Teil 2 der Serie zum Thema „30 Jahre Wiedervereinigung“: Die Nationalmannschaft der DDR trug am 12. September 1990 ihr letztes Länderspiel aus. Heiko Scholz, der ehemalige Werkself-Profi und DFB-Pokalsieger von 1993, stand damals in Brüssel in der Startelf für die Deutsche Demokratische Republik, die just an diesem Tag auch politisch aufgehört hatte zu existieren. Ein Rückblick.
Der 12. September 1990 ist nicht nur wegen des Länderspiels geschichtsträchtig. In Moskau unterschrieben Lothar de Maizière, der letzte Außenminister der DDR, sein Amtskollege aus der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, und die Außenminister der vier Siegermächte den sogenannten Zwei-Plus-Vier-Vertrag. Er machte den Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands frei und trat am 15. März 1991, dem Tag der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde durch die Sowjetunion, mit einer offiziellen Zeremonie in Kraft. Das Zwei-plus-Vier-Abkommen markierte somit das Ende der Nachkriegszeit – Deutschland einschließlich Berlins war infolgedessen endgültig von besatzungsrechtlichen Beschränkungen befreit.
Zurück zum Fußball: Es ist ein kleines Trüppchen, das da gemeinsam am Frühstückstisch sitzt. Nur 14 Spieler sind nach Kienbaum – südöstlich von Berlin – gekommen, um sich auf das letzte Länderspiel der DDR gegen Belgien vorzubereiten. An diesem Morgen darf die ARD im Brandenburger Olympiazentrum live dabei sein. Die TV-Crew filmt, wie sich Matthias Sammer, Dariusz Wosz und Co. ihre Brötchen schmieren, die Kaffeekanne reichen und zwischendurch noch einen Ball signieren. Die meisten tragen die damals angesagten, im Nachhinein betrachtet ästhetisch fragwürdigen Vorne-kurz-hinten-lang-Frisuren. Heiko „Scholle“ Scholz ist einer von ihnen. Jörg Stübner, der neben Scholz sitzt und zu der Zeit eine Art Popstar des DDR-Fußballs ist, hält offensichtlich nichts vom Vokuhila-Trend und fällt mit seiner Popper-Locke aus dem Rahmen. Die Szenen sind in einer wunderbaren Dokumentation des NDR über dieses 293. und letzte Länderspiel der DDR zu sehen.
Eigentlich ist die Partie in Brüssel am 12. September 1990 als erstes Qualifikationsspiel der Gruppe 5 für die Europameisterschaft 1992 in Schweden vorgesehen. Neben Belgien und der DDR wurde auch die Bundesrepublik in diese Gruppe gelost. Am 21. November 1990 hätte das erste von zwei deutsch-deutschen Duellen stattfinden sollen. Aber der Gang der Geschichte lässt es dazu nicht mehr kommen, denn der Arbeiter- und Bauernstaat ist gerade dabei, sich selbst abzuschaffen. Der DDR-Fußball-Verband (DFV) hatte seine Mannschaft bereits von der EM-Qualifikation abgemeldet. Die längst terminierte Partie in Belgien soll nun als Freundschaftsspiel ausgetragen werden.
Das Problem: Nationaltrainer Eduard Geyer hat größte Mühe, überhaupt ein Team zusammenzustellen. Es hagelt 22 Absagen. 36 Spieler lädt „Ede“ Geyer ein – und kann in Kienbaum nur das kleine Häuflein von 14 „wilden, aufrechten Kerlen“, wie sie später liebevoll in einigen Medien genannt werden, um sich scharen. Der Coach, dem zehn Jahre später mit Energie Cottbus der Aufstieg in die Bundesliga gelingen sollte, ist stinksauer. Auch Matthias Sammer, der schon beim VfB Stuttgart unter Vertrag steht, will eigentlich sofort wieder abreisen, als er sieht, wer alles fehlt. Aber es geht am Abend kein Flieger mehr zurück nach Stuttgart. Also bleibt er.
