Er angelte sich mit ein paar Tricks die ersten dicken Fische des DDR-Fußballs. Holte Andreas Thom, Ulf Kirsten und etliche weitere Topspieler aus Ostdeutschland nach Leverkusen. Manche verübelten Reiner Calmund sein forsches Vorgehen, warfen dem Manager von Bayer 04 damals Raubtier-Kapitalismus vor. Dabei hatte er ein feines Gespür für die Befindlichkeiten im sozialistischen Teil des Landes und die Mentalität der Menschen dort.
Im dritten Teil unserer Serie „30 Jahre Wiedervereinigung“ spricht „Calli“ in einem ausführlichen Interview über Glücksgefühle in Berlin, idyllische Familien-Urlaube in Thüringen, einen ungewöhnlichen Matchwinner namens Karnath und seinen dicken Hals auf Kanzler Helmut Kohl.
Herr Calmund, was verbinden Sie mit dem Tag der Deutschen Einheit?
Ich kann mich noch gut an die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, knapp ein Jahr nach dem emotionalen Mauerfall, erinnern. Wir qualifizierten uns durch ein 1:1 beim FC Twente Enschede für das Achtelfinale im UEFA-Cup und haben dann bis weit nach Mitternacht in Holland die deutsche Wiedervereinigung gefeiert. Es hatte für Bayer 04 eine besondere Bedeutung, weil wir mit Andreas Thom und Ulf Kirsten zwei ehemalige DDR-Nationalspieler im Team hatten. Die goldenen Tore zum 1:0 beim Heimspiel-Sieg und das wichtige 1:1 in Enschede erzielte übrigens Ulf Kirsten.
Wie eng ist ihre persönliche, familiäre Beziehung zu Ostdeutschland?
Meine Mutter wurde in Thüringen geboren, ich habe bis heute eine enge Beziehung zu diesem Bundesland. Es hat so vieles zu bieten: ob nun die Wartburg in Eisenach oder die wunderschönen Städte Erfurt, Weimar und Gotha, wo ich am 29. Oktober übrigens eine Veranstaltung mit Kult-Trainer Hans Meyer und der Reporter-Legende Werner Hansch im Hotel „Der Lindenhof“ habe. Natürlich gibt es dann auch eine meiner Lieblingsspeisen: Thüringer Kartoffelklöße mit Rouladen und Rotkohl.
Waren Sie vor dem Mauerfall öfter in der DDR?
Bis zum Mauerbau im August 1961 haben wir in Thüringen einige schöne Familien-Sommerurlaube verbracht. Echter Wasserbrunnen, zum Klo übern Hof, leckerer Kuchen aus dem Backhaus, liebe Verwandte: Es hat einfach alles gepasst. Nach dem Mauerbau durfte ich nur zu offiziellen Sport-Ereignissen hinter den eisernen Vorhang reisen. Vier Monate vor dem Mauerfall war ich noch in Ostberlin. Wir besuchten mit unserer Nachwuchsmannschaft das DFB-Pokalfinale im Olympiastadion, das Borussia Dortmund mit 4:1-Sieg gegen Werder Bremen gewann. Weil alle Hotels ausgebucht waren, haben wir im Ostberliner Grand Hotel gewohnt, das damals schon sehr westlich und komfortabel war.
Wo und wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?
Ich war zu Hause und habe die ersten telefonischen Nachrichten über den Mauerfall nicht glauben können. Bis in die frühen Morgenstunden habe ich dann alle Nachrichten und TV-Beiträge in der Flimmerkiste verfolgt.
Was ist da in Ihnen vorgegangen?
Ich hatte ein unglaubliches Glücksgefühl und Tränen in den Augen. Zwei Tage nach dem Mauerfall flog ich nach Berlin, wollte dabei sein, wenn meine alte Liebe Berlin zu neuer Blüte erwachte. Die Straßen waren voll von Menschen. Alles sehr emotional. Dass da in Berlin etwas Historisches passiert, das spürte ich. Mich zog es zum Olympiastadion. Die Hertha krebste damals in den Niederungen der 2. Liga umher, immer hart am Rande des Existenzminimums. An diesem Tag bekamen die Verantwortlichen deutlich wie lange nicht mehr vor Augen geführt, welches Potenzial der Profifußball in dieser Stadt besaß.
Woran haben Sie das festgemacht?
Die Hertha spielte gegen Wattenscheid. Im Olympiastadion. Zwar war das ein Spitzenspiel, aber normalerweise verliefen sich nur ein paar Tausend Zuschauer in der riesigen Schüssel, wenn die Hertha kickte. An dem Abend kamen fast 50.000 Fans. Zum Abendessen, inklusive Übernachtung und Frühstück, habe ich zehn DDR-Bürger von der Straße ins Hotel eingeladen. Ich wollte alles über ihre Gefühle und Hoffnungen in dieser Situation wissen. Wie so viele andere, die in diesen Tagen, Wochen und Monaten nach Berlin kamen, wollte ich Geschichte aufsaugen. Wo ging dies besser als damals in der geteilten Hauptstadt.
