#RoadtoGlasgow – Ballack: „Meine wichtigste, vielleicht sogar beste Saison“

Er war der große Leader. Er war Antreiber, Kämpfer und eleganter Techniker in einer Person. Und einer der torgefährlichsten, kopfballstärksten Mittelfeldspieler weltweit. Michael Ballack entwickelte sich in der Saison 2001/02 unterm Bayer-Kreuz zu einem Weltstar. Wir sprachen mit dem ehemaligen Werkself-Profi, der in seinen insgesamt fünf Leverkusener Jahren 155 Pflichtspiele (42 Tore) für Bayer 04 bestritt, über die packenden Halbfinalspiele in der Champions League gegen Manchester United, über Schmerzgrenzen, authentische Trainer und das Finale gegen Real.
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Michael, nach dem fulminanten 4:2 gegen den FC Liverpool habt ihr auch im Hinspiel bei Manchester United, dem nächsten englischen Topklub, eine großartige Leistung gezeigt. Was ist dir in Erinnerung geblieben von diesem 2:2 im „Theater der Träume“?

Ballack: Schon die Atmosphäre beim Einlaufen war atemberaubend. Ich hatte Gänsehaut, als ich diese Wahnsinns-Kulisse sah und hörte. Wir standen ja alle zum ersten Mal in einem Halbfinale der Champions League, waren krasser Außenseiter. Vielleicht hat sich Manchester auch deshalb schon aufs Finale gefreut. Die Stimmung im Old Trafford hat uns jedenfalls einen besonderen Kick gegeben. Wir machten dann wirklich ein überragendes Spiel und hätten dort sogar gewinnen müssen, weil wir vor allem in der zweiten Halbzeit viel Ballkontrolle hatten und uns jede Menge Torchancen kreieren konnten.

Dein Tor zum 1:1 nach Flanke von Bernd Schneider war technisch sehr anspruchsvoll…

Ballack: Ja, das stimmt, ich kann mich gut an diese Szene erinnern. Wir sind ins Pressing gegangen, eroberten den Ball, dann gab’s einen Seitenwechsel auf Bernd (Bernd Schneider, A.d.R.). Und der hatte natürlich wie immer den Kopf oben, flankte nicht einfach irgendwie in die Mitte, sondern legte den Ball in den Rückraum zwischen letzter Verteidigungslinie und Sechzehner. Ich kam von hinten angelaufen. Und, ja, das war tatsächlich ein schwieriger Ball. Die Flanke war zwar scharf, aber auch irgendwie holprig. Es ging darum, den Ball gut zu treffen. Ich musste nicht viel Druck draufgeben, aber der Ball setzte vor meinem Kontakt noch mal auf. Dann traf ich ihn aber ziemlich gut mit der linken Innenseite und gegen die Laufrichtung von Barthez.

Es war ein offener Schlagabtausch. Manchester ging danach erneut in Führung, Oliver Neuville glich zum 2:2 aus. Nach dem Abpfiff gab’s viel Applaus von den Rängen auch für euch.

Ballack: Ich habe das später in England immer wieder erlebt: Dort werden gute Leistungen vom Gegner einfach honoriert. Wir kannten das damals aus Deutschland gar nicht, deshalb hat mich das im Old Trafford sehr beeindruckt.

Manchester war ja mehr noch als Liverpool eine Ansammlung von Superstars. Barthez, Blanc, Scholes, Keane, Veron, van Nistelrooy, Giggs, Beckham (der verletzt war) und so weiter: Wer waren für dich persönlich die zentralen Figuren in der „vielleicht besten Vereinsmannschaft der Welt“, wie Klaus Toppmöller sagte?

