Peter Bosz: „Zufrieden bin ich nie..."

Das war ein klassischer Husarenstreich. Auf Platz 9 hatte Peter Bosz die Werkself nach der Hinrunde übernommen. Dank 34 Punkten in der zweiten Saisonhälfte und einem fulminanten Schlussspurt wurde noch Platz vier und damit die Qualifikation für die Champions League erreicht. Vor der neuen Spielzeit sprachen wir mit dem 55-jährigen Cheftrainer aus den Niederlanden über Leistungsaufbau, den Unterschied zwischen Spielphilosophie und Spielweise sowie die Zusammensetzung eines Mannschaftsrates.
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Dieses Interview mit Cheftrainer Peter Bosz, ein umfassender Saisonrückblick der abgelaufenen Spielzeit oder die Vorstellung der Werkself, all das findet sich im neuen Saisonheft 2019/20. Zum Preis von 6 Euro kann das Jahrbuch 2019/20 in den Bayer 04-Shops erworben werden. Darüber hinaus ist es am Heimspieltag gegen den SC Paderborn auch an den beiden Countern im Ost-Bereich der BayArena, am Clubmobil sowie in der Premium Lounge erhältlich. 

Peter Bosz, lassen Sie uns zuerst über die Neuzugänge von Bayer 04 reden. Kerem Demirbay zum Beispiel, der in der Vorbereitung sowohl auf als auch neben dem Platz sehr souverän und selbstbewusst aufgetreten ist.

Bosz: Er ist ein guter Spieler. Mit viel Übersicht und feiner Technik. So ein Spieler braucht den Ball. Und den wird er bei uns auch bekommen.

Auffällig war seine Qualität bei Standardsituationen?

Bosz: Seine Standards sind sicherlich eine Waffe. Aber wir haben auch andere gute Schützen. Leon Bailey zum Beispiel, dessen Schusstechnik vor allem dann funktioniert, wenn der Ball etwas weiter vom Tor weg liegt. Charlie Aránguiz hingegen kommt am Besten dann zum Einsatz, wenn der Abstand zum gegnerischen Tor eher gering ist.

Bei Moussa Diaby ist es vor allem die Schnelligkeit, die ins Auge sticht.

Bosz: Dabei kennen die Mitspieler ihn noch gar nicht so gut. Zu seinen Stärken gehört es, dass er dank seiner Schnelligkeit hinter die letzte Kette kommt. Das müssen die Mitspieler erkennen und ihn noch besser einsetzen. Durch ihn kann unsere Spiel Tiefe bekommen.

Und was ist mit Daley Sinkgraven? Über ihn haben Sie mal gesagt, dass er als Linksverteidiger alles mitbringt, um in die „Weltspitze“ vorzurücken.

Bosz: Ihm sollten wir vor allem Zeit geben. Wenn man wie er zwei Jahre nicht gespielt hat, ist es logisch, dass nicht alles auf Anhieb funktioniert. Für ihn ist es wichtig, dass er Spielrhythmus bekommt. Und ich habe den Eindruck, dass er von Minute zu Minute besser wird. Gegen Eibar hat er zum ersten Mal wieder 90 Minuten durchgehalten. Er wird noch sehr wertvoll für uns sein.

Wann wird das der Fall sein?

Bosz: Das weiß ich nicht. Wir sollten jedoch erst einmal keinen Druck auf ihn ausüben.

Sie haben in der Vorbereitung immer wieder betont, dass es Ihnen vor allem um die Verbesserung der beiden Aspekte „Kondition und Spielweise“ geht. Kommen wir zuerst auf die Ausdauer zu sprechen. Welchen Ansatz verfolgen Sie bei diesem Leistungsindikator?

Bosz: Erst einmal möchte ich festhalten, dass in dieser Frage viele Wege nach Rom führen. Jeder Trainer sollte für sich selbst entscheiden, wie er hier vorgehen möchte. Ich habe in meinen 20 Jahren als Spieler und meinen 20 Jahren als Trainer die Erfahrung gemacht, dass es sehr gut ist, beim Aufbau von Kondition Schritt für Schritt vorzugehen. Und man muss aufpassen, dass die Schritte nicht zu groß sind. Erholungsphasen sind wichtig. Sonst verletzen sich die Spieler und es ist überhaupt kein Training mehr möglich.

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Der 55-jährige Niederländer hat angesichts der gelungenen Champions-League-Qualifikation gut Lachen.

