Ein Regisseur hätte das Stück nicht besser inszenieren können. Alles, was ein klassisches Drama ausmacht, hatte diese Saison von Bayer 04 zu bieten. Starke Charaktere, eine Spannungskurve mit beängstigender Fallhöhe, Konflikte, (Selbst-)Täuschungen, das unaufhaltsame Zusteuern auf die Katastrophe und schließlich die Katharsis, die Auflösung, das Finale furioso gegen den 1. FC Kaiserslautern.
Und alles war – wie es sich gehört – bereits im 1. Akt angelegt. Bernd Schuster gab gleich im Bundesliga-Auftaktspiel bei Hansa Rostock den ambivalenten Helden. Der „blonde Engel“ erzielte nach einer Viertelstunde mit einem direkten Freistoß das 1:0 für die Werkself, erwies sich als glänzender Abwehr-Organisator, der, so analysierte der kicker im Nachgang, „mit temperierten Pässen die Konter einleitete“. Aber dann beging er eine Dummheit und wurde wegen Nachtretens in der 77. Minute des Feldes verwiesen. Torschütze, Spielgestalter, Rot-Sünder – der Libero wider Willen hatte die Ausrufezeichen in dieser Partie beim Aufsteiger gesetzt, die Bayer auch in Unterzahl noch mit 2:1 gewann.
Auf den Sieg folgten zwei Unentschieden gegen den späteren Meister Borussia Dortmund (1:1) und in Mönchengladbach (0:0), die das Team von Trainer Erich Ribbeck mit ein bisschen mehr Glück hätte gewinnen können. Nach einem weiteren Remis (1:1 gegen St. Pauli) und zwei Siegen in Stuttgart (4:1) und gegen Frankfurt (2:0) war Bayer 04 auf Platz zwei hinter die Bayern vorgerückt. Auch die ersten beiden Runden im DFB-Pokal gestalteten sich erfolgreich, gegen Duisburg und Mönchengladbach gewann Schwarz-Rot jeweils 2:0. Es war ein verheißungsvoller Start in die Saison.
Dann kam das Topspiel bei den Bayern. Und auch in dieser Partie am 7. Spieltag präsentierten sich Rudi Völler, Ulf Kirsten und Co. auf Augenhöhe mit dem Tabellenführer. Erst ein verwandelter Foulelfmeter von Jürgen Klinsmann in der 89. Minute zum 1:0 der Gastgeber brachte die Ribbeck-Elf, in der Bernd Schuster wieder im Mittelfeld agierte, um einen verdienten Punkt.
Obwohl Bayer 04 anschließend vier Mal nicht über ein Remis hinauskam, nahm die Mannschaft auch dank einer starken Defensive, in der vor allem Torhüter Dirk Heinen und der nun Libero spielende Holger Fach großen Rückhalt gaben, nach 11 Spieltagen Platz fünf in der Tabelle ein. Und nach drei Siegen in Folge gegen Karlsruhe (4:1), Uerdingen (2:1) und 1860 München (1:0) rückte das Team Ende November sogar auf Rang drei vor.
Doch im Hintergrund schwelte schon länger ein Konflikt. Im Herbst hatte sich der Zwist zwischen Erich Ribbeck und Bernd Schuster über dessen Rolle in der Mannschaft zu einem Zerwürfnis ausgeweitet. Der Riss im Verhältnis der beiden war nicht mehr zu kitten. Sein letztes Spiel mit dem Kreuz auf der Brust bestritt Schuster im DFB-Pokal-Viertelfinale beim Regionalligisten Lok Altmark Stendal am 31. Oktober, das Bayer 04 im Elfmeterschießen 5:4 gewann. Der damals 35-Jährige wurde von Ribbeck erst auf die Bank, dann auf die Tribüne verbannt. Juristische Auseinandersetzungen folgten. Der Hauptdarsteller war zur Randfigur geworden, die es aber verstand, auch in dieser Rolle noch für reichlich mediale Aufmerksamkeit und Unruhe in der Mannschaft zu sorgen.
In die lange Winterpause verabschiedeten sich die Schwarz-Roten mit zwei ärgerlichen 0:1-Niederlagen gegen den Tabellensiebzehnten Freiburg und beim Tabellensechzehnten Kaiserslautern. Gegen die Breisgauer vergab die Werkself reihenweise beste Möglichkeiten, scheiterte immer wieder am überragenden Torhüter Jörg Schmadtke, der in der letzten Minute auch noch einen Elfmeter von Paulo Sergio parieren konnte. Und auch auf dem Betzenberg schluderten die Bayer-Profis mit ihren zahlreichen Chancen. Am Ende des 1. Aktes war spürbar Sand ins Getriebe geraten. Dennoch stand man als Sechster nur einen Punkt hinter Platz fünf, der zur Teilnahme am UEFA-Cup berechtigte.
