Es gibt so manches Kuriosum in der Karriere von Jörg Butt. Ja, da ist zum einen die Sache mit den Elfmetern. Als Torhüter traf er in seinen 613 Pflichtspielen für fünf Vereine insgesamt 37-mal vom Punkt aus. Der gebürtige Oldenburger ist damit der Torschützenkönig unter den Bundesliga-Torhütern. Als einzigem Keeper in Deutschlands höchster Spielklasse gelangen ihm überdies zwei Doppelpacks per Elfmeter, beide 1999 und beide auch noch gegen denselben Gegner (VfB Stuttgart) und denselben Torhüter (Franz Wohlfahrt). Da spielte Butt noch für den Hamburger SV.
Noch etwas Einzigartiges: Kein anderer Spieler in der Bundesliga holte zweimal das Vize-Triple, Butt schaffte die drei zweiten Plätze in Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League bekanntlich in der Saison 2001/02 mit Bayer 04 und genau zehn Jahre später eben noch einmal mit dem FC Bayern München. Insgesamt stand der heute 47-Jährige dreimal in einem Champions-League-Finale (einmal mit Bayer 04, zweimal mit den Bayern) – und verlor alle drei. 2012 hütete allerdings schon Manuel Neuer das Tor der Münchner, Butt saß beim 3:4 im Elfmeterschießen gegen den FC Chelsea auf der Bank. Natürlich gewann der ehemalige Nationaltorhüter aber auch Titel mit den Bayern, holte mit ihnen 2010 das Double – und wurde zudem im selben Jahr WM-Dritter mit Deutschland in Südafrika.
Last but not least: Jörg Butt schoss in der Champions League für drei Klubs (Hamburger SV, Bayer 04 und FC Bayern München) jeweils ein Tor per Elfmeter, alle drei aber gegen denselben Gegner: Juventus Turin. Womit wir beim Thema wären.
Jörg, vor der Partie gegen Juventus Turin in der BayArena hatten euch nur wenige Experten noch Chancen aufs Viertelfinale ausgerechnet. Wie hast du damals die Situation empfunden?
Butt: Ich kann mich auch heute noch sehr gut an das 0:4 aus dem Spiel in Turin erinnern. Wir mussten nach der zweimaligen Absage wegen Nebels am Donnerstagnachmittag vor einer Geisterkulisse spielen. Es waren alles in allem chaotische Umstände. Die Zwischenrunde lief für uns bis zum Rückspiel gegen Juve aber auch insgesamt nicht wirklich gut. Wir hatten bereits in London beim FC Arsenal 1:4 verloren. Also musste jetzt im Rückspiel gegen Turin auf jeden Fall ein Sieg her, um noch eine Chance aufs Weiterkommen zu haben. Der Druck war schon enorm.
Waren eure abenteuerlichen Erlebnisse in Turin, die du gerade angesprochen hast, eine zusätzliche Motivation, es dem Favoriten jetzt zu zeigen?
Butt: Ja, mit Sicherheit. Das 0:4 in Turin entsprach nicht unserem Leistungspotenzial. Wir sind nach der zweiten Absage irgendwann nachts um 1 oder 2 Uhr nach langer Busfahrt in unserem Hotel angekommen, das wir ja ursprünglich gar nicht gebucht hatten, weil wir nach dem Spiel zurückfliegen wollten. Ich zum Beispiel habe in der Nacht überhaupt nicht mehr schlafen können. Die Bedingungen waren katastrophal. Natürlich wollten wir gegen Juve auch deshalb unbedingt gewinnen.
Ihr musstet – wie Turin auch – einige Ausfälle verkraften. Wie groß war dein Vertrauen in euren „zweiten Anzug“?
Butt: Ich habe mir nie groß Gedanken gemacht, wenn mal Stammkräfte ausgefallen sind. Es standen ja trotzdem noch viele gute Spieler zur Verfügung. Dimitar Berbatov war für mich damals schon ein unfassbar guter Stürmer. Klar, er hatte in Leverkusen zu der Zeit noch mit der Bayer 04-Legende Ulf Kirsten und mit Oli Neuville zwei bärenstarke, erfahrene Stürmer vor sich. Leistungsmäßig war er sicherlich nicht schlechter. Auch Thomas Brdaric hatte mein volles Vertrauen. Und außerdem: Es war ein Heimspiel, zu Hause in der BayArena konnten wir jede Mannschaft an die Wand spielen. Wir hatten damals ein unglaubliches Selbstvertrauen. Mit diesem Bewusstsein sind wir auch in das Spiel gegen Juventus gegangen.
In der 24. Minute hörte man von den Rängen die „Butt-Butt-Butt-Rufe“ – es gab Elfmeter, dein Auftritt. Butt gegen Buffon. Die Torhüter-Legende hatte Juventus in dieser Saison für eine Rekord-Ablösesumme verpflichtet. Wie hast du ihn gesehen?