Kevin Volland hat in Zell am See-Kaprun eingeräumt, dass man bei zwei Einheiten am Tag am Vormittag die Tendenz hat, die Übungen „mit Auge“ zu absolvieren. Es also am Vormittag etwas „langsamer angehen lässt, weil man die andere Einheit im Hinterkopf hat“. Steckt diese Erfahrung hinter der Entscheidung, in der Vorbereitung mehr auf eine als auf zwei Einheiten pro Tag zu setzen?

Bosz: Genau. Einmal 100 Prozent sind besser als zweimal 50 oder sogar 60 Prozent. Je höher und intensiver das Niveau im Training ist, desto besser. Und das dann kontinuierlich steigern. Damit haben wir auch in der Rückrunde gute Erfahrungen gemacht. Die Mannschaft war in der Saisonendphase topfit und konnte noch einmal richtig Gas geben.

Gerade die Wettkampfform „Sieben gegen Sieben“ auf deutlich verkleinertem Spielfeld schien sehr intensiv zu sein.

Bosz: Unser Spiel ist sehr offensiv ausgelegt, die Spieler befinden sich meistens in der gegnerischen Hälfte. Da müssen wir viele kurze Sprints machen. Deshalb trainiere ich genau das. Es macht keinen Sinn, 1000 Meter hintereinander zu laufen. Bei uns sind das meistens Sprints über fünf oder zehn Meter. In dieser Spielform haben die Spieler kaum Pausen, müssen trotz Müdigkeit richtige Entscheidungen treffen und holen meist alles aus sich heraus. Immerhin ist es ein Wettkampf. Und verlieren möchte keiner.

Wenn man sich Ihr Training anschaut, fällt auf, dass oft schnelle, kurze Pässe unter Druck und auf engstem Raum im Mittelpunkt stehen. Was steckt dahinter?

Bosz: Unser Prinzip ist oft, es im Training schwieriger zu machen, als es normalerweise in einem Spiel der Fall ist. Je weniger Zeit die Spieler haben, desto schneller müssen sie agieren. Dabei ist es wichtig, in so Situationen auf Automatismen zurückgreifen zu können und eine gute Vororientierung zu haben. Die Spieler sollten also schon bevor sie den Ball bekommen wissen, welche Optionen sie haben und was sie tun werden.

Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang die Video-Sitzungen am Abend?

Bosz: Diese Sitzungen sind wie eine zweite tägliche Einheit. Ich nehme ein Prinzip unserer Spielweise heraus und verdeutliche es mit Bildern und Videos. Dabei sollten die Spieler voll fokussiert sein. Es ist wichtig, dass sie das nachvollziehen können. Während wir zu Beginn der Vorbereitung den Spielern in erster Linie Input geben, fordern wir sie im weiteren Verlauf auf, Feedback zu geben. Damit wir die Spielweise verfeinern und gegebenenfalls anpassen können.

Warum dauern die Sitzungen meist nicht mehr als 15 Minuten?

Bosz: Die einzelnen Prinzipien sind uns sehr wichtig. Deshalb wollen wir die Spieler nicht mit Informationen überfrachten. Wir wollen das zur Verfügung stehende Aufmerksamkeitsfenster optimal nutzen.

Vorwärtsverteidigung, Balleroberung und Kompaktheit des Spielgefüges sind weitere Prinzipien Ihrer favorisierten Spielweise. Dabei fällt auf, dass Sie oft mitten im Geschehen sind, anstatt sich die Übungen von Außen anzuschauen.

Bosz: Da kommt wahrscheinlich der ehemalige defensive Mittelfeldspieler in mir durch. (lacht) Wenn ich mich dort aufhalte, bekomme ich ein besseres Gefühl dafür, ob die Abstände stimmen, ob die Laufwege sinnvoll sind. Für die Betrachtung von Außen habe ich ja noch die Video-Aufzeichnungen. Dort kann ich mich auf Marcel Daum und Simon Lackmann verlassen. Sie geben mir wertvolle Hinweise, und ich habe die Möglichkeit, mir alles noch einmal in Ruhe anzuschauen.

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Mittendrin statt nur dabei: Peter Bosz ist auf dem Trainingsplatz auch physisch sehr präsent.

Wie zufrieden sind Sie mit den Experten um Sie herum?

Bosz: Ich bin total glücklich mit dem Team. Das sind alles Fachleute. Ob nun die Co-Trainer, die Fitness-Trainer, die medizinische Abteilung oder die anderen aus dem Staff. Sie geben mir das Gefühl, dass Bayer 04 genau der richtige Ort für mich ist. Ich habe mich hier vom ersten Moment an sehr wohl gefühlt.

