Rekord­spie­ler, Titel­ge­win­ner und Klub­his­to­ri­ker

Rüdi­ger Voll­born

Im Sommer 2019 wurde die Riege der Ehrenspielführer um Rüdiger Vollborn und Stefan Kießling erweitert. bayer04.de nutzt die aktuell spielfreie Zeit, um jeweils freitags diesen verdienten Werkself-Legenden zu danken. Im sechsten und letzten Teil der Serie geht es um  Rüdiger Vollborn. Die ehemalige Nummer 1 der Werkself ist seit fast 40 Jahren im Verein und mit 401 Bundesligaeinsätzen der Rekordspieler des Klubs, der als einziger Bayer 04-Profi sowohl den UEFA-Cup (1988) als auch den DFB-Pokal (1993) gewonnen hat.

Nach seiner aktiven Karriere war Rüdiger Vollborn viele Jahre lang Torwarttrainer, heute kümmert sich der gebürtige Berliner als Fanbeauftragter auch um die Pflege des historischen Vereinsarchivs und fesselt seine Zuhörer bei BayArena-Touren, Stadtrundfahrten oder Vorträgen in der Schwadbud mit Anekdoten und spannendem Insider-Wissen aus der langen Bayer 04-Geschichte. „Ich lebe quasi den ganzen Tag in der Vergangenheit“, sagt der 56-Jährige mit einem Lächeln. Schon als Junge tauchte er gerne in Sagen und Göttergeschichten ab, las Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“, zählt die „Säulen der Erde“ und die „Tore der Welt“ von Ken Follet zu seinen Lieblingsbüchern. Auch seine Begeisterung für Musik geht weit über das reine Hören von Songs hinaus, er dokumentiert sie in Chart-Listen, die bis in die 50er Jahre zurückgehen. Der Mann ist ein Historiker durch und durch.

Seine eigene Geschichte bei Bayer 04 beginnt 1981. Es ist ein magisches Jahr für Rüdiger Vollborn. Er ist DFB-Auswahltorwart, unterschreibt im März seinen Vertrag in Leverkusen, wird im Juni U18-Europameister und im Oktober des selben Jahres U20-Weltmeister. Das alles passiert „wie aus dem Nichts“, wundert sich Vollborn noch heute. Man muss ein bisschen ausholen, um dieses für ihn so besondere Jahr einordnen zu können.

Vollborn_imago07909888h.jpg
Der erste Triumph im Jahr 1981: Rüdiger Vollborn präsentiert den U18-EM-Pokal nach einem 1:0-Finalsieg gegen Polen.

Vollborn wird nach seiner ersten Station bei Traber FC Mariendorf Stammtorhüter beim Traditionsklub Blau-Weiß 90 Berlin. 1979 gewinnt er mit dessen U17 das Finale um die Deutsche Meisterschaft. Gegner ist der FC Augsburg, bei dem Raimund Aumann, der spätere Bayern-Keeper, das Tor hütete. Der damalige DFB-Trainer Dietrich Weise schaut sich das Endspiel an und lädt sowohl Vollborn als auch Aumann zu Junioren-Länderspielen ein. Vollborn sitzt gegen Polen über 90 Minuten auf der Bank, fährt im Januar 1980 mit der U17-Nationalmannschaft in die USA, macht sein erstes Jugendländerspiel und hört danach ein Jahr lang nichts mehr vom DFB. 1980 im Oktober wird er erstmals wieder zu einem Lehrgang eingeladen. Bei einem Turnier in Moskau im Januar 1981 präsentiert sich Vollborn in Top-Form. Er macht drei der fünf Partien und ist danach einer von fünf gesetzten Spielern für die U18-EM in Deutschland.