Ballack: Paul Scholes war für mich der große Lenker und Stratege im Mittelfeld und in dieser Hinsicht fast ein bisschen untypisch für einen englischen Fußballer. Auch Ryan Giggs war ein absoluter Ausnahmespieler, der immer zwei, drei Schritte voraus dachte und was Tempo und Technik betraf einfach überragte. Und natürlich Roy Keane, der in Manchester erst spät eingewechselt wurde, weil er noch nicht ganz fit war. Aber im Rückspiel in Leverkusen hat man gemerkt, warum Keane mit seiner Zweikampfhärte, seiner Ausstrahlung und Führungskraft eine ganze Ära geprägt hat.   

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Es waren turbulente Wochen damals im April und Mai 2002. Vor dem 2:2 in Manchester hattet ihr in der Bundesliga zu Hause 1:2 gegen Werder Bremen verloren, nach dem Punktgewinn im Old Trafford folgte die 0:1-Niederlage in Nürnberg, womit einen Spieltag vor Saisonschluss Borussia Dortmund die Tabellenführung übernahm. In Europa sorgtet ihr für Furore, in der Liga wart ihr dabei, den sicher geglaubten Titel zu verspielen. Wie hast du damals diese Diskrepanz empfunden?

Ballack: Ich denke, wir hatten einfach nicht den Kader, um in allen drei Wettbewerben inklusive DFB-Pokal das hohe Niveau bis zum Schluss halten zu können. Wir wollten natürlich alles gewinnen, konnten aber nicht so viel rotieren, wie es nötig gewesen wäre. Und in einer langen Saison mit vielen Spielen mussten wir dieser Situation dann auch Tribut zollen. Wir haben nicht auf den einen Wettbewerb mehr Wert gelegt als auf den anderen. Die Meisterschaft wäre sicher der größte Vereinserfolg gewesen, wir verloren auch nicht den Fokus darauf. Und gar keine Frage: Nach dem 1:2 gegen Werder hätten wir es in Nürnberg einfach hinkriegen müssen. Fünf Punkte Vorsprung drei Spieltage vor Schluss, das kannst du ja eigentlich gar nicht mehr verspielen. Wir schafften es leider trotzdem.  

Wie hat Toppi euch wieder aufgebaut vor dem Rückspiel gegen die Red Devils?

Ballack: Für uns alle war diese Saison ja nicht die Normalität. Wenn du um die Meisterschaft spielst, im Halbfinale der Champions League und im Pokalfinale stehst, dann ist die Motivation sicher nicht das Problem. Es ging nach Nürnberg darum, die Enttäuschung schnellstmöglich zu verarbeiten und abzuhaken, um die Lockerheit und Positivität wiederzugewinnen. Vor dem Rückspiel gegen Manchester musste uns Toppi wirklich nicht motivieren. Da ging es um die Frage: Welche Frische bringst du mit? Und hier war die geistige Frische sicher eher gegeben als die körperliche.

Bereits nach zehn Minuten musste Jens Nowotny vom Feld, der sich das Kreuzband gerissen hatte. Dich selber plagte seit der Partie in Nürnberg eine Fußverletzung. Oliver Neuville spielte mit angebrochenem Zeh. Und wie im Old Trafford ging ManU auch im Rückspiel in der BayArena wieder in Führung. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Abend…

Ballack: Nee, das stimmt. Aber wir sind angesichts dieser einzigartigen Saison alle über die Schmerzgrenze hinausgegangen. Ich weiß, dass auch Zoltan Sebescen, der ja dann für Jens reinkam, mit einem Knorpelschaden spielte und nach der Saison lange pausieren musste. Der hat sich für die Mannschaft geopfert und ist da rechts die Seite rauf und runter gerannt. Das machst du normalerweise auch nicht in dem Zustand. Viele waren tatsächlich körperlich am Limit. Aber es waren eben außergewöhnliche und für viele von uns einmalige Spiele.

In der zweiten Halbzeit habt ihr einen heroischen Kampf gezeigt. Am Ende war es eine Frage des puren Willens, oder?