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"Ich bin total glücklich mit dem Team." Bosz schätzt die Arbeit von Xaver Zembrod, David Thiel und Hendrie Krüzen (v.l.) sehr.

Wie sieht es mit der Mannschaft aus? Passt die zu Ihrem Spielstil?

Bosz: Wir haben einen guten Kader. Für mich verfügt er über eine ideale Kombination aus Talent, Erfahrung, Qualität und Willen. Und gerade Willen ist eine sehr wichtige Eigenschaft für das Erreichen gemeinschaftlicher Ziele. In meiner Trainer-Karriere hatte ich das Privileg, mit vielen besonderen Spielern zu arbeiten, die aber auch oft ihre Egos hatten. Das spüre ich hier nicht. Das ist eine gute Basis für Erfolg.

In den meisten Testspielen sah es für Außenstehende so aus, dass die Mannschaft in Bezug auf die Grundordnung gegen den Ball in einem 4-3-3 agiert, mit dem Ball wurde es dann zu einem 3-2-4-1. Ist das Ihr bevorzugtes System für die neue Saison?

Bosz: In der nächsten Saison wollen wir verschiedene System spielen. Das 3-2-4-1 in Ballbesitz ist eine Möglichkeit. Grundsätzlich unterscheide ich zwischen Spielphilosophie und Spielweise. Die Spielphilosophie ist immer gleich: Wir wollen offensiv und kompakt agieren. Die Spielweise hingegen hängt immer von den Spielern ab, die mir zur Verfügung stehen. In der zurückliegenden Rückrunde beispielsweise haben wir mit Charles Aránguiz als einzigen Sechser angefangen und davor mit Kai Havertz und Julian Brandt als Achter. Dann kam Julian Baumgartlinger dazu, so dass wir meistens mit Doppel-Sechs gespielt haben. Anschließend haben sich erst Bellarabi und dann Bailey verletzt, so dass wir wieder darauf reagiert haben.

Wir wissen, dass Sie nur ungern über einzelne Spieler reden, aber angesichts der Rückrunde sollten wir kurz über Kai Havertz sprechen, der sowohl von den Fußball-Medien als auch den Profi-Kollegen mit Lob überschüttet worden ist. Wo kann sich Kai Ihrer Meinung nach verbessern?

Bosz: Damit ist die Antwort doch schon gegeben… (grinst). Ich rede ungern über einzelnen Spieler. Fußball ist ein Mannschaftssport, niemand kann allein ein Spiel entscheiden. Auch wenn die Medien das oft so darstellen. Und um auf die Frage zurückzukommen: Natürlich kann auch Kai sich verbessern. Deshalb schneiden wir Spielszenen zusammen und gehen sie mit den Spielern durch.

Wahrscheinlich wollen Sie auch nicht verraten, wo konkret Kai sich verbessern kann…

Bosz: Genau…

Nimmt er denn die Hinweise und Korrekturen an?

Bosz: Ja. Das tut er. Das ist sicherlich auch ein Grund, warum er schon in jungen Jahren dieses Level erreicht hat. Abgesehen davon: Wenn ich denken würde, jetzt weiß ich alles, dann würde ich mit dem Fußball aufhören. Und wenn ich auf Spieler treffe, die mir den Eindruck vermitteln, sie wüssten schon alles, dann würde ich mit denen nicht mehr zusammenarbeiten wollen.

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Im ständigen Austausch: Peter Bosz im Trainingslager in Zell am See mit Sportdirektor Simon Rolfes.

Kai Havertz ist in dieser Saison in der Reihenfolge der Kapitäne hinter Lars Bender, Kevin Volland und Julian Baumgartlinger auf Rang vier. Das haben Sie im Trainingslager bekanntgegeben. Warum war es Ihnen so wichtig, dass es die Spieler erst von Ihnen erfahren haben?

Bosz: Weil ich es als Spieler gehasst habe, wenn das vorher in der Zeitung gestanden hat. Diese Dinge, das gilt auch für Aufstellungen, sollten immer erst den Spielern persönlich mitgeteilt werden.

Während Lars Bender, Julian Baumgartlinger und Kai Havertz auch im Mannschafstrat sind, ist Kevin Volland nicht dabei.

Bosz: Kevin ist immer sehr präsent. Er spricht im Mannschaftskreis stets Dinge konkret an und braucht von daher nicht zusätzlich im Mannschaftsrat vertreten zu sein. Hier ist es mir viel mehr wichtiger, dass möglichst alle Gruppen vertreten sind. Deshalb haben wir in diesem Jahr Wendell und Jonathan Tah dazu genommen.