Ein junger Redakteur ist für den „Kicker“ in Moskau dabei, er ruft Vollborn wenig später in Berlin an und möchte ein Interview mit ihm führen. Für den Nachwuchs-Torhüter wird es sein erstes Interview - für den jungen Redakteur Frank Lußem ebenso. Die beiden treffen sich in Berlin, Lußem fragt die neue Nummer 1 der deutschen U18: „Zu welchem Verein in der Bundesliga würdest du denn gerne gehen?“ Vollborn antwortet ehrlich: „Mein Lieblingsverein war immer Borussia Mönchengladbach. Aber gehen würde ich gerne nach Leverkusen.“ Lußem stutzt. Aber der Berliner Abiturient mit Mathe-Leistungskurs, der da vor ihm sitzt, hatte sich längst schlau gemacht über die aktuellen Torhüter-Besetzungen der Bundesligisten. Und er rechnet sich in Leverkusen schlicht die größten Chancen auf einen Stammplatz zwischen den Pfosten aus. „Ich wusste: Hubert Makel war 38 und Fred Bockholt 36 Jahre alt“. Auch ein mathematisch weniger begabter Mensch als Vollborn wäre drauf gekommen, dass unterm Bayer-Kreuz eher früher als später eine neue Nummer 1 gefragt sein würde.

Dass der Klub kurz darauf Uwe Greiner als Nachfolger verpflichten würde, konnte Vollborn damals noch nicht wissen. „Außerdem, dachte ich, könnte ich ja dann eine Ausbildung bei der Bayer AG machen, was meinem Vater sehr wichtig war.“

Vollborn_imago03663225h.jpg
Mai 1981: Rüdiger Vollborn im Trikot der deutschen U18-Nationalmannschaft. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seinen Vertrag in Leverkusen schon unterschrieben.
Ein Herr Kallemund hat angerufenRüdiger Vollborn

Wie gut, dass Frank Lußem so einen engen Draht zu Reiner Calmund, dem damaligen Jugendleiter von Bayer 04 hat. Die beiden kennen sich aus gemeinsamen Zeiten in Frechen. „Ich rufe da mal jemanden an“, sagt der Kicker-Redakteur zum talentierten Torwart. 

Ende Februar 1981 kommt Rüdiger Vollborn eines abends spät nach Hause. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel von seiner Mutter: „Ein Herr Kallemund hat angerufen“, steht drauf. Vollborn macht in der Nacht kaum ein Auge zu. Am Morgen fragt er seine Mutter aufgeregt: „Was hat er denn gesagt, was hat er denn gesagt?“ Aber sie antwortet nur: „Ich habe nichts verstanden.“ Reiner Calmund wird wie immer viel erzählt haben, aber sein kölscher Singsang kam Mutter Vollborn wohl wie eine Fremdsprache vor.

Calmund ruft dann aber wenig später noch einmal an und lädt Vollborn zum Probetraining nach Leverkusen ein. Am 9. März steigt Rüdiger in den Flieger. „Calli“ holt ihn am Flughafen Köln-Bonn ab, seine Stimmung ist prächtig. Zwei Tage zuvor hatte Arne Larsen Ökland die Bayern im Alleingang 3:0 besiegt. Calmund bringt Vollborn ins Ramada-Hotel (heute Best Western), am Nachmittag haut Gerd Kentschke dem jungen Mann aus Berlin bei strömendem Regen die ersten Bälle aufs Tor. Dahinter sitzen Reiner Calmund und Heinz Heitmann, der Manager der Profis, im Auto und schauen zu. Am nächsten Morgen trainiert Vollborn mit Fred Bockholt, der damaligen Nummer 1 der Werkself, der aber tatsächlich nach der Saison aufhören würde. Nachmittags folgt das Mannschaftstraining. Vollborn findet sich dabei „überhaupt nicht dolle. Es war eher ziemlich furchtbar. Ich habe kein Land gesehen, es ging alles viel zu schnell“.

Er fliegt mit einem unguten Gefühl zurück nach Berlin. Immerhin: Calmund hatte ihm gesagt, dass man ihn noch einmal in einem Spiel sehen wolle. „Dann kommt in zwei Wochen, da spielen wir gegen Hertha 03 Zehlendorf, den Tabellenzweiten“, sagt Vollborn. Calmund und Fußball-Obmann Vollrath Höhne sind beim Berliner Spitzenspiel tatsächlich vor Ort. Aber was sie zu sehen bekommen, ist eine Slapstick-Nummer: Beim Warmmachen kriegt Vollborn den Ball voll auf die Zwölf, sinkt ohnmächtig zu Boden. Der Trainer bringt ihn mit Ohrfeigen wieder zu sich. „Rudi, Rudi, kannst du spielen?“, fragt er. „Ich muss, Leverkusen ist da“, sagt Vollborn noch etwas benommen. Also stellt er sich wieder zwischen die Pfosten, läuft irgendwann unter zwei Flanken her. Fehler, die zu zwei Gegentoren führen. Vollborn denkt: „Das war’s dann wohl mit Leverkusen“, geht bedröppelt nach Hause und sieht im Wohnzimmer seiner Eltern Calmund und Höhne sitzen. „Was machen Sie denn noch hier?“, fragt er die beiden. Calmund fragt zurück: „Wieso?“ - „Na ja“, sagt Vollborn, „ich würde mich nach diesem Spiel nicht mehr verpflichten.“ „Siehste, Jung“, entgegnet Calmund, dem die selbstkritische Art des Burschen gefällt, „genau deshalb will ich dich haben“.