Butt: Er war noch nicht Weltmeister, aber er hatte schon beim AC Parma überragend gehalten und war zu der Zeit zu Recht der teuerste Torwart der Welt. Aber in der Situation, und das ist mir meistens gelungen, konnte ich solche Dinge ausblenden. Auf dem Platz war ich im Tunnel. Und gerade beim Elfmeter besteht die Herausforderung darin, alles auszublenden, sich auf seinen Schuss zu konzentrieren. Was meine Meinung zu Buffon betrifft: Ich schätze ihn sehr, er ist ein toller, fairer Sportsmann. Wir sind uns öfter auf dem Platz begegnet. Nach unserem 4:1-Sieg bei Juve mit Bayern München in der Saison 2009/10, bei dem ich ihn zum zweiten Mal nach 2002 mit einem Elfmeter überwand, haben wir die Trikots getauscht und ein paar Worte gewechselt. Er ist ein unglaublich sympathischer Mensch und Sportler, der eine fantastische Karriere hingelegt hat.
Zurück zum Spiel in Leverkusen und zur 24. Minute: Buffon flog nach rechts, du verwandeltest ins linke Eck. Hattest du dir ihn ausgeguckt, oder stand die Ecke vorher fest?
Butt: Ich habe immer versucht, den Torwart auszugucken. Ich wusste vorher nicht, wohin ich schießen würde. Das Ausgucken hatte ich mir antrainiert und von daher ein großes Vertrauen in mich selbst und eine gewisse Sicherheit. Ich konnte mich in solchen Situationen sehr gut fokussieren.
Ihr habt sofort ordentlich Druck gemacht und das Starensemble aus Turin klar dominiert.
Butt: Ja, und es herrschte von Anfang an eine unglaubliche Stimmung in der BayArena. Das Stadion war zwar noch kleiner als heute, aber wir hatten hier eine sehr spezielle Atmosphäre. Die Fans waren sehr dicht dran am Spielfeld. Und das war damals längst noch nicht überall so. Durch den überragenden Fußball, den wir damals gespielt haben, entstand immer schnell ein Wechselspiel zwischen Fans und Mannschaft, das uns getragen hat. Wir waren als Team ein eingeschworener Haufen. Und von diesem stabilen Mannschaftsgefüge wurden eben auch Spieler getragen, die nicht so oft zum Einsatz kamen. Wie an diesem Abend zum Beispiel Jurica Vranjes, der schon früh für Jenne (Jens Nowotny, d. Red.) einspringen musste, oder Thomas Brdaric und Marko Babic. Die Jungs wurden einfach mitgezogen. Wir haben das Spiel am Ende hoch verdient gewonnen.
Du kanntest Juventus bereits aus dem Vorjahr sehr gut, weil du 2000/01 auch mit dem Hamburger SV zweimal in der Champions League gegen sie gespielt hast – und unbesiegt geblieben bist…
Butt: Richtig, und da war Juve vielleicht sogar noch besser besetzt mit Zinedine Zidane und Filippo Inzaghi. Wir waren damals mit dem HSV eine sehr unerfahrene Mannschaft, aber wir hatten einen super Teamgeist, eine enorme Geschlossenheit. Das 4:4 in Hamburg – meine Güte, keiner hatte uns überhaupt irgendwelche Chancen eingeräumt. Und dann wurde es ein richtig wildes Spiel, in dem wir schon 1:3 zurücklagen.
Mehdi Mahdavikia machte das 2:3, du erzieltest ein paar Minuten später per Elfmeter das 3:3. Damals stand noch Edwin van der Saar im Turiner Tor.
Butt: Ja, und als Niko Kovac sogar das 4:3 machte, hatten wir das Spiel gedreht. Leider bekamen wir kurz vor Schluss noch einen blöden Elfmeter, den Inzaghi zum 4:4 verwandelte. Und bei unserem 3:1-Sieg in Turin profitierten wir natürlich von den frühen Platzverweisen für Zidane und Edgar Davids. Dann spielten wir gegen neun Mann. Das machte die Sache für uns doch um einiges leichter.
Zinedine Zidane hast du mit Bayer 04 dann im Champions-League-Finale 2002 erneut getroffen, diesmal trug er das Trikot von Real Madrid. Lass uns doch kurz über Glasgow reden. Wie hast du das Endspiel in Erinnerung?
