Nadiem Amiri: Zu Hause am Rhein

Amiri_20191107_Schueler_B04_0101.jpg

Nadiem Amiri strahlt eine Lebenslust aus, die ansteckend ist. Der 23-Jährige, neben Kerem Demirbay der zweite Neuzugang aus Hoffenheim, hat eigentlich immer gute Laune - und nicht zuletzt aufgrund seiner gezeigten Leistungen auch allen Grund dazu. Unterm Bayer-Kreuz läuft es gut für den flinken, dribbelstarken offensiven Mittelfeldspieler, der im Oktober sein Debüt in der deutschen Nationalmannschaft geben durfte. Dass er sich so wohl fühlt in Leverkusen, hat freilich auch mit dem zweitlängsten Fluss des deutschen Sprachraums zu tun...

Es ist ein trüber, typischer Novembertag, an dem wir uns mit Nadiem Amiri in Rheindorf treffen. Ungemütlich, windig, der Himmel Grau in Grau. Und als der 23-Jährige mit seinem dunkelbraunen Jeep auf den Parkplatz an der Villa Knöterich einbiegt, fängt es pünktlich an zu regnen. Beste Bedingungen also für einen kleinen Ausflug zur Schiffsbrücke an der Wuppermündung. Wir wollen mit Nadiem an den Rhein, weil er eine besondere Beziehung zu dem Fluss hat.

In Ludwigshafen am Rhein ist er geboren und aufgewachsen, später wechselte er als Spieler mal rüber auf die andere Rhein-Seite zu Waldhof Mannheim, jetzt spielt er in Leverkusen und wohnt in Düsseldorf-Oberkassel, wieder in unmittelbarer Rhein-Nähe. „Irgendwie begleitet der Fluss mein Leben“, sagt Nadiem, als wir im Auto die paar hundert Meter zur Schiffsbrücke fahren. Zunächst über den Rheindorfer Damm, dann runter auf den Fahrrad- und Fußgängerweg, rechts über die erste grüne Wupperbrücke und schließlich unter der A59 hindurch. Wir haben eine Sondergenehmigung und folgen dem Peugeot von Uwe Bertrams und Helga Voigt, den Vorstandsmitgliedern des Fördervereins Schiffsbrücke Wuppermündung, die uns den schwimmenden Steg aufschließen, der sonst nur am Wochenende fürs Publikum geöffnet ist.

Amiri_20191107_Schueler_B04_0104.jpg
Nadiem Amiri auf der „Freiheit" mit Uwe Bertrams und Helga Voigt.

Die Schiffsbrücke bei Rhein-Kilometer 702,5 ist die letzte ihrer Art in Deutschland und verbindet die beiden Leverkusener Stadtteile Rheindorf und Wiesdorf. 281 Rhein-Kilometer  südlich ist Nadiem Amiri am 27. Oktober 1996 geboren. „Wir hatten zwar keinen Blick auf den Fluss, aber der Rhein war nur fünf Minuten Fußweg von unserer Wohnung entfernt“, sagt der Werkself-Profi. „Mein Bruder und ich haben manchmal am Ufer gespielt. Ludwigshafen ist meine Heimat und bleibt für mich auch immer mein Zuhause.“

Seine Eltern leben noch heute dort in der größten Stadt der Pfalz, in der die BASF ihren Stammsitz hat. Der Chemiekonzern hat für Ludwigshafen eine ähnliche Bedeutung wie die Bayer AG für Leverkusen. Im Leben der Amiris spielt die BASF aber keine Rolle. „Mein Vater betreibt einen Lkw-Handel, meine Mutter hat 20 Jahre in einem Altersheim gearbeitet“, erzählt Nadiem. Wir sitzen inzwischen unter Deck, im kleinen Café auf der Tjalk „Freiheit“, einem von zwei Einmastern. Ein paar Meter weiter liegt der Aalschokker „Recht“, dann folgt zum Abschluss ein Ponton. Dazwischen soll nach seiner Renovierung noch der Klipper „Einigkeit“ das Denkmal-Ensemble komplettieren. Nadiem schaut sich um und wirft einen Blick auf die Schaukästen an den Wänden, in denen die Geschichte der bereits seit 1920 dokumentierten Schiffsbrücke dargestellt wird. Erstaunlich: Obwohl der Rhein ihn schon so lange begleitet, ist Nadiem noch nie auf ihm gefahren. Er muss selber lachen, als ihm das bewusst wird. „Es hat sich einfach noch nicht ergeben. Vielleicht sollte ich das bald mal nachholen.“