Ein paar Tage später fliegt Vollborn wieder nach Leverkusen, unterschreibt seinen Vertrag in einem Büro im Ulrich-Haberland-Stadion. Im Juni wird er mit der deutschen U18 Europameister, nur vier Monate später mit der U20 sogar Weltmeister in Australien.

Vollborn_imago16107020h.jpg
Sein zweiter Titel 1981: Mit der deutschen U20 wird Vollborn Weltmeister in Australien. Zu seinen Teamkollegen zählt u.a. der heutige BVB-Sportdirektor Michael Zorc (hintere Reihe, 3.v.r.).

Vollborn spielt in seinem ersten Leverkusener Jahr in der Amateur-Mannschaft. In der Saison 1982/83 zieht Trainer Dettmar Cramer den 19-jährigen Vollborn, der nebenbei eine Ausbildung zum Wirtschaftsassistenten bei der Bayer AG beginnt, nach oben zu den Profis als zweiten Mann hinter Uwe Greiner. Bayer 04 spielt eine schwache Saison, steht zur Winterpause auf dem letzten Platz, wird am Ende Elfter. Der Vertrag mit Uwe Greiner wird nicht verlängert, der 20-jährige Rüdiger Vollborn ist ab der Saison 83/84 die neue Nummer 1 unterm Bayer-Kreuz. Andreas Nagel, 18, die Nummer 2. „Wir hatten beide null Bundesligaspiele, null Profi-Erfahrung. Aber trotzdem ging der Klub mit uns beiden Jungspunden in die Saison - das würde heute auch kein Verein mehr machen.“

Und dann geht es am ersten Spieltag auch gleich zum Rekordmeister nach München. Vollborn hüpft bei der ersten Platzbegehung, aufgeregt wie ein Schuljunge vor der ersten Klassenfahrt, irgendwie komisch über den Rasen im Olympiastadion. Jürgen Gelsdorf, der alte Hase, wirft ihm einen skeptischen Blick zu: „Was iss’n mit dir?“, fragt er. „Mann, ich freu mich einfach, ich hab richtig Bock drauf, hier zu spielen“, antwortet der Youngster. Heute muss Vollborn schmunzeln, wenn er an das verdutzte Gesicht von „Gelle“ zurückdenkt. „Aber ich dachte damals auf dem Rasen wirklich, hey, ist das geil, das hast du früher nur im Fernsehen gesehen. Und jetzt bist du selber Teil davon. Ich wollte nie Bundesliga-Torwart werden, um damit Geld zu verdienen. Ich wollte in der Sportschau zu sehen sein. Das war mein Ansporn.“

Sein Debüt geht 1:2 verloren, Vollborn macht in dieser Saison alle 34 Spiele, darunter ein großer 2:0-Sieg gegen den amtierenden Meister und Europapokalsieger Hamburger SV, bei dem der junge Keeper überragend hält. Mit den ominösen „Bananen-Flanken“ von Manni Kaltz hat er überhaupt keine Probleme, reihenweise fischt er Horst Hrubesch die Bälle vom Kopf. Bayer 04 landet am Ende auf Rang 7, seiner bis dato besten Bundesliga-Platzierung.

crop_Vollborn_imago16329016h.jpg
In der Saison 1982/83 zieht Bayer 04-Trainer Dettmar Cramer den 19-jährigen Rüdiger Vollborn in den Profikader hoch. Auch Herbert Waas (ganz rechts unten) ist neu im Team.