Nun sollte es in eine gezwungenermaßen quälend lange Pause gehen. Weil die ersten beiden Rückrundenspiele wegen des Wintereinbruchs abgesagt werden mussten, startete Bayer 04 erst Ende Februar ins neue Jahr – zweieinhalb Monate nach dem letzten Pflichtspiel in Kaiserslautern. Mit drei Unentschieden und einem 2:0-Sieg im Nachholspiel gegen Hansa Rostock, bei dem Neuzugang Carsten Ramelow beide Treffer erzielte, kam die Mannschaft ganz passabel aus dem Winterschlaf und schien bis Mitte März weiter klar auf UEFA-Cup-Kurs. Platz fünf lag nur zwei Pünktchen entfernt, und man hatte schließlich auch noch zwei Spiele weniger ausgetragen. Kein Grund nervös zu werden.
Doch dann kassierte diese so hochkarätig besetzte Mannschaft mit den internationalen Ambitionen und erfahrenen Spielern wie Ioan Lupescu, Markus Münch, Holger Fach, Paulo Sergio, Ulf Kirsten, Rudi Völler und Hans-Peter Lehnhoff binnen zwei Wochen gegen Bayern München, in Bremen, auf St. Pauli und zu Hause im Derby gegen den 1. FC Köln vier 1:2-Niederlagen in Folge – und fand sich auf Platz 11 wieder, mit nur noch fünf Punkten Vorsprung vor Abstiegsrang 16. Aber – es schien verrückt – auch bis Platz fünf fehlten ja nur sieben Punkte bei immer noch einem Spiel weniger. Diese Rechnerei und das wegen der Nachholpartien stark verzerrte Tabellenbild machten die Sache kompliziert. Und vernebelten manch einem den klaren Blick. Wohin sollte man nun schauen? Nach oben? Nach unten? Die Situation war vor allem eines: Gefährlich!
Nach nur einem Sieg aus den letzten zehn Spielen hatten einige Beobachter spätestens nach der Derby-Niederlage am 26. Spieltag damit gerechnet, dass der Verein nun die Reißleine ziehen würde. Doch der Klub hielt an Erich Ribbeck fest. Drei Tage nach dem 1:2 gegen den Nachbarn trat Bayer 04 beim FC Schalke 04 an. Dramaturgisch war dieses Spiel an jenem 9. April 1996, einem Dienstagabend, der Höhepunkt des 2. Aktes.
Nach der frühen Führung durch Ulf Kirsten in der sechsten Minute ging es auf dem Rasen vogelwild zu. Schiedsrichter Uwe Kemmling schickte Markus Münch in der 27. Minute nach einem Foulspiel mit Gelb-Rot vom Platz, Ulf Kirsten beschwerte sich lautstark und wurde eine Minute später nach seiner Scheibenwischer-Geste ebenfalls mit Gelb-Rot des Feldes verwiesen. Nach gut einer Stunde wurde es noch bunter: Carsten Ramelow sah nach angeblicher Notbremse gegen Martin Max glatt Rot vom Unparteiischen. Die um drei Feldspieler dezimierte Werkself fightete im Parkstadion eine halbe Stunde lang heroisch und hielt den Angriffswellen der Schalker stand. Bis eine Minute vor Schluss. Dann durchbrach David Wagner, der spätere S04-Trainer, das Leverkusener Bollwerk und schoss das 1:1 – ein Treffer mitten ins Herz.
Nach dem Abpfiff kochten die Emotionen hoch. Die Gäste haderten mit dem Schiedsrichter und dem Schicksal. Und wer weiß: Wäre die Mannschaft damals trotz dieser aberwitzigen Unterzahl mit einem Sieg nach Hause gefahren, hätte ihr das vielleicht noch einmal einen mentalen Schub für die nächsten Spiele geben können. So aber schien das Unheil seinen Lauf zu nehmen.
Am Sonntag darauf, einen Tag nach dem 36. Geburtstag von Rudi Völler, musste Erich Ribbeck gegen Fortuna Düsseldorf nicht nur auf das gesperrte Trio Münch, Kirsten, Ramelow verzichten, sondern gleich den nächsten Nackenschlag hinnehmen: Christian Wörns sah kurz nach dem Seitenwechsel wegen einer Notbremse die Rote Karte und die Werkself kam, erneut in Unterzahl, über ein 0:0 nicht hinaus. Bayer 04 und die Platzverweise, das war in dieser Saison auch so ein Thema: Mit insgesamt fünf Roten Karten, drei Gelb-Roten Karten und neun Gelb-Sperren belegte der Klub in der Fair-Play-Tabelle am Ende den letzten Platz.