Julian Brandt ist gegangen. Seine Position im linken offensiven Mittelfeld hat zuletzt oft Paulinho übernommen. Auch im Test gegen Ajax Amsterdam Mitte März hat der gelernte Außenbahnspieler mehr im Zentrum agiert. Kann er die Rolle von Brandt einnehmen?

Bosz: Paulinho ist nicht der klassische Außenstürmer wie Karim Bellarabi oder Leon Bailey. Aber er ist auf kleine Strecken unheimlich schnell und hat eine ganz spezielle Technik. Wenn man jedoch im Zentrum spielt, muss man auch verteidigen können und auch wollen, dazu ein gutes Auge haben. Das muss er noch lernen. Aber auch Julian musste erst in diese Rolle hineinschlüpfen und hat es im Laufe der Rückrunde immer besser gemacht.

Angesprochen auf die schärfsten Konkurrenten um die internationalen Plätze haben Sie zuletzt gesagt, dass der größte Konkurrent Bayer 04 sein wird. Wie haben Sie das gemeint?

Bosz: Wir arbeiten hier an einer Spielweise, die größtenteils immer gleich sein wird. Es gibt kleine Unterschiede je nach Gegner, wobei man keinen unterschätzen darf in der Bundesliga. Gegen Bayern werden wir sicher etwas anders anlaufen als zum Beispiel gegen Schalke. Deshalb denke ich, dass es an uns liegt. Wenn wir es richtig gut machen, wird es für jede Mannschaft schwer, uns zu schlagen. Aber dafür müssen wir uns weiter steigern. Im Top-Fußball musst du immer schneller und immer besser werden. Denn das versuchen die anderen Klubs auch.

Viele Ihrer Spieler haben in der Vorbereitung gesagt, dass sie Titel mit Bayer 04 gewinnen und 2020/21 auch wieder Champions League spielen wollen. Gefallen Ihnen diese ehrgeizigen Pläne?

Bosz: Ich mag Spieler, die ehrgeizig sind. Aber mir ist es lieber, wenn sie mit den Füßen sprechen. Selbstvertrauen ist okay, aber wie gesagt: Spieler sollten erst einmal mit den Füßen sprechen!

In der Saison liegt die kurzfristige Zielsetzung auf der Hand: von Spiel zu Spiel schauen. Aber vor der ersten kompletten Saison mit der Werkself: Ab welcher Platzierung wäre Peter Bosz mit der Saison zufrieden?

Bosz: Zufrieden bin ich nie… (grinst). Ich glaube nicht, dass man aktuell eine gute Prognose abgeben kann. In unserem Kader kann es noch Veränderungen geben. Und auch bei den Gegnern kann sich noch einiges tun. Wir sind in der Rückrunde mit der Vorgabe, von Spiel zu Spiel zu schauen, sehr gut gefahren. Alles andere bringt in meinen Augen wenig.

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Der Coach und die Neuzugänge beim Trainingsauftakt: Bosz mit Daley Sinkgraven, Moussa Diaby, Niklas Lomb und Kerem Demirbay (v.l.).

Sie sind nun ein halbes Jahr bei Bayer 04? Was bedeutet Ihnen der Verein mittlerweile?

Bosz: Wie bereits gesagt: Ich fühle mich sehr wohl hier. Hier kann man in Ruhe arbeiten. Es gibt sehr professionelle Bedingungen. Der Kader ist sehr gut. Und alle Mitarbeiter, mit denen ich zusammenarbeiten darf, haben Qualität und sind darüber hinaus nette Menschen. Was will man mehr? Natürlich geht es am Ende immer ums Gewinnen. Und die Wahrscheinlichkeit, das auch zu erreichen, ist am höchsten, wenn man gute Spieler hat. Aber so macht es insgesamt mehr Spaß.

 

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Die drei Jahre in Almelo (2010-13) waren Ihre längste Amtszeit als Trainer. Können Sie sich vorstellen, diesen persönlichen Rekord hier bei Bayer zu brechen?

Bosz: Warum nicht? Vor mir aus gerne… (lacht). Doch man darf nie vergessen, wie schnell es im Fußball gehen kann. Ein Beispiel: Wer hätte 2015 gedacht, dass mal ein Trainer mit Leicester City englischer Meister wird? Und wer hätte gedacht, dass dieser Trainer gerade einmal ein gutes halbes Jahr nach diesem Coup entlassen wird? Garantien gibt es im Fußball nicht. Aber durchaus Vertrauen. Und das spüre ich hier in Leverkusen. Das habe ich vom ersten Gespräch an gemerkt.

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