Im Sommer 2019 wurde die Riege der Ehrenspielführer um Rüdiger Vollborn und Stefan Kießling erweitert. bayer04.de nutzt die aktuell spielfreie Zeit, um in den kommenden Wochen jeweils freitags diesen verdienten Werkself-Legenden zu danken. Der vierte Abschnitt der sechsteiligen Serie widmet sich Simon Rolfes, 2015 zum Ehrenspielführer ernannt und seit Dezember 2018 der Sportdirektor von Bayer 04.
Zielstrebigkeit und Ausdauer, die ihn auf dem Platz immer ausgezeichnet haben und ihm nun auch bei seiner zweiten Karriere im Management ordentlich zugute kommen, hatte Simon Rolfes schon früh verinnerlicht. Im Alter von 16 Jahren forderte ihn einer seiner drei Brüder heraus: Wenn er es schaffen würde, den Ball mehr als 3.000 Mal hochzuhalten, würde er einen original Tricolore, den WM-Ball 1998, bekommen. Eine dreiviertel Stunde und mehr als 4.000 Ballkontakte später hatte Rolfes die Wette gewonnen. Diese nette Anekdote aus Jugendzeiten sagt vieles aus über den ambitionierten Burschen aus Ibbenbüren, der ein gutes Jahr nach dieser Begebenheit im Sommer 1999 von seinem Heimatverein TuS Recke im westfälischen Landkreis Steinfurt in die U19 von Werder Bremen wechselte.
Doch für den Traum vom Fußball-Profi musste der strebsame und enorm ehrgeizige Blondschopf einen ziemlichen Umweg in Kauf nehmen. In seiner sportlichen Vita tauchen zwar die Deutsche Meisterschaft und der Gewinn des DFB-Pokals 2004 mit Werder auf, aber der 22-Jährige hatte in jener Saison nicht eine einzige Minute für die Profis der Grün-Weißen auf dem Platz gestanden. „Ich war zu verbissen und ungeduldig in der Zeit", hat Simon Rolfes später einmal gesagt. So waren zwar 104 Einsätze für die Bremer Reserve in der Regionalliga Nord zustande gekommen, aber die heiß ersehnte Premiere in der Beletage des deutschen Fußballs ließ auf sich warten für den hageren, hochaufgeschossenen Linksfuß. Nach einer halbjährigen Leihe zum Zweitligisten SSV Reutlingen 2003 wechselte Simon Rolfes im Sommer 2004 ablösefrei zu Alemannia Aachen.
Ein Wechsel mit Kalkül – und eine Veränderung, die den Durchbruch brachte. Rolfes stand in 37 Pflichtspielen auf dem Platz, spielte eine Klasse-Saison für die Alemannia in der 2. Bundesliga wie im UEFA-Cup, und auch bei Bayer 04 wurde man hellhörig und hatte ein Auge auf den dynamischen Strategen im Mittelfeld. Dank einer Ausstiegsklausel war Simon Rolfes für 750.000 Euro zu haben und ein echtes Schnäppchen auf dem Markt. Dass aus Leverkusen Interesse an seiner Person hinterlegt wurde, hat Rolfes mächtig in die Karten gespielt, wie er mal in einem Interview zum Ablauf des Transfers verraten hat: „Ich wollte im Rheinland bleiben, Bayer 04 war und ist immer noch ein fantastischer Verein. Also habe ich etwas darauf spekuliert, dass Leverkusen noch was auf der Position machen will. Und dann haben sie angerufen, es gab am Dienstag ein gutes Gespräch mit Rudi Völler, am Donnerstag ein Gespräch mit Trainer Klaus Augenthaler und am Samstag habe ich unterschrieben.“
Der Neue startete sportlich sofort durch in die erste Elf. Für manchen Außenstehenden sicherlich überraschend, für ihn eher weniger: „Ich sah gute Chancen für mich. Auf der zentralen Mittelfeldposition hätte auch Bernd Schneider spielen können, aber eigentlich kam er eher über rechts. In der Zentrale gab‘s eigentlich nur Carsten Ramelow und Gonzalo Castro, der damals als 18-Jähriger erst ein paar Spiele gemacht hatte. Ich war also der dritte. Dass es bei so einem Topverein nur drei Anwärter auf diese Position gibt, erhöhte natürlich meine Chancen.“ Zum Saisonauftakt 2005 bei Eintracht Frankfurt kam Rolfes gleich zu seinem Bundesliga-Debüt, immer noch ein ganz besonderer Moment für ihn: „Das war ja ein Kindheitstraum. Auch wenn es nur eine Viertelstunde war und es schon 4:1 für uns stand. Höchst unspektakulär eigentlich, aber für mich einfach großartig.“
Die Bayer 04-Fans fanden schnell Gefallen an dem ballsicheren Sechser mit der Pferdelunge. Erst recht, als Simon Rolfes wenige Wochen später mit ihnen vor der Nordkurve seinen ersten Bundesliga-Treffer frenetisch feierte, nachdem er ein Zuspiel von Athirson mit dem Rücken zum Tor stehend fließend mit der Sohle verarbeitet und den Ball entschlossen ins Netz geknallt hatte. Und das nicht in irgendeinem Spiel, sondern zum entscheidenden 2:0 (Endstand 2:1) im Derby gegen den 1. FC Köln. Rolfes war endgültig bei der Werkself angekommen. „Mit dem ersten Tor gehört man irgendwie dazu. Es war ein sehr aufwühlender Moment für mich. Ich hatte das Gefühl, okay, jetzt geht’s auch hier richtig los.“
Und wie es losging! Ab diesem Derby, dem sechsten Spieltag der Saison 2005/06, bestritt Rolfes 131 Bundesliga-Spiele in Folge für Schwarz und Rot, nahezu alle über die volle Distanz. Der Dauerbrenner schlechthin. Höhepunkt die Spielzeit 2007/08: Rolfes absolvierte alle 34 Liga-Partien und stand insgesamt nur drei Minuten nicht auf dem Feld, dazu gelangen ihm acht Treffer. „Ich habe fast vier Saisons komplett durchgespielt. Heute ist so was kaum noch vorstellbar, weil der Fußball dafür zu schnell geworden ist“, sagt er.
