Als Patrik Schick den Aufzug verlässt, der ihn nach 62 Höhenmetern auf die Panorama-Plattform des EVL-Turms befördert hat, schreitet er sogleich zur großen Fensterfront. Ruhig schaut er auf das sich unter ihm liegende Leverkusen, sein Blick verfängt sich erst am Chempark, bis er sein neues sportliches Wohnzimmer, die BayArena, in Augenschein nimmt. „Die Aussicht ist interessant, und es ist wirklich beeindruckend, das Werk und das Stadion von oben zu sehen“, sagt er. Doch ein süffisantes Lächeln kann er sich nicht verkneifen, ein wenig enttäuscht ist er schon. Das liegt aber nicht am Leverkusener Panorama. Schick vermisst die Sonne. „Seitdem ich hier bin, hat es fast nur geregnet. Ich hatte wirklich auf blauen Himmel und eine perfekte Sicht von hier oben gehofft. Mit all dem Nebel ist es zwar dennoch schön, aber wirklich viel erkennt man nicht.“
Es mag den 24-Jährigen trösten, dass sein Leben in den vergangenen Monaten sprichwörtlich im Zeichen des Sonnenscheins stand. Hochzeit mit Hana im Juli, der Wechsel nach Leverkusen im September und schließlich Anfang Oktober die Geburt von Tochter Victoria – das so komplizierte Jahr 2020 hat dem Tschechen privates Glück beschert. „Es ist für uns alle nicht einfach, mit all den Einschränkungen aufgrund der Pandemie. Aber was meine Familie betrifft, bin ich gerade unglaublich glücklich. Die Familie steht an erster Stelle, noch vor dem Fußball. Und ich bin dankbar für das, was in den vergangenen Monaten passiert ist und vor allem, dass alle gesund sind.“
Während Schick mit einem Lächeln im Gesicht über den neuen Lebensabschnitt spricht, zieht sich das Wolkenfeld hinter ihm weiter zu. Davon unbeeindruckt spricht der Angreifer bei bester Laune über den Wechsel nach Leverkusen, seine ersten Pflichtspieltore für Bayer 04 und die einzige Phase der zurückliegenden Monate, in der ein Grauschleier über seinem Wohlbefinden lag: Eine Verletzung im linken Oberschenkel, die er sich beim 1:1 in Stuttgart zugezogen hat, nachdem er sein erstes Bundesliga-Tor für Bayer 04 erzielt hatte, zwang ihn zu einer Pause von mehreren Wochen. Keine einfache Situation für einen Fußballer, der zu einem neuen Klub gewechselt ist, um Stadt und Fans im Sturm zu erobern. Doch Schick blieb entspannt, zog Kraft aus dem privaten Glück und erinnerte sich an Fehler aus der Vergangenheit.
Als er 2017 nach einer starken Premieren-Saison mit 13 Pflichtspieltoren für etwa 15 Millionen Euro von Sampdoria Genua zu AS Rom gewechselt war, hatte ihn ebenfalls eine Verletzung zurückgeworfen. Aus der Muskelverletzung wurde eine lange Leidensgeschichte, an der Schick nicht schuldlos gewesen ist, wie er eingesteht: „Im Fußball geht es um Entscheidungen. Ich kam für eine hohe Ablöse nach Rom und wollte alle von meinen Qualitäten überzeugen. Dann kam die Verletzung, und anstatt sie richtig auszuheilen, hatte ich monatelang Schmerzen, und alles wurde nur noch schlimmer. Das war ein Fehler, ich hätte mich schonen sollen. Daraus habe ich gelernt. Verletzungen machen mich nicht mehr nervös, und ich komme erst zurück auf den Platz, wenn ich zu 100 Prozent fit bin. Das ist für alle besser.“
Schick spricht die Sätze konzentriert, mit leiser Stimme, aber großer Überzeugung. Zwar ist er erst 24 Jahre alt, doch bereits reich an Erfahrungen. Geboren in Prag, mit 20 der Umzug nach Genua und schließlich nach Rom, einer „wunderschönen Stadt, mit schönen Gebäuden, einem einzigartigen Zentrum und Lebensstil“. Doch wie sehr er Leverkusen und Bayer 04 schätzt, betont der in der Saison 2019/20 von Rom nach Leipzig ausgeliehene Angreifer unnachgiebig. „Ich hoffe, dass ich lange hier bleibe, nachdem ich in den vergangenen Jahren fast zu jeder neuen Saison umgezogen bin. So ist der Sport, man hat nur wenige Jahre als Profi und muss dem Fußball alles unterordnen. Aber ich wünsche es mir, und auch meine Familie würde sich freuen.“