Aber der Torhüter hat einen schweren Stand. Seine Trainingsleistungen sind gut. Doch er spürt nicht immer die volle Rückendeckung innerhalb der Mannschaft. Dettmar Cramer führt viele Gespräche mit ihm. Vom kleinen Mann mit dem großen Trainer-Namen ist Vollborn angetan.„Man hatte bei ihm das Gefühl, dass er Bayer 04 in vielerlei Hinsicht professioneller macht“. Nur: Der sportliche Erfolg bleibt bescheiden.

Vollborns zweite Saison läuft nicht gut, weder für die Mannschaft, noch für ihn. Nach einer 1:3-Niederlage beim 1. FC Köln, bei der er schlecht aussieht, bekommt er nächtliche Anrufe: „Verpiss dich! Geh wieder zurück nach Berlin!“ Vollborn fühlt sich ungeliebt: „Die Leute mochten mich einfach nicht, weil ich unter Flanken herlief.“ Er spielt tatsächlich mit dem Gedanken, wieder zurück zu Blau-Weiß 90 Berlin zu gehen. Sein Vertrag in Leverkusen läuft ohnehin am Ende der Saison 84/85 aus. Wenige Spieltage vor Schluss einer ziemlich verkorksten Saison ruft ihn Erich Ribbeck an, der für die kommende Saison schon als Nachfolger von Cramer feststeht. „Ich baue auf dich“, sagt Ribbeck, „du musst bleiben“. Vollborn lässt sich überreden und unterschreibt einen Vertrag für weitere zwei Jahre zu verringerten Bezügen.

Der neue Coach will zwar keine neuen Spieler, aber er baut die Mannschaft komplett um. Er macht aus dem Mittelstürmer Christian Schreier einen defensiven Mittelfeldspieler, aus dem defensiven Mittelfeldspieler Thomas Hörster einen Libero, aus den Mittelstürmern Thomas Zechel und Falko Götz einen rechten Verteidiger bzw. einen offensiven Mittelfeldspieler. „Diese Veränderungen taten uns gut“, sagt Vollborn, dem Ribbeck einen Besuch bei der Psychotherapeutin Birgit Jackschath nahelegt, eine ehemalige Basketballerin des TuS 04, die einige Jahre später mit Dettmar Cramer das Buch „Fußballpsychologie“ schreiben sollte. Vollborn fährt regelmäßig zu ihr, lernt durch autogenes Training, sich auf dem Platz in eine ruhigere, gelassenere Stimmung zu bringen. „Ich hatte einfach immer eine zu extreme Anspannung vor den Spielen, war viel zu nervös“, sagt Vollborn.

Mit der Therapeutin geht er auch gezielt seine Schwächen an, vor allem seine Strafraum-Phobie. Er will mutiger werden, sich trotz seiner fußballerischen Defizite auch mal außerhalb des 16-Meter-Raumes trauen. So wie beim Derby in Köln im Januar 1986. Da antizipiert er, wie Klaus Allofs noch aus der Kölner Hälfte heraus einen Pass schlagen will. Er sieht Uwe Bein in den freien Raum starten, also nimmt er sich ein Herz und rennt selber los in Richtung Strafraumgrenze, bevor der Ball überhaupt gespielt ist. Kommt der 16-Meter-Linie immer näher. Denkt: „Kacke, ich muss ja raus aus dem Strafraum!“ Macht noch einen kleinen Schritt, aber der Ball springt vor ihm auf und über ihn hinweg ins Tor. Er sieht ganz alt aus in dieser Szene, hechtet dem Ball noch hinterher, kriegt ihn erst hinter der Torlinie zu fassen. „Dabei hätte ich einfach im Sechzehner stehen bleiben müssen und so die Kugel ganz einfach fangen können.“ Aber er wollte ja mutig sein und eine Situation auch mal außerhalb des Strafraums klären. Die Partie zählt dennoch zu seinen Lieblingsspielen, weil Bayer 04 trotz eines 0:2-Rückstandes noch 3:2 gewann und damit den ersten Bundesllga-Derbysieg in Köln einfuhr.

