„Er vereinigt das Zeitlose mit dem Zeitgemäßen“ – so urteilte der frühere argentinische Nationalspieler Diego Latorre über seinen Landsmann Lucas Alario. Der neue Mittelstürmer der Werkself verfügt über verlässliche Knipser-Qualitäten – gerade auch in großen Spielen. Ein Anpacker fürs Teamwohl, kein Künstler für die Galerie. Nicht verwunderlich, dass Bayer 04 alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um die Verpflichtung des 25-jährigen Nationalspielers zu stemmen.
Die Rückennummer als Sinnbild seiner sportlichen Kragenweite. Die 13. An sich nichts Wildes, aber zwei Ziffern mit Strahlkraft in der Werkself-Geschichte. Michael Ballack hat sie getragen. Und Rudi Völler in seinen beiden Jahren in Schwarz und Rot. Das nennt man dann mal Fußstapfen. Und ein dritter ganz Großer der Bayer 04-Historie war ebenfalls nicht weit, als Lucas Alario bei seiner Bundesliga-Premiere gegen den Hamburger SV seinen ersten Treffer in Leverkusen setzte. Der dunkelhaarige Stürmer hat‘s gemacht, wie einst der „Schwatte“: Als Ulf Kirsten im August 1990 sein erstes Bundesligaspiel für Bayer 04 bestritt, bei den Bayern unterm Zeltdach des Olympiastadions, war er in ganz ähnlicher Manier wie jetzt Alario in der BayArena erfolgreich. Flanke von links, scharf und halbhoch von der Außenbahn hereingebracht, Formsache für einen Instinktjäger, der auf Tore aus ist: mit vollem Tempo dahin, wo die Beute erwartet wird, ein Sprung nach vorn, den rechten Fuß grätschend ausgefahren und mit der Innenseite volley rein ins Glück. Diesmal hatte Leon Bailey mit links geflankt, damals in München war‘s Ioan Lupescu mit dem rechten Außenrist.
Noch eine weitere Parallele zu Ulf Kirsten tat sich übrigens auf – zumindest, wenn man den sprachlichen Interpretationen einiger Journalisten folgte. Kirsten war in der Endphase seines sportlichen Schaffens vor einem Champions-League-Duell in Lyon von der französischen Fachzeitschrift L‘Equipe wegen seiner ständigen Treffsicherheit mal als „le vieux fusil“, das alte Gewehr, bezeichnet worden. Alario eilte der Spitzname „El Pipa“ voraus, woraus einige Medienvertreter eilfertig „die Knarre“ machten. Wär‘ ja auch zu schön gewesen! Allerdings wischte der Argentinier diese Übersetzung bei der Pressekonferenz zu seiner Vorstellung gleich mal ganz gelassen vom Tisch. „Der Beiname bedeutet ,die Pfeife‘, ich trage ihn schon seit meiner Jugendzeit bei Colón. Den haben mir die Leute gegeben, weil sie meinen, dass ich so eine große Nase habe, die in ihrer Form an eine Pfeife erinnert“, erzählte Lucas.
Nase hin, Pfeife her, Knarre weg – Lucas Alario erlebte in der BayArena gegen den Hamburger SV ein Debüt wie gemalt. Und seiner Ansage auf dem Rasen folgte die von den Rängen, als die begeisterten Werkself-Anhänger erstmals diese 04 Silben nach einem Tor skandierten: A – la – ri – o!!! „Es war großartig, diese Unterstützung der Fans zu spüren, das hat einfach nur gut getan“, sagte der 25-Jährige – er hat sich ja schließlich auch lange genug gedulden müssen, bis er sein Können in neuer Umgebung endlich auf den Platz bringen konnte. „Es ist schwierig, wenn du jeden Tag nur trainierst, aber nicht spielen darfst“, sagt er im Rückblick auf seine erste Zeit in Leverkusen, als er sich mit Trockenübungen auf dem Trainingsgelände begnügen musste, statt sein Stürmerblut in der Arena einem geneigten Publikum vorführen zu können. Nachkarten oder gar -treten in Richtung River Plate ist aber nicht sein Ding. „Was in der Zeit passiert ist, hatte nicht alles was mit Fußball zu tun“, sagt er ganz diplomatisch, „aber jetzt bin ich einfach nur erleichtert, dass die wochenlange Unsicherheit vorbei ist und ich endlich für meinen neuen Verein eingreifen kann.“
Eingreifen auf dem Platz – das ist für Lucas Alario weit mehr als das Zählen eigener Tore. Deshalb reagierte er auch verblüfft, als er von Medienvertretern gefragt wurde, warum er denn gegen den HSV, als er mit seinem uneigennützigen Querpass Kevin Volland das 3:0 auf dem Silbertablett servierte, nicht selbst den Abschluss gesucht habe: „Ich hatte den Torwart vor mir, der den Schuss vielleicht gehalten hätte, daher habe ich mich entschieden, meinen freien Mitspieler zu bedienen. Ein Stürmer sollte wissen, dass es nicht nur um ihn geht, sondern immer erst um die Mannschaft.“ Zack, das war mal ‘ne Ansage: von wegen Egoshooter, first of all Teamplayer!