Bis auf die herbstlichen Graustufen war er auch auf alles bestens vorbereitet – dank des Insider-Wissens seines Freundes Michal Kadlec. Der Landsmann und frühere Bayer 04-Profi ist ein enger Freund Schicks. „Michal hat mir viel erzählt, und als Fußballfan weiß ich um die riesige Tradition von Bayer 04. Ich habe früher viele Spiele im Fernsehen gesehen und hätte nie gedacht, selbst einmal hier spielen zu dürfen. Es ist ein toller Klub mit tollen Fans, und ich bin sicher, dass ich eine sehr gute Entscheidung getroffen habe.“
Vor wegweisenden Schritten ist Schick noch nie zurückgeschreckt. Entgegen aller Warnungen entschied sich der damalige Junioren-Nationalspieler 2016 nach Italien zu wechseln, ohne sich in Tschechien komplett durchgesetzt zu haben. Sampdoria Genua, Serie A, neues Land, neue Sprache. „Viele Leute haben mir nicht zugetraut, in Italien Erfolg zu haben. Aber ich habe an mich geglaubt, wusste, dass das System zu mir passt und bin bei Sampdoria ein besserer Spieler geworden. In Italien wird mehr auf Taktik gesetzt, die Verteidiger sind sehr gut ausgebildet, und für Stürmer ist es schwer.“ Seine fußballerische Klasse ebnete dem 1,87 Meter großen, schlanken Spieler den Weg zum Erfolg. Trotz seiner Statur beschreibt er sich deshalb auch nicht als klassischen Neuner – wenngleich er lächelnd eine kleine Abneigung gegen das Verteidigen einräumt: „Ich war auch mal Spielmacher, aber Toreschießen lag mir schon immer mehr als die Defensive. Ich glaube auch, dass es wichtig ist, eine Position zu haben, auf der man konstant spielt. Ich kann aber auch mal auf die 10 ausweichen und habe den Ball gern am Fuß.“
Der Ball pendelte weiter stetig zwischen Fuß und Tor, doch die Trikotfarben änderten sich. Über Rom und Leipzig führte der Weg mit dem Zwischenstopp Champions-League-Halbfinale nach Leverkusen. Nach knapp zwei Monaten bei Bayer 04 hat er sich – zumindest sportlich – akklimatisiert. Ein Tor in drei Bundesligaspielen, ein weiteres im DFB-Pokal. Die Quote stimmt, ebenso das Verhältnis zu den Mitspielern. Hilfreich ist das stetig wachsende Sprachrepertoire des Kosmopoliten. „Am meisten Kontakt habe ich zu Lukas Hradecky. Er ist zwar Finne, da seine Eltern aber aus der Slowakei kommen, sprechen wir dieselbe Sprache. Durch mein Italienisch kann ich aber auch mit den Spanisch sprechenden Spielern in einer Mix-Sprache kommunizieren. Englisch spreche ich auch, und auf Deutsch verstehe ich fast alles. Ich muss es allerdings noch einmal lernen, das ist nicht so einfach.“ Es ist ein Déjà-vu, denn als Teenager hatte er bereits vier Jahre Deutsch gelernt, sich bewusst in der Schule „gegen Französisch entschieden, da die Chance höher war, es auch einmal anzuwenden“.
Schon damals hatte Schick also eine Vorahnung, in welche Liga es ihn einmal verschlagen könnte. Denn dass er seinen Beruf auf dem Rasen ausüben werde, stand schon früh fest, wie er glaubhaft versichert: „Es war immer mein Traum, Profi zu werden und auf höchstem Niveau zu spielen. Ich habe alles auf diese Karte gesetzt.“
Entsprechend motiviert und fokussiert verfolgt Schick seine Ziele. Die Europameisterschaft im nächsten Jahr, klar. Doch vor allem sehnt sich der bislang so reiselustige Tscheche nach einer Rückkehr – in die Königsklasse. „Wir wollen in der Europa League erfolgreich sein, uns aber vor allem in der Bundesliga für die Champions League qualifizieren. Das ist das Hauptziel. Ich will so viele Tore wie möglich erzielen und damit helfen, das zu erreichen.“
Als ihn der Aufzug wieder hinabgefahren hat, weht ein leichter Wind. Schick schüttelt sich kurz und blickt nach vorn. Er ist vorbereitet und weiß genau, was ihn erwartet. Der Winter kommt – und Leverkusen steht vor stürmischen Zeiten. Patrik Schick will dafür sorgen.
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