Nur sechs Tage nach dem Mauerfall fand das WM-Qualifikationsspiel zwischen Österreich und der DDR im Wiener Praterstadion statt. Das war für Sie quasi der Startschuss für einen ausgedehnten und ausgesprochen erfolgreichen Einkaufsbummel auf dem ostdeutschen Spielermarkt. Ihr Trick, um an die begehrten Nationalspieler Andreas Thom und Ulf Kirsten zu kommen, hat es ja auch schon in die Geschichtsbücher geschafft. Erzählen Sie doch noch einmal kurz…
Offiziell entsandten wir, wie alle anderen Bundesligisten auch, unsere zwei wichtigsten Scouts zu diesem Spiel: Weltmeister Dieter Herzog und Chef-„Spion“ Norbert Ziegler. Ich hatte einen guten Kontakt zum österreichischen Fußball-Verband und leierte denen noch eine zusätzliche Fotografen-Akkreditierung aus den Rippen. Wolfgang Karnath, damals im Jugendbereich für uns tätig, wurde für uns zum Matchwinner, vom Anpfiff weg positionierte er sich als akkreditierter Fotograf hinter der DDR-Ersatzbank. Direkt nach Spielende nahm Karnath Kontakt zu unseren Wunschspielern Thom, Kirsten und Sammer auf und notierte auch gleich die Adressen und Kontakte. Das war die Basis für unsere schnellen und erfolgreichen Gespräche zwei Tage später.
Wie intensiv hatte Bayer 04 denn schon vor dem Fall der Mauer den Spielermarkt in der DDR beobachtet?
Das hielt sich absolut in Grenzen, zumal wir vor dem Mauerfall ja keine realistischen Chancen sahen, gute DDR-Nationalspieler zu verpflichten. Weil unsere Scouting-Abteilung grundsätzlich alle Infos von internationalen Klub- und Länderspielen, auch im Junioren-Bereich, sammelte, war uns das DDR-Trio Andreas Thom, Ulf Kirsten und Matthias Sammer bestens bekannt. Matthias Sammer wurde 1986 mit der DDR U18 Europameister und ein Jahr später mit der U20 Dritter der Weltmeisterschaft in Chile. Bei diesem Junioren-Turnier in Chile wurden die späteren Weltklasse-Spieler Robert Prosenecki, David Suker, Zvonimir Boban, Predrag Mijatović und Matthias Sammer als die Top-Five ausgezeichnet. Ulf Kirsten wurde 1990 Fußballer und Torjäger des Jahres in der DDR, ein Jahr vorher gewann Andreas Thom die Torjäger-Kanone und wurde ebenfalls Fußballer des Jahres. Im Übrigen standen Kirsten und Sammer mit Dynamo Dresden ein Jahr vor dem Mauerfall noch im UEFA-Cup-Halbfinale.
Wie war eigentlich Ihr erster persönlicher Eindruck von Thom und Kirsten als Typen?
Beide machten einen selbstbewussten Eindruck und waren aufgrund ihrer Erfolge auch mit einer großen Portion Siegermentalität ausgestattet. Andreas Thom war dabei allerdings etwas vorsichtiger, er war ja der Star von Dynamo Berlin, dem Lieblingsklub von Stasi-Chef Erich Mielke.
Welche Bedeutung nehmen die beiden Transfers in Ihrer Historie als Manager ein?
Ulf Kirsten wurde bei uns der Bundesliga-Torjäger des Jahrzehnts. Er war trotz Völler, Schuster, Ballack, Schneider, Nowotny, Ramelow, Jorginho, Lucio, Ze Roberto, Emerson, Cha, Berbatow und Co. unsere beste Verpflichtung. Der kompletteste Fußballer war vermutlich Andy Thom, er hätte normalerweise bei Real Madrid oder Barcelona spielen müssen. Er war und ist ein liebenswürdiger Mann, dem allerdings so eine kleine Portion Killerinstinkt fehlte. Ich bin sehr froh, dass ich auch heute noch mit den Beiden sehr gut befreundet bin.
Warum waren so viele Jungs im Osten so gut? Was hat sie ausgezeichnet?
Die DDR hatte schon in den 80er Jahren erstklassige Nachwuchsleistungszentren mit vielen guten hauptamtlichen Trainern. Da konnten wir im Westen nur von träumen. Erst nach der EM-Pleite 2000 wurden alle Bundesliga- und Zweitliga-Klubs verpflichtet, Nachwuchsleistungszentren mit einer vorgegebenen personellen und baulichen Infrastruktur zu installieren. Aktuell hat der Nordostdeutsche Fußball-Verband mit den Landesverbänden Berlin, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg rund 685.000 Mitglieder, das sind nur 9,5% der insgesamt knapp 7,2 Millionen DFB-Mitglieder. Aber bei der WM 2002 waren mit Marko Rehmer, Thomas Linke, Jörg Böhme, Jens Jeremies, Carsten Jancker, Bernd Schneider, Michael Ballack und dem verletzten Alexander Zickler acht ostdeutsche Spieler im WM-Kader, das waren immerhin mehr als ein Drittel des Aufgebots.
