtor

Ploog: „30einhalb Minuten, kann Leverkusen das Unmögliche noch möglich machen?“

62. Minute: Klaus Täuber kommt für Tita. Der verlässt völlig entsetzt den Platz. „Porque? Porque?“ schreit er Ribbeck an. Er setzt sich auf die Bank, fassungslos. So wie die Fans, die Mitspieler und auch der Reporter: „Für Tita? Oder? Doch! Erich Ribbeck hat die 10 in der Hand. Oh, das versteh‘ ich nicht.“

63. Minute: Knut Reinhardt schickt Klaus Täuber, der jagt den Ball mit seiner ersten Ballberührung kniehoch vor das Tor, dort fliegt Falko Götz heran und jagt den Ball mit dem Kopf unter die Latte. 2:0.

Ploog: „So Jungs, legt noch mal einen drauf. Täuber. Ja, Jaaa, Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa. Tor. Falko Götz.“ Ein Urschrei, selbst den Reporter hält es nicht mehr. Er ist voll im Spiel, wie alle im Stadion. Nur noch eins.

Ploog: „Was habe ich Ihnen gesagt, es kann rauschen in Leverkusen.“

Die Zuschauer kochen. Noch 27 Minuten und nur noch ein Tor. Das Phänomen tritt ein, das kein Fußballer erklären kann. Auf einmal hat Espanol Angst und uns kann nichts mehr aufhalten.

„Ich werd‘ verrückt“

81. Minute: Cha wird auf der rechten Seite gefoult. Buncol tritt den darauffolgenden Freistoß vor das Tor. „Buncol – und Tooooooooooooooooooooooooooooor.“ Ploog schreit es förmlich heraus. „Ich werd‘ verrückt. Cha Bum – 3:0. Töppi (gemeint ist Rolf Töpperwien, der mit Günter-Peter Ploog das Spiel vom Reporterplatz aus schaute) kneif mich, das kann doch nicht sein.“

Cha schraubt sich hoch und köpft den Ball zum 3:0 ins Tor. Das Stadion explodiert. „3:0 für Bayer Leverkusen. Waaahnsinn.“ Die Bank ist komplett aufgesprungen. Tita ballt die Fäuste, umarmt Ribbeck, vergessen ist die Auswechslung. Ploog weiter: „81. Spielminute: Buncol, der Mann, der wie Herbert Waas dem Spiel seinen Stempel aufdrückte, Cha Bum, wie in alten Zeiten, ein prachtvoller Kopfball. Wenn es dabei bleibt gibt es hier Verlängerung. Wahnsinn, Waaaaahnsinn. 3:0 für Leverkusen. Also vielleicht hab‘ ich es ja geahnt. Ich hab‘ meinen Videorecorder daheim getimt bis 23.00 Uhr.“

Dann pfeift Schiedsrichter Keizer die Partie ab. Meine Mitspieler liegen erschöpft auf dem Rasen. Im Interview sagt Wolle Rolff: „Jetzt machen wir den Sack auch zu.“ In der Verlängerung passiert nicht mehr viel. Sekunden vor Schluss haben wir noch eine kleine Chance, aber Falko Götz schießt neben das Tor.

Das Elfmeter-Drama

Jetzt kommt es zum Elfmeterschießen: 

„Rüdiger Vollborn, Rüdiger Vollborn“, skandieren unsere Fans. Und erster spanischer Schütze ist Pichi Alonso. Ich gehe auf meine Position ins Tor.

„Die Nummer 9 Pichi Alonso gegen Rüdiger Vollborn. Er, der heute Abend nicht viel zu halten hatte, steht jetzt im Mittelpunkt.“ Ralf Falkenmayer und Wolle Rolff tigern hin und her. Ich bleibe lange stehen, wackel etwas mit den Knien, trau mich aber noch nicht so recht, was Außergewöhnliches zu machen. Ich geh‘ in die falsche Ecke und es steht 1:0 für Espanol. Ich gehe links aus dem Tor raus. Dort in der Ecke steht Gerd Kentschke, unser Co-Trainer, und nimmt mich in Empfang. Mit ihm stehen dort viele andere, die da nichts zu suchen haben, aber sie stehen da. Ralf Falkenmayer kommt, unser sicherster Schütze. Er läuft an, schießt wie immer in die von ihm aus gesehen linke Ecke und N’Kono hält. Entsetzen im Stadion. Die Spanier jubeln. Enttäuscht geht Falke in Richtung Mittellinie zurück. Alles aus!? Tita jagt durch unsere Reihen, feuert alle an, mit energischem Blick schreit er jedem Mut zu, baut alle auf. Ich gehe wieder ins Tor, ich weiß jetzt, dass ich einen halten muss. Jetzt schon was Besonderes machen? Nein, noch nicht. Job läuft an, ich bleibe lange stehen, springe in die richtige Ecke, berühre den Ball, aber krieg ihn nicht richtig. 2:0. Espanol jubelt wieder. Wolle Rolff kommt. N’Kono fliegt in die verkehrte Ecke. 1:2.

Ploog:„Es kommt Urkiaga.“

Aus den „Rüdiger Vollborn“ – Rufen wird „Rudi, Rudi, Rudi“. „Urkiaga gegen Rüdiger Vollborn.“

Der Ball klatscht an die Latte und das Stadion jubelt. Wolle Rolff nimmt Ralf Falkenmayer in den Arm, Alois Reinhardt zerknüllt seinen Plastikbecher, Bum-kun Cha läuft nervös rum.