Vollborn_imago13847060h.jpg
Die Fans wussten jetzt, wie ich ticke und ich wusste, wie sie tickenRüdiger Vollborn

Unter Ribbeck qualifiziert sich der Klub in dieser Spielzeit erstmals für den UEFA-Cup, den er schon zwei Jahre später, 1988, sogar gewinnt. Natürlich ist das für Vollborn der größte Triumph als Spieler - mit ihm als Hauptdarsteller im Elfmeterschießen, das er sich so oft herbeigewünscht, von dem er so oft geträumt und auf das er sich mit Birgit Jackschath vorbereitet hatte, die er immer noch regelmäßig aufsucht. Sein Verhältnis zu den Fans ist spätestens seit dem Halbfinal-Rückspiel im UEFA-Cup bei Werder Bremen hervorragend. 3.000 Fans unterstützen Bayer 04 beim 0:0 im Weserstadion, nach dem Schlusspfiff rennt Vollborn sofort in die Fankurve, um mit den Anhängern den Finaleinzug zu feiern – das Eis ist endgültig gebrochen. „Für mich war dieses Spiel der Wendepunkt in dieser Beziehung: Die Fans wussten jetzt, wie ich ticke und ich wusste, wie sie ticken.“

Fünf Jahre später folgt der Titel im DFB-Pokal. Vollborn ist der einzige Bayer 04-Profi, der die beiden größten Erfolge der Vereinsgeschichte miterlebt. Er ist jetzt 30 und längst ein arrivierter Bundesliga-Torhüter. Stark auf der Linie, extrem fangsicher, jetzt auch ordentlich in der Strafraumbeherrschung. 1992 wird er auch noch mal fürs DFB-Team nominiert, als dritter Torhüter steht er zwar im EM-Kader, fährt aber nicht mit nach Schweden, weil damals nur zwei Keeper bei EM-Turnieren dabei sein dürfen. „Ich habe noch nicht einmal die Tasche mit dem DFB- und EM-Logo bekommen“, sagt er und schmunzelt.

Ruediger_Vollborn_Barcelona_1988.jpg

Aber eine andere Sache bereitet ihm viel größere Kopfschmerzen: Die 1992 von der FIFA eingeführte Rückpassregel, nach der der Torwart einen mit dem Fuß zurückgespielten Pass eines Mitspielers nicht mehr mit der Hand aufnehmen darf. Diese Regel ist für seine Karriere der schleichende Anfang vom Ende, das spürt er deutlich. Er ist nun mal - wie die meisten Keeper seiner Generation - ein Torhüter der alten Schule, er möchte Bälle halten, Tore verhindern. Er will nicht mitkicken, nicht erster Aufbauspieler sein. Und wie der Zufall oder das Schicksal es will, ist es Erich Ribbeck, der ihn 1995 zur Nummer 2 degradiert und Dirk Heinen zur Nummer 1 macht. Zwölf Jahre lang war er die unangefochtene Nummer 1 der Werkself, 397 Bundesligaspiele hatte er bis dahin absolviert. Jetzt spielt er nur noch die zweite Geige. Und trotzdem soll die schönste Saison seiner Karriere noch kommen.

Die komplette Spielzeit 1995/96 verfolgt Rüdiger Vollborn als Nummer 2 von der Bank aus. Wie alle anderen, denen Bayer 04 etwas bedeutet, zittert er im letzten Spiel gegen Kaiserslautern um den Klassenerhalt. Als der durch den legendären Treffer von Markus Münch zum 1:1 gesichert ist, beginnt in Leverkusen eine neue Zeitrechnung. Der Umbau des Ulrich-Haberland-Stadions zum viel zitierten Schmuckkästchen kann fortgesetzt werden. Viel wichtiger aber ist: Christoph Daum kommt. „Er hat uns, den schlafenden Riesen, der wir - ohne es zu wissen - waren, wachgerüttelt“, sagt Vollborn.

Daum formt aus dieser Truppe eine verschworene Gemeinschaft. Der neue Coach packt das Team mit seinen Methoden, seiner besonderen Ansprache. „Er verlangte immer Vollgas, immer volle Pulle, erklärte uns seine Fußball-Philosophie wie einst Dettmar Cramer“, erzählt Vollborn. Und Daum weiß, dass Vollborn für ihn ein wichtiger Spieler sein wird. Die Nummer 2 hat nichts von ihrem Ehrgeiz verloren, trainiert wie eh und je besessen und ist als dienstältester Profi und jemand, der weiß, wie man Titel gewinnt, von großem Wert für ihn.

crop_Vollborn_imago00086469h.jpg
Rüdiger Vollborn sitzt zwar fast nur noch auf der Bank, aber er bleibt extrem wichtig für das Team.