„Einige waren verletzt, wie Ulf Kirsten und Andy Thom, manche wurden von ihren West-Vereinen nicht freigegeben und andere hatten einfach keinen Bock mehr“, erinnert sich Heiko Scholz an die skurrile Situation. Er selber aber, der im Sommer 1990 gerade von Lokomotive Leipzig zu Dynamo Dresden gewechselt ist, hat richtig Lust auf dieses Spiel. „Ich war in dem Moment doch einer der besten elf Fußballer von 17 Millionen Einwohnern.“ Und außerdem weiß der damals 24-Jährige um die historische Dimension der Partie. „Deshalb hat es mich überhaupt nicht gejuckt, wer da alles abgesagt hatte. Ich wollte unbedingt aufs letzte Mannschaftsfoto einer DDR-Nationalmannschaft. Mir war klar, dass dieses Bild auch in 50 Jahren noch in den Geschichtsbüchern zu sehen sein würde.“
In Brüssel bekommen die DDR-Auswahlspieler von den aktuellen politischen Ereignissen wenig mit. Sie konzentrieren sich auf ihren eigenen Auftritt. „Wir wollten uns nochmal – auf gut Deutsch gesagt – den Arsch aufreißen, um ein ordentliches Ergebnis im letzten Spiel zu erzielen“, sagt Scholz. „Alle Experten erwarteten ja, dass wir mit dieser Rumpftruppe eine Klatsche gegen Belgien kassieren würden. Und die Belgier waren ja bei der WM 1990 in Italien immerhin bis ins Achtelfinale gekommen.“
Scholz ist stolz auf seinen Startelf-Einsatz in seinem 7. Länderspiel für die DDR. 1987 hat er sein Debüt im Nationaltrikot unter Trainer Bernd Stange beim 0:2 gegen den großen sozialistischen Bruder, die UDSSR, gegeben. Sein bis dato letzter Auftritt für sein Land liegt schon anderthalb Jahre zurück – wieder eine Niederlage gegen die UDSSR (0:3).
„Wenn alle Stars kamen, zählte ich meistens nicht zum Kader oder saß nur auf der Bank. Die Absagen vieler unserer Stammspieler waren mein Glück“, sagt Scholz, der schon zu den ältesten Profis im Kader gehörte.
Jetzt also steht er in der Anfangsformation. Scholz läuft am 12. September 1990 kurz vor 20 Uhr als letzter Spieler im weiß-blauen DDR-Trikot ins Brüsseler Constant-Vanden-Stock-Stadion ein. Ausnahmsweise werden alle drei Strophen der Nationalhymne „Auferstanden aus Ruinen“ gespielt. „Es gab vor dem Spiel noch Diskussionen, ob wir diesmal sogar mitsingen sollten, was ja sonst nie erlaubt war“, erinnert sich Scholz. Der vierte Vers der ersten Strophe – „Deutschland, einig Vaterland“ – kommt schon lange nicht mehr gut an in der DDR. Aber dann bewegt doch keiner seine Lippen, als die Hymne vom Band abgespielt wird.
Im Spiel, das nur 10.000 Zuschauer sehen wollen – darunter eine kleine Schar mitgereister DDR-Bürger –, schmeißt sich die Auswahl des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaates, angeführt von Kapitän Matthias Sammer, mächtig rein in die Zweikämpfe. Zur Halbzeit steht es noch 0:0. Heiko Scholz ist erst kürzlich über einen Freund an einen kompletten Mitschnitt des Spiels gekommen und sah die Partie zum ersten Mal überhaupt nach 30 Jahren am Fernseher. „Der Reporter sagte über mich: ‚Der Scholz verliert jeden Ball und hat sich in der ersten Hälfte nur versteckt‘“, erzählt Scholle und muss herzhaft lachen.
Denn in seiner eigenen Wahrnehmung rochiert er viel in der Begegnung. Spielt mal Linksaußen, mal auf der rechten Offensivseite. Und leitet schließlich, von der Rechtsaußen-Position kommend, in der 75. Minute mit einem feinen Pass auf Heiko Bonan die 1:0-Führung der DDR ein. Bonan muss nur noch zurück auf Sammer spielen, der aus kurzer Distanz eindrücken kann. Es ist das 500. Länderspieltor der DDR-Historie. Sammer legt in der vorletzten Minute noch einen drauf zum 2:0-Sieg und setzt damit den Schlusspunkt unter die 38-jährige Länderspielgeschichte der DDR. Um 21.53 Uhr pfeift Schiedsrichter John Blankenstein das Spiel ab.