Nach einem erneut unglücklichen Remis beim Hamburger SV, für den Harald Spörl drei Minuten vor dem Abpfiff per Elfmeter zum 2:2 ausgleichen konnte, empfing die Werkself am 30. Spieltag den Karlsruher SC. „Vor diesem Spiel hat der Trainer uns vorgerechnet, wie wir noch in den UEFA-Cup kommen könnten“, erinnert sich Rüdiger Vollborn. Und wer es so optimistisch angehen wollte wie Erich Ribbeck, konnte das durchaus tun und mit Zahlen untermauern. Denn immer noch betrug der Abstand auf Platz fünf nur sechs Punkte – und seine Mannschaft hatte noch die Partie bei Borussia Dortmund nachzuholen. Allerdings: Auch der Vorsprung vor Abstiegsplatz 16 war auf sechs Punkte geschmolzen. Bayer 04 steckte zwischen Baum und Borke.
Nach den 90 Minuten gegen den KSC sah man klarer, es gab nichts mehr schönzureden, niemand konnte sich länger in die Tasche lügen: Der Baum brannte! Und zwar lichterloh. Die 1:2-Heimniederlage bedeutete das Ende der Amtszeit von Erich Ribbeck. Nur noch drei Punkte trennten den Klub von einem Abstiegsplatz. Co-Trainer Peter Hermann übernahm die Rettungsmission, der dritte und letzte Akt war eingeläutet.
Und er begann mit einer erschütternden Darbietung. Am 30. April, wieder mal ein Dienstagabend, ließ eine völlig verunsicherte Truppe beim Tabellenletzten und schon als Absteiger feststehenden KFC Uerdingen auch noch jeglichen Kampfgeist vermissen. Bayer 04 ging in der Krefelder Grotenburg saft- und kraftlos unter. 0:3 – Die Nerven lagen blank.
Lediglich Rudi Völler wehrte sich, stand „aber mit seinem Engagement allein auf weiter Flur“, wie der kicker festhielt. Ausgerechnet der ehemalige Leverkusener Marek Lesniak schwang sich auf Uerdinger Seite zum überragenden Mann auf, schoss das erste Tor selbst, bereitete die beiden weiteren vor. Peter Hermann war auf der anschließenden Pressekonferenz sichtlich zerknirscht. An der Einstellung seines Teams musste sich schleunigst was ändern.
Hermann sammelte die Trümmer auf und begann, sie wieder zusammenzusetzen. Viel Zeit blieb nicht bis zum nächsten Spiel. Nur vier Tage. Der Interimscoach schwor das Team in einem kurzfristig anberaumten Trainingslager im oberbergischen Much auf die kommende Aufgabe ein. Und tatsächlich: Gegen 1860 München zeigte die Mannschaft ein ganz anderes Gesicht. Offenbar hatte jetzt jeder nicht nur den Ernst der Lage erkannt, sondern Kampf und Leidenschaft wiederentdeckt. Rudi Völler und Ulf Kirsten brachten ihr Team mit 2:0 in Führung, Olaf Bodden schaffte nur noch den Anschlusstreffer. Der 2:1-Sieg machte Hoffnung.
Doch die Achterbahnfahrt ging weiter. Wieder nur drei Tage später verlor das Hermann-Team trotz ordentlicher Leistung das Nachholspiel beim kommenden Meister Borussia Dortmund 0:2. Und auch die nächste Dienstreise nach Freiburg, zu der Bayer 04 für seine Fans einen Samba-Zug organisiert hatte in der Hoffnung, dort den Klassenerhalt perfekt machen und anschließend auf der Heimfahrt feiern zu können, endete mit einer Enttäuschung. Nach dem 1:2 im Breisgau war klar: Das Duell am 34. Spieltag gegen den 1. FC Kaiserslautern würde ein Endspiel um Sein-oder-Nicht-Sein werden.