„Latte“, brüllt Ploog, „kein Tor“.

Ich jubele und hüpfe in Richtung Eckfahne zu Gerd Kentschke. Der nimmt mich kurz in den Arm und sagt zu mir: „Bleib mal etwas länger stehen, von fünf Schützen schießt einer immer in die Mitte.“ Ich verstehe allerdings: „Bleib mal einfach stehen, die schießen jeden Ball in die Mitte.“ Und denke, was soll denn der Quatsch. Der erste Ball geht nach rechts, der zweite auch, der dritte an die Latte, wieso geht jeder Schuss von denen in die Mitte? Ich habe danach nie mit Gerd Kentschke über seinen Tipp gesprochen. Erst Jahre später anlässlich eines Interviews zu seinem 75. Geburtstages klärt er für mich die Sache auf, und mir fällt es wie Schuppen von den Augen: „Ach, DAS hat er gemeint!?“

Zumindest weiß ich, auch wenn ich Gerds Tipp falsch verstehe, jetzt genau, was ich machen muss. STEHENBLEIBEN. Herbert Waas setzt seinem Spiel die Krone auf und schießt seinen Elfer zum Ausgleich rein.

„Rudi, Rudi, Rudi“

Ich gehe wieder ins Tor und weiß genau, was zu tun ist. Ich sehe nicht, wer kommt, aber es ist auch egal. Ich schaue nur auf den Ball. JETZT. Ich wackel mit dem Oberkörper, schwenke meine Arme hin und her, wackel mit den Knien und Zuniga läuft an und schießt … genau in die Mitte. Ich halte den Ball mit den Knien, falle auf die Knie und brülle meine Freude raus. Stehe auf, balle meine Faust in Richtung Gerd Kentschke und gehe zum Umarmen zu ihm. Das war der nächste Schritt. Jetzt nur noch einen halten.

„Was für eine Dramatik. (Ploog brüllt) Vollborn hält, Vollborn hält.“

Während des Elfmeters geht Falko Götz mit dem Rücken zum Tor an der Mittellinie auf und ab, inmitten hunderter von Menschen. Alois Reinhardt spinkst durch alle durch. Klaus Täuber geht nach dem Elfer direkt in Richtung Tor. Er ist der nächste. Meine Mitspieler jubeln, Falkenmayer sagt grinsend „Scheiße“, weil er sich noch mal über seinen Fehlschuss ärgert.

„So, Täuber. Klaus Täuber. 2:2 im Elfmeterschießen. Viele mögen gar nicht mehr hinschauen von den Spielern. (schreiend) Täuber trifft.“

Die Zuschauer schreien, springen, jubeln. Florian Hinterberger klatscht und jubelt. Christian Schreier nimmt Erich Ribbeck in den Arm.

„Rudi, Rudi, Rudi“

Ich geh wieder ins Tor. JETZT. Mach das Außergewöhnliche. Ich weiß heute noch, dass ich damals auf keine Ecke vorbereitet war. Es gilt nur eins: Arme rudern. Und dann STEHENBLEIBEN, denn die schießen ja eh alle in die Mitte. Falko Götz steht mit dem Rücken zum Tor. Erich Seckler hockt sich, ebenfalls mit dem Rücken zum Tor und die Hände vors Gesicht haltend, an die Mittellinie.

„Und Losada kommt, die 11. Der Mann, der diese Finalspiele fast schon entschieden hätte mit seinen zwei Toren.“

Ich breite meine Arme aus, Losada sieht mich an, ich rudere mit den Armen und wackel‘ mit den Knien. „Losada gegen Vollborn, der rudert mit den Armen. (schreiend) Losada verschießt, Leverkusen gewinnt den Europapokal.“

Bevor der Ball die Latte überquert, bin ich schon am Hochspringen und Jubeln. Dann sehe ich eine Wand auf mich zulaufen. Ich jage dieser Wand entgegen und verschwinde in der Traube. Das Stadion explodiert. Erich Seckler hört nur auf das Geräusch, hört die Explosion im Stadion und wird von Andrzej Buncol umgerissen, Falko Götz sieht auch den letzten Elfer nicht und rennt danach in Richtung Haufen. Es herrscht eine minutenlange Ekstase im Stadion. Erich Ribbeck umarmt Klaus Täuber und lässt seinen Freudentränen freien Lauf. Alois Reinhardt springt in die Höhe und rennt los, Bum-kun Cha auch. Gerd Kentschke sprintet aus seiner Ecke, um bei uns zu sein. Dann weiß ich nicht mehr, was passiert. Es ist ein minutenlanger Filmriss.

Wir sind UEFA-Pokalsieger 1988!

Aus den Lautsprechern dröhnt Musik, das ganze Stadion lacht, tanzt und singt. Wir Spieler grölen mit. Vor der Osttribüne wird ein Podest aufgebaut, die Siegerehrung steht an. Nach und nach versammelt sich die komplette Truppe um das Podest. Unser Stadionsprecher Günter Maczkowiak begleitet die Pokalübergabe mit den Worten: „Unser Kapitän hat jetzt den UUUUUUUEEEEEEEFFFFFFFAAAAAA-Pokal, oooooohhhhhjoooiiii“. Über die Lautsprecher dröhnt „We are the Champions“ und „So ein Tag so wunderschön wie heute“ und wir lassen die Sektkorken knallen. Das Wunder von Leverkusen ist geschehen!

Ich werde diesen Tag nie in meinem Leben vergessen. Der 18. Mai 1988 war ein schöner Tag.

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