Kein Wunder, dass der große Blonde mit dem ausgeprägten taktischen Geschick bald auch im Nationalteam gefragt war. Wie die Feuertaufe in der Bundesliga erneut ein sehr nachhaltiger Moment für ihn: „2007 gegen Dänemark, ich erinnere mich als wär‘s gestern. Ich stand im Spielertunnel und dachte, wow, jetzt läufst Du für die A-Nationalmannschaft auf. Damit ging ein Traum in Erfüllung. Für Deutschland zu spielen hat noch mal eine andere Dimension als der Vereinsfußball. Da schaut das ganze Land zu. Es war der Auftakt zu einer schönen Zeit bei der Nationalelf.“ Bei der EM 2008 schaffte es Simon Rolfes mit der DFB-Elf bis ins Finale, nachdem er beim 3:2-Sieg im Viertelfinale gegen Portugal überragend aufgetrumpft und sein sicherlich bestes von insgesamt 26 Länderspielen gezeigt hatte.
Die WM zwei Jahre später in Südafrika hatte er ganz dick auf dem Zettel. Bis der Knick kam, weil das Knie streikte. Eine Meniskus-OP im Sommer 2009, dann ein paar Monate später die nächsten Einschläge: erst ein Innenbandanriss, dann der Knorpelschaden im Knie, weitere Operationen und fast ein Jahr Zwangspause. Der Dauerbrenner plötzlich ein Dauerpatient. „Definitiv die schwerste Zeit meiner Karriere. Ich war immer gesund, und auf einmal wurden die Abstände zwischen den Operationen immer kürzer. Das Knie wurde immer schlechter. Natürlich hatte ich da Sorge vor der Entwicklung und fragte mich, wie geht’s denn weiter? Geht’s überhaupt weiter? Geduld aufzubringen, Vertrauen ins Knie zu gewinnen, das war ein intensiver Prozess. Du bist nur im Kraftraum, machst kaum sichtbare Fortschritte.“
Fast ein Jahr voller Sorgen und Selbstzweifel, Rückschläge und Ratlosigkeit. Doch Rolfes kämpfte sich – behutsam herangeführt von Jupp Heynckes – Schritt für Schritt zurück und feierte ein spektakuläres Comeback als Führungskraft. 16. Oktober 2010, die Partie beim VfL Wolfsburg, Rolfes wurde nach 69 Minuten eingewechselt. Der Protagonist erinnert es so: „Es war irre, wie im Film. Ich habe mich an dem Tag besonders gut gefühlt. Es stand 1:0 für Wolfsburg, die Zeit lief davon, und ich fragte mich, warum komme ich jetzt nicht endlich rein. Als ich dann schließlich gerufen wurde und mein Trikot anzog, fiel das 2:0. Ich schmiss meine Wasserflasche weg und fluchte. So ging ich aufs Feld. Als ich dann nach einem Freistoß den Anschlusstreffer erzielte, merkten wir als Team, da bewegt sich was. Ich holte den Elfmeter raus, den Arturo Vidal verwandelte, und stand schließlich nach einer Ecke noch mal goldrichtig und drückte den Ball zum 3:2 rein. Das Ganze passierte in zwölf Minuten.“
Was haftet ihm sonst im Gedächtnis nach zehn Jahren als Bayer 04-Profi, 377 Pflichtspielen und 49 Toren? Sein schönster Treffer? „Das 3:0 gegen Alemannia Aachen am ersten Spieltag 2006/07, ein Volleyschuss mit rechts in den Winkel.“ Die größten Erfolge? „Die vielen Champions-League-Teilnahmen, das Pokalfinale 2009, die Vizemeisterschaft 2011.“ Die besten Mitspieler? „Dimitar Berbatov, er hatte unglaubliche technische Fähigkeiten. Dem konnte man den Ball hinspielen, wo man wollte, er hatte einfach einen Magnet im Fuß. Auch Bernd Schneider war ein überragender Techniker und konnte alles am Ball.“ Was er am meisten vermisst? „Die Champions-League-Abende, diese besondere Atmosphäre, wenn du zum Stadion fährst, die Flutlichtmasten siehst, dann aufläufst, der Rasen ein bisschen nass ist. Das waren immer besondere Momente für mich.“
Am 16. Mai 2015 erwies die BayArena ihrem Spielführer Simon Rolfes beim 2:0-Sieg gegen Hoffenheim ein letztes Mal die Ehre. Eine Woche später endete seine Profi-Laufbahn in Frankfurt – auf der Bühne seiner Bundesliga-Premiere zehn Jahre zuvor. Stimmiger können sich Kreise nicht schließen.