Ballack: Ja, absolut. Im Hinspiel waren wir noch viel besser drauf, fußballerisch viel stärker als dann in Leverkusen. Das Rückspiel war aus meiner Sicht wesentlich ausgeglichener. Da hatten wir sicher ein bisschen Glück. Manchester war an diesem Abend stärker als wir. Sie wussten natürlich, dass sie etwas tun müssen. Und ich glaube, sie haben uns nach dem 2:2 in England auch ganz anders wahrgenommen und sind entsprechend aufgetreten in der BayArena. Wir haben uns mit dem 1:1 ins Finale gerettet. Aber ganz ehrlich: Am Ende geht’s ja nicht um Dominanz, sondern einfach um die Frage: Schafft man’s oder schafft man’s nicht?

Klaus Toppmöller sagte, er hätte nach dem Schlusspfiff die ganze Welt umarmen können. Wie hast du ihn als Trainer erlebt?

Ballack: Toppi war in diesem ganzen Jahr ein super positiver Typ, der zur Mannschaft gepasst und das Beste aus ihr rausgeholt hat. Ähnlich wie Jürgen Klopp ist Toppi ein sehr authentischer, emotionaler Trainer. Damals stand ja in der Winterpause fest, dass ich im Sommer zum FC Bayern München wechseln würde. Das war keine ganz leichte Situation für mich, weil einige Fans natürlich darüber enttäuscht waren. Toppi hat sich intern und auch nach außen hin voll hinter mich gestellt. So herrschte Ruhe, was für mich und die Mannschaft sehr wichtig war. Manch anderer Trainer hätte sich in der Situation vielleicht anders verhalten. Es ist ja nicht immer selbstverständlich, sich zu einem Spieler zu bekennen, der den Verein verlässt und in der Öffentlichkeit dann hin und wieder kritischer betrachtet wird als vorher. Toppi hat immer das klar ausgesprochen, wovon er überzeugt war, auch wenn er manchmal gegen den Strom schwimmen musste. Und die Spieler merken es, wenn der Trainer authentisch ist.

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Du hast allerdings aufgrund deiner Leistungen auch überhaupt keinen Anlass zur Kritik gegeben. 17 Bundesliga-Tore, sechs Treffer in der Champions League, dazu die drei entscheidenden Tore in den WM-Relegationsspielen gegen die Ukraine: Welchen Stellenwert nimmt die Saison 2001/02 für dich in deiner Karriere als Fußballer ein?

Ballack: Es war rückblickend sicher meine wichtigste, vielleicht sogar beste Saison, wenn ich Verein und Nationalmannschaft zusammen betrachte. Obwohl ich damals erst 25 Jahre alt war. Ich bin danach auch außerhalb von Deutschland anders wahrgenommen worden. Die Tore im Viertel- und Halbfinale der Champions League, das Finale gegen Real Madrid, die wichtigen Treffer in der WM-Relegation, und dann sicher auch die WM 2002 in Japan und Südkorea, bei der wir ebenfalls das Finale erreichten: Es war ein außergewöhnliches Jahr für mich.

Du hast das Finale in Glasgow angesprochen. Ihr musstet auf Jens Nowotny und den gelb-gesperrten Ze Roberto verzichten, hattet vier Tage vorher das DFB-Pokalendspiel gegen den FC Schalke 04 verloren – und habt dann trotzdem noch einmal ein großes Spiel gegen Real hingelegt…

Ballack: Ja, wir waren im Finale auch viel fitter als Real Madrid. Wenn ich mich an die letzte halbe Stunde erinnere: Die waren doch stehend K.o., wir spielten absolut dominant. Wenn wir den Ausgleich machen, da bin ich sicher, gewinnen wir das Spiel in der Verlängerung. Es ist schon irgendwie komisch: Da gehen wir im Halbfinal-Rückspiel gegen Manchester noch auf dem Zahnfleisch, und zwei Wochen später im Finale sind wir wieder total frisch. Man kann eben nicht immer alles im Fußball erklären.

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