Die Saison beginnt zwar mit einer Pokal-Niederlage in Bremen, aber schon beim 4:6 nach Elfmeterschießen zeigt Bayer 04 eine starke Leistung. Zum Bundesliga-Auftakt begeistert das Team beim 4:2 gegen den amtierenden Meister Borussia Dortmund, Am Saisonende ist Bayer 04 erstmals Vizemeister, mit nur zwei Punkten Rückstand auf die Bayern. Holt die meisten Siege (21), schießt die zweitmeisten Tore (68) und begeistert seine Fans. Vollborn selbst kommt in dieser ersten Daum-Saison nur einmal zum Einsatz: Am letzten Spieltag beim 2:0-Sieg gegen den VfL Bochum, bei dem es um nichts mehr geht. Es spricht für seine Uneitelkeit, dass er, der Rekordspieler von Bayer 04, der als einziger Profi beide Vereinstitel gewonnen hat, diese Spielzeit 1996/97, in der er nur einmal für 90 Minuten zwischen die Pfosten darf, als seine insgesamt schönste in Leverkusen bezeichnet.

Es folgen in den weiteren Jahren die erste Champions-League-Teilnahme und zwei weitere Vize-Meisterschaften. 1997/98 hütet Vollborn zweimal das Bayer 04-Tor: Beim 6:1-Heimsieg gegen Stuttgart kurz vor Weihnachten und schließlich noch einmal beim Spiel gegen Hertha BSC, dem Klub aus seiner Heimatstadt, am 33. Spieltag. Es ist Vollborns großes Jubiläum: sein 400. Bundesliga-Einsatz mit dem Kreuz auf der Brust. Der 35-jährige Keeper wird an diesem 2. Mai 1998 von den Fans gefeiert. Und gut ein Jahr später erlebt Vollborn den nächsten Gänsehaut-Moment. Im letzten Saisonspiel gegen den bereits feststehenden Meister Bayern München schließt sich ein Kreis. Sein erstes Bundesligaspiel hatte Vollborn 1983 im Olympiastadion absolviert. Jetzt, 16 Jahre später, darf er ein letztes Mal in den Kasten. Wieder gegen die Bayern. Wieder geht es 1:2 verloren. Aber Vollborn genießt die letzten zehn Minuten, als er für Adam Matysek eingewechselt wird, in vollen Zügen. Die Fans in der BayArena verabschieden ihn mit Ovationen. Sein 401. Bundesliga-Einsatz wird sein letzter bleiben. In der kommenden Saison fungiert Vollborn hinter Matysek, Frank Juric und Dirk Heinen noch als Stand-by-Torhüter. Einige Male sitzt er noch auf der Bank, aber zum Einsatz kommt er nicht mehr.

crop_1999-05-29.jpg
Ein bewegender Abschied: Nach seinem 401. Bundesliga-Einsatz für Bayer 04 feiern die Fans Rüdiger Vollborn noch ein letztes Mal.

Schon 1999 beginnt Vollborn mit seiner zweiten Karriere bei Bayer 04. Er wird Co-Trainer unter Peter Hermann bei den Amateuren. Aber eigentlich kümmert er sich hauptsächlich um die Torhüter. Zunächst vor allem um Romuald Peiser und Maurice Gillen. Schnell aber auch um die Junioren-Keeper von der U19 bis runter zur U15. „Ich war plötzlich auch Jugend-Torwarttrainer und bin da in eine Rolle hineingerutscht, die ich ursprünglich gar nicht ausfüllen wollte“, erinnert sich Vollborn. Auch beim DFB ist er als Coach des Torhüter-Nachwuchses aktiv, entdeckt dort den damals 14-jährigen Leipziger René Adler, den Bayer 04 zur Saison 2000/01 verpflichtet und der die ersten vier Jahre bei den Vollborns wohnen wird. Rüdiger selbst löst 2003 Toni Schumacher als Torwarttrainer der Profis ab. Adler wird schließlich 2007 die neue Nummer 1 bei Bayer 04 und schon wenig später von Joachim Löw in die deutsche Nationalmannschaft berufen.