Wie schon vor dem Sieg gegen die Münchner Löwen zog sich das Team mehrere Tage ins Trainingslager nach Much zurück. Es hatte ja offensichtlich geholfen, und Fußballer sind nun mal abergläubisch. Aber diesmal war alles anders. „Wir haben in der Einöde und Abgeschiedenheit da eher einen Lagerkoller gekriegt“, sagt Rudi Völler im Rückblick. „Die paar Prozentpunkte Optimismus, die wir vorher noch hatten, waren nach diesen Tagen jedenfalls auch verschwunden.“ Auch Reiner Calmund, der damalige Manager, betrachtet das Trainingslager in Much im Nachhinein als Fehler. „Es hatte was von Aktionismus.“
Selbst die gut gemeinte Idee, dass Mitarbeiterinnen aus der Geschäftsstelle den Profis im Trainingslager ins Gewissen reden und klarmachen sollten, dass auch ihre Arbeitsstellen bei einem Abstieg gefährdet wären, „zog alle noch mehr runter“, wie sich Peter Hermann erinnert. Immerhin: Manch ein Spieler kam darüber ins Grübeln. „Du weißt doch oft als Profi gar nicht, was so alles dranhängt am Erfolg oder Misserfolg der Mannschaft“, so Carsten Ramelow, den die Szene nachhaltig beeindruckt hat. „Silke Steinhausen hat damals vor versammelter Mannschaft einen Brief vorgelesen, der mir als jungem Spieler die Augen öffnete. Natürlich ist dir klar, dass in einem Klub viele Menschen arbeiten, dass du nicht nur für dich selbst spielst. Aber in der prekären Lage, in der wir waren, musste uns das vielleicht noch einmal auf diese persönliche Art und Weise verdeutlicht werden. Deshalb fand ich die Aktion gut.“
Silke Steinhausen, die 1995 gerade frisch bei Bayer 04 angefangen hatte und heute in der Marketing-Abteilung arbeitet, erinnert sich mit etwas Unbehagen an die Situation. „Mir war das eigentlich unangenehm, weil ich selber noch ganz jung war und hier plötzlich so vielen Stars sagen sollte, dass sie sich doch bitte auch für meine Kolleginnen und Kollegen und mich ins Zeug legen sollten. Aber Calli hat großen Wert darauf gelegt.“ Als sie fertig war, habe betretenes Schweigen in der Runde geherrscht. Ob ihre Worte wirklich etwas bewirken konnten?
Am 18. Mai jedenfalls schienen der Schlamassel, in den sich das Team selbst gebracht hatte, und der immense Druck die Beine der Spieler zu lähmen. Gegen Kaiserslautern hatte man in dieser Saison bereits zweimal verloren: 0:1 in der Hinrunde und mit demselben Ergebnis auch vor einigen Wochen im Halbfinale des DFB-Pokals. Jetzt also das dritte Aufeinandertreffen. Im Ulrich-Haberland-Stadion standen schon die Bagger bereit für den geplanten Umbau der Arena, der im Falle eines Abstiegs so nicht hätte umgesetzt werden können. Die Pfälzer hatten alles versucht, noch zusätzliche Tribünenkarten für ihre Fans zu bekommen. Was Reiner Calmund natürlich zu verhindern wusste. Nichts hätte man weniger gebrauchen können als jetzt ein Auswärtsspiel im eigenen Haus.
Die personelle Situation war angespannt. Ulf Kirsten fehlte wegen eines Muskelfaserrisses, Claudia Reyna aufgrund einer Meniskus-Entzündung und auch Christian Wörns fiel kurzfristig wegen Kniebeschwerden aus. Dafür stellte sich Markus Münch zur Verfügung, der kaum trainiert und eine längst geplante Leisten-Operation extra verschoben hatte, um der Mannschaft helfen zu können. Für Rudi Völler war es das letzte Bundesligaspiel seiner Karriere, zwei Tage später würde er hier im Stadion sein Abschiedsspiel gegen die deutsche Nationalmannschaft geben.
„Wir sind mit Wackelfüßen in dieses Endspiel gegen Kaiserslautern gegangen, gar keine Frage“, gab Mike Rietpietsch später zu. Und als die Lauterer kurz nach der Pause durch Kuka in Führung gegangen waren, und die Kölner zeitgleich 1:0 in Rostock führten, „waren wir zu dem Zeitpunkt abgestiegen – so nah hat Bayer 04 nie zuvor und danach am Abgrund gestanden“, sagt Rudi Völler.
Der Rest der Geschichte, ihre entscheidenden Bilder, ihre Helden und tragischen Figuren haben sich längst ins kollektive Fan-Gedächtnis eingebrannt: Kukas Riesenchance zum 2:0, die Dirk Heinen bravourös zunichte machte; Mike Rietpietschs wuchtiger Vollspannstoß aus der Distanz, Reinkes Abwehr nach vorne, Markus Münchs beherzter Schuss in die Maschen zum erlösenden 1:1; die Jubeltraube, die den Torschützen unter sich begrub; der Abpfiff von Schiedsrichter Bernd Heynemann; der weinende Andy Brehme an der Schulter seines Freundes Rudi Völler.
Das Drama mündete in einem würdigen Finale.