Von klein auf begeistert ihn vor allem das Fußballspielen. Erst kickt er mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Nauwid auf der Straße. Als der dann zum Ludwigshafener SC geht, begleitet ihn Nadiem oft zum Training, spielt abseits des Platzes ein bisschen für sich. Und fängt schließlich selbst bei den Bambini an. Nur zwei Jahre spielt er dort, denn sein herausragendes Talent spricht sich in der Pfalz rum. Olaf Schmäler, ein ehemaliger Bundesligaspieler vom VfB Stuttgart, ruft ein Jahr lang ständig bei Nadiems Eltern an. Schmäler ist jetzt Jugendtrainer beim 1. FC Kaiserslautern und will deren jüngeren Sohn unbedingt an den Betzenberg holen. Die Amiris geben dem hartnäckigen Werben nach - in den nächsten fünf Jahren pendelt Nadiem fast täglich die rund 60 Kilometer zwischen Ludwigshafen und Kaiserslautern.

Als er 13 ist, mustert ihn der Traditionsklub plötzlich aus. „Ich sei zu schlecht, haben die gesagt“, erinnert sich Nadiem und muss schmunzeln. Denn diese Beurteilung macht ihm damals herzlich wenig aus. Er wechselt einfach zu einem anderen Verein mit langer Historie, dem SV Waldhof Mannheim. Ist eh praktischer, weil quasi gleich um die Ecke von Ludwigshafen, er muss nur einmal über die Brücke auf die andere Rhein-Seite. Sein Bruder hatte dort auch in der Jugend gespielt, später sogar bei den Profis. Und sein Onkel war mal in der Mannheimer Fan-Szene unterwegs gewesen. Nadiem lächelt: „Es steckte viel Familie in dem Klub.“

Vieles war zerstört. Ich sah die Panzer durch die Straßen fahren

In seine Waldhof-Zeit fällt eine Familienreise der ganz besonderen Art. Mit seinen Eltern fliegt der 14-jährige Nadiem nach Afghanistan. Vater und Mutter sind hier geboren. Beide stammen aus Kabul, das sie in den 80er Jahren nach dem Einmarsch der Sowjets verlassen haben. Jetzt wollen sie ihrem Sohn die Stadt ihrer Kindheit und Jugend zeigen. Und Nadiem ist tief beeindruckt. „Vieles war zerstört. Ich sah die Panzer durch die Straßen fahren. Natürlich war das auf der einen Seite bedrückend und beängstigend, wir mussten aufpassen. Trotzdem habe ich mich dort auch irgendwie zu Hause gefühlt. Meine Eltern führten mich durch ihre Stadt, in der sie eine schöne Kindheit verbracht hatten. Wir fuhren auch mal raus in die Berge. Ich fand die Natur wunderschön.“

Zwei Wochen verbringt er in Afghanistan. Heute lebt nur noch ein Onkel in Kabul. Alle anderen Familienmitglieder sind nach Deutschland oder Kanada ausgewandert. Die Familie seiner Mutter und einige Verwandte seines Vaters leben in Toronto. Auch zu ihnen pflegt er engen Kontakt; erst kürzlich waren wieder einige zu Besuch in Düsseldorf bei ihm. „Meine Familie ist mir extrem wichtig, gerade meinen Eltern verdanke ich so unglaublich viel“, sagt Nadiem. Auf die Frage, was sie ihm vor allem mitgegeben haben, antwortet Nadiem nach kurzem Nachdenken: „Dass ich jedem Menschen mit Respekt begegnen soll, Freundlichkeit und Höflichkeit anderen gegenüber sind wichtig Werte für sie und sind es auch für mich .“

Nadiem, der sowohl die deutsche als auch die afghanische Staatsbürgerschaft besitzt, spricht fließend Persisch. Aber er verfolge die aktuelle politische Situation im Land seiner Eltern und Großeltern nicht sehr intensiv, gesteht er. „Weil es mich bedrücken und runterziehen würde.“

Was den Fußball in Afghanistan betrifft, ist Nadiem über seinen Cousin Zubayr Amiri freilich sehr gut informiert. Denn der spielt für die afghanische Nationalmannschaft. „Er sagt, es wird immer besser. Im Team sind viele, die in Europa Fußball spielen. Auch Ausrüstung und Betreuung werden professioneller.“ Zubayr selbst schnürt die Fußballschuhe für den SC Hessen Dreieich in der Hessenliga. Fast hätte auch er den Sprung zum Bundesliga-Profi geschafft. Als 20-Jähriger spielte er einst für die zweite Mannschaft von Eintracht Frankfurt, durfte schon bei den Profis mittrainieren, die damals von Christoph Daum gecoacht wurden. Warum dann aus der Profi-Karriere doch nichts wurde, dazu hat Zubayr Amiri selber einmal offen Stellung bezogen: „Mir ist das Ganze zu Kopf gestiegen, keiner konnte mich danach mehr auf den Boden zurückholen.“ Nadiem, der ein enges Verhältnis zu seinem Cousin pflegt, kann das nachvollziehen: „Er war mehr oder weniger auf sich alleine gestellt, und das in relativ jungen Jahren. Da kommst du schnell mal auf andere Gedanken, bist nicht mehr ganz so fokussiert, denkst, du hast es schon geschafft. Ich bin meinem Cousin und auch meinem Bruder Nauwid jedenfalls sehr dankbar für ihre wertvollen Tipps.“