Nach der Partie stoßen die 14 Aufrechten noch kurz mit bei ein paar Bierchen auf den Sieg an, dann gehen alle wieder ihrer Wege. Die meisten von ihnen schaffen es früher oder später in die Bundesliga, bringen es dort zusammen auf 1.469 Einsätze – wie der „Berliner Kurier“ recherchiert hat. Nur Jörg Stübner, mit 46 Länderspielen der erfahrenste der damaligen Mannschaft und Teamkollege von Heiko Scholz bei Dynamo Dresden, kommt nicht klar mit der Wende und den neuen Verhältnissen. Sein Leben gerät nach und nach aus den Fugen. „Ich habe mit ihm schon in der Jugend bei Dynamo gespielt, er galt als eines der größten Talente des DDR-Fußballs, wurde unser Superstar. Wir sind gemeinsam 1991 mit Dynamo in die Bundesliga aufgestiegen“, sagt Scholz, der auch nach seinem Wechsel zu Bayer 04 Kontakt zu Stübner hält. Ein-, zweimal pro Jahr trifft man sich.
„Irgendwann fing das bei Stübs mit den Tabletten und dem Alkohol an“, erinnert sich Scholz. Ulf Kirsten, auch ein alter Kumpel aus Dresdner Jugendzeiten, lädt Stübner zu seinem Abschiedsspiel 2003 ein. Der schießt ein Tor für „Ulfs Dream Team“. Doch abseits des Platzes kriegt er die Kurve nicht mehr. Er bezieht Hartz IV, geht zum Psychologen. Scholz: „Viele wollten ihm helfen. Und im vergangenen Jahr war er eigentlich auf einem guten Weg, hätte bei Dynamo in der Fußballschule arbeiten können. Alle dachten wirklich, der kommt jetzt wieder raus aus dem Schlamassel.“ Aber am 24. Juni 2019 wird Jörg Stübner von seiner Mutter tot in seiner Wohnung aufgefunden. Er wurde nur 53 Jahre alt. „Sein Tod hat mich unglaublich mitgenommen, zumal ich seine Mutter und seinen Bruder gut kenne“, sagt Heiko Scholz.
Er selbst, der in der DDR neben seiner Fußballer-Ausbildung eine Lehre zum Instandhaltungsmechaniker gemacht hat, betrachtet die Wende als Chance. Den „Wind of change“ lässt sich der gebürtige Görlitzer schon im frühen Herbst 1989 um die Ohren wehen. Scholz spielt für Lok Leipzig. Seine Frau arbeitet damals in einem Schuhladen direkt gegenüber der Nikolaikirche in Leipzig, dort, wo die Montagsdemonstrationen begannen. „Erst waren es fünf, dann zehn, später fünfzig, bis am Ende 100.000 Menschen über den Leipziger Ring liefen und demonstrierten. Wahnsinn. Uns Lok-Spielern hatte man verboten, an den Demos teilzunehmen. Aber wir sind trotzdem gucken gegangen. Ist doch klar, wenn da 100.000 Leute in deiner Stadt demonstrieren, da gehst du auch hin“, so „Scholle“ vor einigen Jahren in einem Interview mit „11 Freunde“.
Am Tag des Mauerfalls, am 9. November 1989, hatte er sich gerade einen nagelneuen Wartburg gekauft, das aktuellste Modell mit Viertaktmotor. Den wollte er unbedingt noch vor dem zweiwöchigen Trainingslager mit der Nationalmannschaft in Empfang nehmen. Am 15. November verlor die DDR das entscheidende WM-Qualifikationsspiel gegen Österreich in Wien mit 0:3. Scholz kam nicht zum Einsatz. Es war das Spiel, bei dem Reiner Calmund sich über seinen „Spion“ Wolfgang Karnath die Kontaktdaten unter anderem zu Andy Thom und Ulf Kirsten besorgen ließ.