Vollborn_imago13257201h.jpg

Für Vollborn endet nach der Saison 2011/12 seine zweite Karriere bei Bayer 04 als Torwarttrainer. Und sein dritter Lebensabschnitt im Klub beginnt: Er wird Fanbeauftragter. Er, der sich einst ungeliebt fühlte von der eigenen Anhängerschaft, kümmert sich nun – Ironie des Schicksals – um Fanbelange. Wobei: Der eigentliche Schwerpunkt seiner Arbeit liegt schon recht bald in der historischen Aufarbeitung der Vereinsgeschichte. Als Bayer 04-Geschäftsführer Michael Schade aus dem ehemaligen VIP-VINII-Weinlokal im Osten der BayArena die Schwadbud gestalten lässt, die nicht nur Fan-Treffpunkt vor den Spielen sein soll, sondern auch als eine Art Vereins-Museum konzipiert ist, wird Vollborn als Klub-Legende, Rekordspieler und historisches Gedächtnis von Bayer 04 hinzugezogen. Wer weiß denn besser, was es auszustellen gibt, was zeigenswert ist, als er, der seit 1981 alles miterlebt hat, der als einziger beide Vereinstitel gewonnen hat!

Und er stürzt sich auch in diese neue Aufgabe mit einer Leidenschaft und Akribie, die ihn schon als Profi und Torwarttrainer ausgezeichnet haben. Er vertieft sich in das, was sein Vorgänger als Vereins-Archivar, Werner Röhrig, schon fleißig gesammelt hatte. Er studiert das, was Walter Scharf bereits über die Anfänge der Klubgeschichte festgehalten hatte. Und er verbringt Stunde um Stunde im Leverkusener Stadt-Archiv, sichtet dort alles, was mit Bayer 04 zu tun hat.

Vollborn_20191113_68715.jpg

Seine Beziehung zu Bayer 04 sei durch die intensive Beschäftigung mit der Vereinsgeschichte noch inniger geworden, sagt Vollborn. Längst lässt er sein Wissen nicht mehr nur in die Gestaltung der Schwadbud oder die der Umgriffebene in der BayArena einfließen, auf deren Wänden seit einigen Jahren die Konterfeis von Klub-Helden in Street-Art-Manier zu sehen sind. Vollborn ist inzwischen von einem Sendungsbewusstsein erfüllt, er will die Bayer 04-Geschichte weitertragen, lebendig halten - und er tut dies im Rahmen seiner stark nachgefragten Legenden-BayArena-Touren, bei denen er höchst persönlich interessierte Fans durchs Stadion führt. Oder bei anderthalbstündigen Vorträgen über die Klubgeschichte in der Schwadbud,  denen auch Fernando Carro, Vorsitzender der Geschäftsführung, gerne zuhört. Oder bei Stadtrundfahrten mit dem Schwadbus zu Stätten der Vereinshistorie wie dem ersten Spielort, dem alten Dhünnplatz, der längst nicht mehr existiert. Darüber hinaus ist Vollborn regelmäßiger Gast beim W11-Fantalk nach den Heimspielen und gefragter Gesprächspartner auch beim Werks11-Radio.

Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass es niemanden in der großen Bayer 04-Familie gibt, der - aus eigenem unmittelbaren Erleben gleichermaßen wie aus vertiefender Recherche - über ein so umfassendes Wissen über den Klub verfügt, wie Rüdiger Vollborn. Er könne, wenn er wolle, eine lückenlose Spielhistorie inklusive aller Aufstellungen und Torschützen von sämtlichen Bayer 04-Pflichtspielen seit 1950 zu Papier bringen. Das sagt er wie nebenbei. Aber man glaubt’s ihm sofort.

Über die Herzensangelegenheit Bayer 04 spricht Rüdiger Vollborn übrigens auch im großen gemeinsamen Interview mit seinem Ehrenspielführer-Kollegen Stefan Kießling.

Ruediger_Vollborn.jpg

Zur Person:

Geburtsdatum und -ort:
12. Februar 1963 in Berlin

Vereine:
Traber FC Mariendorf, Blau-Weiß 90 Berlin, Bayer 04

Bundesligaspiele:
401 

Erfolge:
UEFA-Cup-Sieger mit Bayer 04 1988, DFB-Pokalsieger mit Bayer 04 1993, U20-Weltmeister und U18-Europameister mit Deutschland 1981