Sie holten nach Thom und Kirsten später noch Spieler wie Matthias Stammann, Jens Melzig, Heiko Scholz, René Rydlewicz, Mike Rietpietsch, Mario Tolkmitt, dann Stefan Beinlich, Bernd Schneider, Michael Ballack. Es gab Zeiten, da hatte kein deutscher Profiverein mehr ehemalige Ostdeutsche im Kader als Bayer 04. Das kam nicht bei allen gut an…
Alle Spieler waren talentiert und machten bei uns einen guten Job. Manche hätten nach dem Mauerfall tatsächlich am liebsten eine Sperre verordnet für den Wechsel von Ost-Fußballern in den Westen. Aber das wäre eine unmenschliche und rechtlich nicht umsetzbare Verordnung gewesen. Man konnte den Wegfall der Mauer doch nicht durch eine unsichtbare Mauer ersetzen. Die Bundesligisten mussten sich vor oder nach dem WM-Erfolg 1990 mit Illgner (Real Madrid), Reuter, Kohler, Möller, Häßler (Juventus Turin), Klinsmann, Brehme, Matthäus (Inter Mailand), Littbarski (Paris und Japan), Berthold, Völler (AS Rom), Riedle (Lazio Rom) auch von einem kompletten Team verabschieden. Und sie alle wechselten sicher nicht nur wegen des schönen Wetters nach Süd-Europa, sondern wegen der Kohle – was ja auch absolut okay ist.
Eduard Geyer, damals Nationaltrainer der DDR, hat in seiner Biografie geschrieben, es sei unmittelbar nach dem letzten Länderspiel der DDR am 12. September 1990 zugegangen wie auf dem Sklavenmarkt, einige Spielerberater hätten sich unverschämt verhalten. Können Sie das nachempfinden?
Letztendlich entscheiden die Spieler, wann und zu welchem Verein sie gehen wollen. Ich kann den Unmut von Ede Geyer verstehen – allerdings wechselte auch er selbst nur wenig später als Jugendkoordinator zu Schalke 04.
Den Vertrag mit Matthias Sammer hatten Sie damals auch schon so gut wie unter Dach und Fach, durften ihn dann aber aus politischen Gründen nicht verpflichten. Gab’s noch jemanden aus dem Osten Deutschlands, den Sie gerne verpflichtet hätten, aber nicht bekommen haben?
Nein, Matthias Sammer war und blieb tatsächlich der einzige Fall – wenn auch ein sehr trauriger. Er hatte bei uns schon die Tinte unter den Vertrag gesetzt. Mit ihm als Leader hätten wir garantiert den einen oder anderen Titel gewonnen. Seine Bilanz: Europameister, Europas Fußballer des Jahres, Deutscher Meister als Trainer und Spieler, Triple-Gewinner als Sportdirektor mit Bayern München usw. sagt alles.
Warum ist der Transfer nicht zustande gekommen? Was ist genau passiert?
Bundeskanzler Helmut Kohl und ich waren beide zur gleichen Zeit in Dresden. Zwei Schwergewichte, zwei Meinungen. Was ich nicht wusste: Während ich mit Andreas Thom, Ulf Kirsten und Matthias Sammer den Wechsel nach Leverkusen perfekt machte, saß Kohl mit den Spitzen der Bayer AG zusammen und las den Herren die Leviten. Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen könne man es sich nicht erlauben, drei aktuelle DDR-Nationalspieler so kurz nach dem Mauerfall in einem westdeutschen Klub spielen zu lassen: Stellen Sie sich vor, so argumentierte Kohl, der Fußballfan. ‚Was dies für Folgen haben wird für das Image der Bayer AG. Sie können die DDR nicht einfach so leer kaufen.‘
Am Tag danach ließ mich die Bayer AG wissen, man nehme Abstand von der Verpflichtung der Spieler Ulf Kirsten und Matthias Sammer. Für mich war das ein fürchterlicher Schlag ins Kontor, ich verfluchte meinen Bundeskanzler, mit dem mich doch neben dem Gewicht so viel verband. Ich habe dann schweren Herzens den Transfer von Sammer zum VfB Stuttgart begleitet, mit denen er auch noch Deutscher Meister wurde. Es war auch Matthias Sammer, der uns als jüngster Bundesligatrainer mit Borussia Dortmund 2002 den Meistertitel buchstäblich vor der Nase wegschnappte. Zum Glück konnten wir die Verpflichtung von Ulf Kirsten damals noch realisieren.
Hier geht es zu den weiteren Teilen der Serie:
Teil 1: 30 Jahre Wiedervereinigung – Ein Glücksfall für Bayer 04
Teil 2: „Scholles" Spiel für die Geschichtsbücher
Teil 4: Falko Götz: „Sehr froh, dass der Schritt erfolgreich war"