Butt: Ich glaube, in diesem Finale spielten unsere Ausfälle dann doch eine größere Rolle. Uns fehlte hinten ganz besonders Jens Nowotny, der sich im Halbfinale gegen Manchester United das Kreuzband gerissen hatte. Und Jens war zusammen mit Lucio in der Innenverteidigung einfach bärenstark. Lucio hatte etwas Ungestümes und eine unglaubliche Willenskraft, und Jens war die ordnende Hand in diesem Duo. Beide haben durch ihre Art perfekt harmoniert. Dann fehlte auch noch Ze Roberto. Ze hat in dieser Saison unfassbar gut gespielt. Wir kriegten dann früh ein Gegentor nach einem langen Einwurf von Roberto Carlos, wo ich ein bisschen darauf spekulierte, rauszulaufen. Was ich dann auch tat, Raul kam vor mir an den Ball und schob ihn an mir vorbei. Danach spielten wir überragend, schafften den Ausgleich durch Lucio. Und dann kam dieser Wahnsinns-Treffer von Zidane kurz vor der Pause. Wir haben in der zweiten Halbzeit fast auf ein Tor gespielt, Real hatte vielleicht ein, zwei Kontermöglichkeiten. 22 Minuten vor Schluss kam Iker Casillas für den verletzten Cesar Sanchez ins Tor und machte wahrscheinlich das Spiel seines Lebens. Er hat einfach alles gehalten. Wir schafften es nicht, ihn zu überwinden.
Hat dich geärgert, dass manche meinten, der Schuss von Zidane sei nicht unhaltbar gewesen?
Butt: Nein. Den Ball haut er aus rund 14 Metern volley fast in den Winkel rein. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mich dahingestellt. Das erste Gegentor war ärgerlicher. Es war eine Situation, in der ich wusste, was passiert. Dass da ein langer Einwurf kommen würde, dann entwischte Raul Lucio, ich kam raus, aber eben nicht mehr an den Ball und wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Das sind Situationen, in denen Millisekunden entscheiden.
Welche deiner drei Champions-League-Final-Niederlagen hat am meisten wehgetan?
Butt: In dem Moment, wo du in so einem Finale stehst, willst du das Spiel und den Titel auch gewinnen. Wenn du verlierst, ist die Enttäuschung riesengroß. Und sicher noch einmal größer, wenn man selbst auf dem Platz gestanden hat. Aber auch die Niederlage mit den Bayern gegen Chelsea 2012 war extrem hart, weil man das mit einem anderen Bewusstsein wahrnimmt. Wenn du selbst spielst, kriegst du das ganze Drumherum kaum mit. Das Finale gegen Chelsea war mein letztes Spiel, ich saß zwar nur auf der Bank, habe aber die Enttäuschung der Fans und des ganzen Umfeldes intensiver erlebt. Und was das 1:2 gegen Real Madrid mit Bayer 04 betrifft: Wenn ich mir heute noch einmal den Weg anschaue, der uns in dieses Finale geführt hat, mir in Erinnerung rufe, gegen welche überragenden Mannschaften wir uns bis Glasgow durchsetzen konnten, dann schmerzt diese Final-Niederlage in der Rückschau doch etwas weniger. Ich stand damals auch noch im WM-Kader der deutschen Nationalelf und wurde in Japan/Südkorea Vize-Weltmeister. Es gibt nur wenige Spieler, die innerhalb einer Saison in allen Wettbewerben bis ins Finale kommen. Als ich 2012 bei den Bayern meine Karriere beendete, war ich im Rückblick dankbar und auch stolz darauf, dass ich über so viele Jahre auf einem international sehr hohen Niveau spielen konnte.
Du bist seit 2013 im familieneigenen Unternehmen tätig. Was genau ist deine Aufgabe?
Butt: Das Unternehmen hat mein Vater aufgebaut. Unsere Zentrale steht in Großenkneten. Wir stellen Verladesysteme her, also zum Beispiel mobile Verladerampen, Verladeplattformen und auch Industrietore. Inzwischen ist mein Bruder Henning Geschäftsführer und ich kümmere mich in unserem Vertriebsbüro Süd in der Nähe von München um Vertrieb und Marketing für Süddeutschland, Österreich und die Schweiz.
Hältst du noch Kontakt nach Leverkusen?
Butt: Ich habe noch einen guten Draht zu Jens Nowotny und Calle Ramelow, verfolge auch aus der Ferne mit Interesse den Weg des Vereins. Auch mit Simon Rolfes habe ich mich immer gut verstanden, ich finde, er macht als Sportdirektor einen richtig guten Job in Leverkusen. Auch wenn ich allein durch die räumliche Nähe noch etwas enger mit dem FC Bayern verbunden bin, wäre es für die Bundesliga sicher gut, wenn Klubs wie Bayer 04 an der Spitze wieder für mehr Spannung sorgen könnten. Ehrlich gesagt: Ich freue mich über jeden Titel der Bayern, aber ich würde auch Leverkusen die Meisterschale von Herzen gönnen.
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