Diese Qualität des in Tostado – einer kleinen Gemeinde im Norden der Provinz Santa Fé – geborenen Mittelstürmers war einer der Gründe, warum Bayer 04 gegen alle Widerstände vehement für die Verpflichtung Alarios gekämpft hat. „Es ist für einen Stürmer heute nicht mehr damit getan, nur vorn auf Bälle zu warten und Tore zu machen. Er muss auch arbeiten, und das macht Alario. Er hat schon in Argentinien gezeigt, dass er sehr mannschaftsdienlich ist. Deshalb wollten wir ihn ja unbedingt zu uns holen“, betont Sportchef Rudi Völler. Malochen und knipsen zugleich – auch da kommt einem wieder Ulf Kirsten in den Sinn, oder aber auch Stefan Kießling. Es sind wohl auch deshalb genau diese Profis, denen die dauerhafte Zuneigung der Fans zufliegt – weil sie den Wert von Arbeit auf dem Rasen kennen und das Grobe nicht scheuen, statt nur die künstlerische Haltung oder nummerische Torquote im Blick zu haben. Der Berichterstatter des Kölner Stadt-Anzeigers formulierte es in seiner Einzelkritik zu Alario nach dem HSV-Spiel so: „Er ging Dutzende Wege und bestritt gefühlt 1000 Zweikämpfe.“
Kein Wunder also, dass die Wellen in Argentinien mächtig hochschlugen, wer verliert schon gern einen solch wertvollen Mann? Alarios Arbeitgeber River Plate reagierte zunehmend bockig, als der Wechsel Gestalt annahm – und die Fans der „Millionarios“, wie Rivers Spieler in Argentinien genannt werden, weinten ihrem abwanderungswilligen Torjäger dicke Tränen nach, in denen auch eine Menge Enttäuschung und Wut steckten. „Natürlich habe ich das mitbekommen“, sagt Lucas, „es wäre eine Lüge, wenn ich sagen würde, es sei anders. Gerade über die sozialen Medien habe ich viel gelesen und gehört. Ich kann die Leute auch verstehen. Aber es war eine persönliche Entscheidung, die ich da getroffen habe, und ich fühle mich wohl damit. Die Bundesliga ist eine Liga, die ich verfolgt habe, und mit Leverkusen war ein großer Verein an mir interessiert. Es kommt die Zeit, in der man seinen Fähigkeiten vertrauen und wachsen muss.“
So hat er es schließlich schon öfter gehalten in seiner Karriere. Weiterziehen und wachsen. Von seinem ersten Klub San Lorenzo zu Colón in die Hauptstadt von Santa Fé, wo er mit 18 Jahren sein Profidebüt gab. Und von dort schließlich vier Jahre später 2015 zu River nach Buenos Aires. Der nächste Schritt im Wachstum, definitiv ein ziemlich gewagter – nicht nur, weil Lucas eigentlich Fan von Boca war, deren Juniors mit River eine derart tief verwurzelte Abneigung verbindet, dass die Rivalität zwischen Anhängern Schalkes und Dortmunds dagegen wie ein Kuschelprogramm wirkt. Bocas Blau-Gelb gegen Rivers Rot-Weiß, der Arbeiterverein des einfachen Volks gegen das Team der Mittel- und Oberschicht, die Kämpfer gegen die Künstler – bei den Anhängern in Argentinien kommt die Entscheidung einem Glaubenskrieg gleich, sie spaltet Land und Leute, entsprechend gesalzen geht es bei diesem Superclásico auf Rasen und Rängen zu.