Lange hat's danach nicht gebraucht, bis er seine Karriere nach der Karriere angeschoben hat. Ein heller Kopf und ausgeschlafener Bursche wie er handelte hier genauso wie früher aufm Platz: als weitsichtiger Stratege mit hoher Schlagzahl an Einsätzen. Rolfes gründete mit Dr. Markus Elsässer eine Berateragentur für junge Leistungssportler und übernahm mit seinem Partner die GoalControl GmbH, ein Unternehmen für Torlinientechnik. Als ZDF-Fußballexperte analysierte er in der „Sportreportage“ regelmäßig das Bundesliga-Spieltagsgeschehen. Und danach schloss der Vater dreier Töchter, der ab und an noch für die Bayer 04-Traditionsmannschaft kickt, seinen „Master for International Players“ (MIP), ein von der UEFA angebotenes fast zweijähriges Studium, erfolgreich ab. Neben Rolfes wurden hier ehemalige internationale Topstars wie die Franzosen Christian Karembeu und Eric Abidal, der Portugiese Nuno Gomes oder der Brasilianer Juninho mit dem nötigen Rüstzeug für eine spätere Karriere im administrativen Bereich oder im Fußball-Management ausgestattet.
Das Studium inklusive der Reisekosten mussten die Teilnehmer komplett selber finanzieren. „Da ist schon ein hübsches Sümmchen zusammengekommen“, sagt Rolfes. „Aber das war es mir wert. Meine Intention war immer, so viel wie möglich dazuzulernen, um mir ein stabiles Fundament aus Wissen und Fähigkeiten aufzubauen und es mit meinen Erfahrungen als Spieler zu kombinieren.“ Für seine Diplomarbeit wählte der 38-Jährige ein ambitioniertes Thema: „Football academies in Europe“. Rolfes recherchierte dafür extrem aufwändig, reiste auf eigene Faust quer durch Europa und besuchte neun Vereine – in Spanien den FC Barcelona, Atlético Madrid und Atlétic Bilbao, in England Tottenham Hotspur, in den Niederlanden die PSV Eindhoven, in Österreich RB Salzburg und in Deutschland Borussia Dortmund, Borussia Mönchengladbach und RB Leipzig. Jeweils für ein paar Tage machte er dort Station, sprach mit Nachwuchsleitern, Managern und Präsidenten und analysierte das Training der Jugendmannschaften und die unterschiedlichen Konzepte in der Nachwuchsarbeit. 80 Seiten umfasste der Report, den Rolfes in London vor einer Jury präsentieren musste – in Englisch, versteht sich. Das Diplom bekam er schließlich im Rahmen eines Festaktes in Nyon von Ioan Lupescu überreicht, Technischer Direktor der UEFA und von 1990 bis 1996 Profi in Diensten der Werkself, mit der er 1993 den DFB-Pokal gewann.
Im Sommer 2018 kehrte Simon Rolfes nach Leverkusen zurück und übernahm zunächst die Funktion als „Leiter Jugend und Entwicklung“, in der er die konzeptionelle Ausgestaltung und Weiterentwicklung der Nachwuchsarbeit am Kurtekotten verantwortete. Wenige Monate später am 1. Dezember wurde er in der Nachfolge von Jonas Boldt als neuer Sportdirektor von Bayer 04 installiert. Für die zweite Laufbahn hat er keinen Umweg mehr gebraucht.
Zur Person:
Geburtsdatum und -ort:
21. Januar 1982 in Ibbenbüren
Vereine:
TuS Recke, Werder Bremen, SSV Reutlingen, Alemannia Aachen, Bayer 04
Bundesligaspiele:
288
Bundesligatore:
41
Erfolge:
26 Länderspiele für Deutschland (2 Tore), Deutscher Meister 2004 und DFB-Pokalsieger 2004 mit Werder Bremen, Vize-Pokalsieger 2009, Vizemeister 2011, Vize-Europameister 2011