Amiri_imago43322701h.jpg
Debüt in der Nationalmannschaft: Im Oktober kam Nadiem gegen Argentinien erstmals im Team von Bundestrainer Joachim Löw zum Einsatz.

Zubayr kommt bislang auf 25 Länderspiele für Afghanistan. Hätte er, Nadiem, sich auch vorstellen können, das rote Trikot für den aktuell 149. der FIFA-Weltrangliste zu tragen, wenn es mit einer Berufung in die DFB-Auswahl nicht geklappt hätte? „Ja, auf jeden Fall!“, sagt Nadiem, und es klingt sehr entschieden. Viele Afghanen sind stolz auf den Werkself-Profi, stolz darauf, dass es einer der ihren in den Kader des viermaligen Weltmeisters geschafft hat. Als er erstmals von Joachim Löw berufen wurde, verkündete Afghanistans einflussreicher Medien-Mogul Saad Mohseni die Botschaft unmittelbar nach der Bekanntgabe via Facebook. Viele Landsleute freuen sich in den sozialen Medien für Nadiem, wenn auch einige bedauern, dass er nun nicht mehr für Afghanistan auflaufen darf. „So viele Familien-Mitglieder, aber auch Fremde haben bei meinen Eltern angerufen und ihnen gratuliert. Das hat mich sehr bewegt“, sagt Nadiem. 

Als er in die Jugend des SV Waldhof wechselt, ist er von einer Zukunft als deutscher Nationalspieler zwar gefühlt noch Lichtjahre entfernt. Aber seine Karriere nimmt mächtig Fahrt auf. Nach zwei Jahren in Mannheim klopft 2012 die TSG 1899 Hoffenheim bei ihm an. Und erst jetzt glaubt auch Nadiem, dass es was werden könnte mit einer Laufbahn im Profi-Fußball. „Vorher war alles nur Spaß.“

Rasant entwickelt sich der schnelle, technisch starke und torgefährliche offensive Mittelfeldspieler in Sinsheim weiter. Es geht Schlag auf Schlag: 2013 gibt er sein Debüt in der deutschen U18-Nationalmannschaft, 2014 wird Hoffenheim mit Amiri erstmals deutscher A-Junioren-Meister. Nur knapp ein Jahr später absolviert er sein erstes Pflichtspiel für die Profis. Es ist der 7. Februar 2015, drei Tage zuvor stand er gegen Werder Bremen zum ersten Mal im Profikader. Dann folgt das Auswärtsspiel in Wolfsburg. Trainer Markus Gisdol präsentiert im Mannschaftshotel die Startelf, und Nadiem Amiri liest seinen Namen. Kurz darauf ruft er seinen Bruder an und sagt nur: „Ich spiele.“ Dann legt er auf und schaltet sein Handy aus. Er hat noch nicht mal „Hallo“ und „Tschüs“ gesagt. Sein Bruder macht sich mit den Eltern auf den Weg nach Wolfsburg, zu dritt sitzen sie bei der Profi-Premiere von Nadiem auf der Tribüne. Die TSG verliert zwar klar mit 0:3 beim VfL, aber der Debütant ist glücklich.

Dabei hat ihm der Kollege Kevin Volland vor dem Anpfiff nicht gerade Mut gemacht. „Ich spielte auf der rechten Außenbahn, Kevin im Sturmzentrum. Er kam beim Warmmachen zu mir und sagte kurz: ‚Viel Spaß mit Rodriguez, Junge‘“, erinnert sich Nadiem und lacht laut. „Anstatt mich zu pushen, sagt der sowas, ich dachte nur: ‚Du Blödmann‘ und war dann mega nervös in den ersten Minuten.“ Aber Ricardo Rodriguez, der so gefürchtete Schweizer auf der linken Abwehrseite, hatte keinen starken Tag erwischt - und der 18-jährige Nadiem Amiri eine erste Visitenkarte im Profifußball abgegeben.

Amiri_imago18901329h.jpg
Bundesliga-Premiere: Erster Gegenspieler von Nadiem war im Februar 2015 der Wolfsburger Ricardo Rodriguez.