Während in den kommenden Wochen und Monaten viele ostdeutsche Fußballer in den Westen wechseln, lehnt Scholz ein Angebot aus der Bundesliga vom Karlsruher SC ab. „Die waren zu dem Zeitpunkt allerdings auch nicht so dolle“, sagt er mit einem Schmunzeln. Nicht, dass die Bundesliga ihn nicht gereizt hätte. Aber Scholz träumt immer noch von einem Vertrag bei Dynamo Dresden, dem Verein, auf dessen Sportschule er vier Jahre lang gegangen ist. Als die Dresdner dann wirklich bei ihm anfragen, sagt er sofort zu. „Das war eine Frage des Herzens.“
Scholz wird der erste Millionen-Transfer innerhalb der noch existierenden DDR. Als er kommt, verlässt sein Kumpel Ulf Kirsten Dresden in Richtung Leverkusen. Noch im Sommer 1990 trägt Dynamo ein Freundschaftsspiel gegen Bayer 04 aus. Scholz erzielt das 1:0 für die Dresdner, macht ein Klasse-Spiel, das die Werkself jedoch am Ende mit 2:1 gewinnt. Er fällt jedoch dem Manager der Leverkusener auf. „Wat is denn mit dem kleenen Lockenkopp da?“, fragt Reiner Calmund nach dem Spiel seinen Neuzugang Ulf Kirsten. Aber der wiegelt ab: „Nee, den können wir nicht holen, der ist gerade erst von Lok Leipzig gekommen.“ Als Scholz diesen kleinen Dialog schildert, muss er grinsen: „Der Calli hatte schon die Leine nach mir ausgeworfen. Aber er musste sich noch zwei Jahre gedulden.“
1992 – Scholz hatte eine starke Saison für Dresden in der auf 20 Vereine aufgestockten Bundesliga gespielt – folgt er dem Ruf von Reiner Calmund und schloss sich Bayer 04 an. Er war jetzt so weit. Gleich vom ersten Tag an spielt Scholle in der Startelf. Der bissige, laufstarke Mittelfeldspieler macht fast alle seiner 33 Partien über die vollen 90 Minuten und gewinnt am Ende seiner ersten Saison unterm Bayer-Kreuz auch gleich den DFB-Pokal mit der Werkself. „Ich habe mich hier sofort zu Hause gefühlt, was nicht nur daran lag, dass Ulf und Andy schon hier waren. Mir gefiel diese familiäre Atmosphäre einfach.“
Ein Länderspiel für das seit zwei Jahren wiedervereinigte Deutschland darf er unter Bundestrainer Berti Vogts auch noch bestreiten. Beim 1:1 gegen Mexiko – ausgerechnet in Dresden – steht er gemeinsam mit den Weltmeistern Rudi Völler, Guido Buchwald, Olaf Thon, Lothar Matthäus, Thomas Häßler und Jürgen Klinsmann auf dem Platz. Es bleibt sein letzter Einsatz für das Nationalteam. Die Namen seiner Mitspieler sind diesmal weitaus klangvoller als die der Teamkollegen am 12. September 1990. Aber für das Mannschaftsfoto vom 14. Oktober 1992 werden sich in 50 Jahren vermutlich wenige Menschen interessieren.
Unterm Bayer-Kreuz kickt Scholz drei Jahre, er macht 94 Pflichtspiele für die Werkself. Auch bei seinen weiteren Spielerstationen – Werder Bremen, Fortuna Köln, Wattenscheid 09 und schließlich Dresdner SC – bleibt der Lebensmittelpunkt der Familie Scholz immer Leichlingen. In Leverkusens Nachbarstadt hat er mit seiner Frau und den beiden Töchtern Wurzeln geschlagen. Er macht immer noch Motorradtouren mit seinem Kumpel Ulf Kirsten oder mit den Jungs vom Bayer 04-Fanclub „Schwarze Wölfe“. Und wenn’s die Zeit zulässt, spielt er für die Leverkusener Traditionsmannschaft. In Dresden, wo Scholle heute bei seinem anderen Herzensverein Dynamo als Co-Trainer unter Chefcoach Markus Kauczinski arbeitet, hat er sich eine Wohnung genommen. Zum Saisonauftakt gelang den Schwarz-Gelben gleich ein Coup: In der ersten Runde des DFB-Pokals besiegten sie den Hamburger SV mit 4:1. Eine Woche darauf folgte in der 3. Liga ein 1:0-Erfolg auf dem Betzenberg in Kaiserslautern. Am vergangenen Wochenende musste sich Dynamo indes mit einem 1:1 gegen Waldhof Mannheim begnügen.
Der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung wird für Heiko Scholz wohl ein Arbeitstag werden. Am 2. Oktober spielt er mit Dynamo bei Bayern München II, tags drauf steht eine leichte Trainingseinheit auf dem Programm. Vielleicht wird er dann mal kurz innehalten und sich an den ersten Tag der Deutschen Einheit vor 30 Jahren erinnern. Dynamo gewann am 3. Oktober 1990 im Europapokal der Landesmeister mit 3:0 gegen Union Luxemburg. Scholle rackerte im Rudolf-Harbig-Stadion wie üblich 90 Minuten die rechte Seite rauf und runter.
Hier geht es zu den weiteren Teilen der Serie:
Teil 1: 30 Jahre Wiedervereinigung – Ein Glücksfall für Bayer 04
Teil 3: Reiner Calmund: „Ich hatte Tränen in den Augen"
Teil 4: Falko Götz: „Sehr froh, dass der Schritt erfolgreich war"