Überhaupt war Hoffenheim für ihn eine Zeit der ersten Male. Auf U19-Meisterschaft und Bundesliga-Debüt folgten die erste Qualifikation für die Europa League und später für die Champions League. „Hoffenheim bleibt für mich immer in meinem Herzen. Ich hätte ja nie gedacht, dass ich dort sieben Jahre bleiben würde. Es ist verrückt, was wir dort alle gemeinsam erreicht haben in dieser Zeit.“ Nicht zu vergessen natürlich auch der Triumph mit der deutschen U21-Auswahl, mit der er 2017 – als jüngster im Team – Europameister und 2019 Vize-Europameister geworden ist. Und dabei jeweils zu den Besten zählte.

In mir steckt immer noch sehr viel Straßenfußballer, den bekommt keiner aus mir raus

Nadiem hat eine Musterkarriere in Verein und Verband hingelegt. Er besuchte das Jugendleistungszentrum in Sinsheim und das TSG-Internat, machte mit 17 ein freiwilliges Soziales Jahr in einem Kindergarten gleich neben dem Dietmar-Hopp-Stadion, bastelte, sang und kickte mit den Kids. Absolvierte für den DFB 51 Junioren-Länderspiele. Die klassische Laufbahn eines JLZ-Spielers? „Ja und Nein“, sagt Nadiem. „In mir steckt immer noch sehr viel Straßenfußballer, den bekommt keiner aus mir raus. Der macht mich auch stark und giftig.“

Spielertypen wie er sind längst wieder gefragt - auch beim Deutschen Fußball-Bund. Tobias Haupt, der Leiter der neuen DFB-Akademie, sagte in einem Interview mit der „Welt“: „Wir haben festgestellt, dass zuletzt zu viele gleichförmige Spieler oben angekommen sind. Wir brauchen mehr Führungspersönlichkeiten auf dem Rasen. ... Dieses Durchsetzen und Vorangehen lernst du auf dem Bolzplatz.“ Ein Anforderungsprofil, das Spieler wie Nadiem Amiri erfüllen, die gerne ins Dribbling gehen, die in engen Räumen Lösungen finden und ihrer Intuition trauen. „Er ist dank seiner Schnelligkeit, Zielstrebigkeit, seines ausgeprägten Zugs zum Tor und hervorragender technischer Fähigkeiten genau der Typ Spieler, den wir für unseren Kader noch gesucht haben“, hob Bayer 04-Sportdirektor Simon Rolfes die Qualitäten des Deutsch-Afghanen bei dessen Vorstellung in Leverkusen hervor.

Amiri_imago28903688h.jpg


Dass er mit seiner Dynamik ein belebendes Element im Spiel der Werkself ist, hat Nadiem in drei Wettbewerben schon oft unter Beweis stellen können. Ob im zentralen Mittelfeld oder im linken Halbraum. „Ich bin sehr zufrieden mit meinen ersten Monaten bei Bayer 04 und dankbar, dass ich so viel spielen darf“, sagt die Nr. 11 der Werkself. „Ich denke auch, dass ich gut hier reinpasse und das Team verstärken kann.“ Innerhalb der Mannschaft war der Hip-Hop- und Deutsch-Rap-Fan schnell integriert. Auch, weil er in Kerem Demirbay („Er ist wie ein großer Bruder für mich!“) und Kevin Volland wieder auf zwei ehemalige TSG-Mitspieler traf und darüber hinaus auch Jonathan Tah und Mitch Weiser von der U21 her kannte. Seine erste Berufung in die A-Nationalmannschaft und das Debüt gegen Argentinien Anfang Oktober kamen dann auch alles andere als überraschend. „Er hat sich diese Nominierung über einen längeren Zeitraum absolut verdient und darf stolz auf sich sein“, freute sich Bayer 04-Chefcoach Peter Bosz für seinen Schützling, der in den EM-Qualifikationsspielen gegen Estland und Nordirland zu zwei weiteren Kurz-Einsätzen kam.

Weil es inzwischen aufgehört hat zu regnen, gehen wir noch einmal an Deck und wollen ein paar Fotos schießen. Was gar nicht so einfach ist bei dem Wind, der uns immer noch ordentlich um die Nase weht. Einmal geht sogar der Reflektorschirm fliegen und landet im Wasser. Aber Jörg, der Fotograf, ist auf Zack, sprintet kurz auf die andere Seite rüber, lehnt sich weit über die Reling und zieht den Schirm beherzt aus den Fluten. Glück gehabt. Wir nehmen es als Zeichen, uns nach einer Stunde langsam zu verabschieden. Der Rhein zeigt sich heute von seiner ungemütlichen Seite. Und außerdem sind Nadiems Eltern zu Besuch aus Ludwigshafen angereist und warten in Düsseldorf schon auf ihren Sohn.