Das Duell gilt als das heißeste Derby der Welt, oft waren es Schlachten, die da auf dem heiligen Grün im engen La Bombonera von Boca oder dem weitläufigen El Monumental bei River ausgetragen wurden – es hagelt traditionell Platzverweise, keine Veranstaltung im ganzen Land bedarf größeren Polizeischutzes. Als River 2011 nach 110 Jahren in die 2. Liga abstieg, veranstalteten die Blau-Gelben krachende Pyro-Partys auf den Straßen Buenos Aires‘, während auf der anderen Seite Autos brannten und Lokale geplündert wurden. 1968 waren in River Plates Stadion 74 Menschen gestorben, nachdem Boca-Anhänger brennende Zeitungen in einen Fanblock geworfen haben sollen und so eine Massenpanik ausgelöst hatten; in den 90er Jahren wurden vier River-Fans Opfer von Auftragsmorden der Gegenseite.
Ein junger Profifußballer, der Boca im Herzen und River auf dem Trikot trägt, traut sich also mal richtig was. Wenn man besonders an Widerständen wächst, hatte sich Alario das denkbar größte Hindernis ausgesucht. Vermutlich war es da eine durchaus hilfreiche Fügung, dass Rivers neuer Stürmer, der zuvor seinem alten Klub Colón mit vielen Toren 2015 in der 2. Liga zum sofortigen Wiederaufstieg verholfen hatte, von einer argentinischen Legende in den Adelsstand erhoben wurde. „Lucas ist der beste Spieler in Argentinien, er ist perfekt für River“, sprach der große Weltmeistercoach Cesar Luis Menotti und lieferte Alario somit die bestmögliche Starthilfe in neuer Umgebung.
Alario tat es ihm nach – und lieferte ebenfalls. Und wie er lieferte! Ähnlich wie bei seiner Bundesliga-Premiere für die Werkself gegen Hamburg benötigte er keinerlei Anlaufzeit und zündete sofort. Im Halbfinal-Hinspiel der Copa Libertadores, Südamerikas Gegenstück zur Champions League, bereitete er die Tore zum 2:0-Sieg gegen Guarani vor, im zweiten Duell mit dem Vertreter aus Paraguay erzielte er seinen ersten Treffer für River. Im entscheidenden Endspiel gegen Tigres de Monterrey (Mexiko) netzte Alario nach dem torlosen Hinspiel unmittelbar vor der Pause per Kopfballaufsetzer zur Führung. Am Ende hieß es 3:0, vier Jahre nach dem Abstieg und 19 Jahre nach dem letzten Triumph in der Copa Libertadores der dritte Titel in diesem Wettbewerb für River, den Klub solcher geschichtsträchtiger Größen wie Mario Kempes, Hernan Crespo, Daniel Passarella, Claudio Caniggia, Javier Saviola oder Alfredo Di Stéfano. Und das nicht zuletzt dank eines Boca-Fans! Mein lieber Scholli!
„Einfach nur unglaublich, es kam alles so plötzlich“, sagte Lucas, als könne er selbst einfach nur staunen. „Die Gruppenspiele von River habe ich noch im Fernsehen verfolgt.“ Da hatte er noch bei Colón unter Vertrag gestanden. Ein Jahr danach langte Lucas erneut hin, als es drauf ankam und Spitz auf Knopf stand. Mit sieben Toren in sechs Spielen ebnete er River den Weg zum Gewinn der Copa Argentina 2016 – drei davon machte er allein im Endspiel nach zweimaligem Rückstand beim 4:3 gegen Rosario Central, zweimal per Elfmeter, einmal gedankenschnell aus kurzer Distanz. „Er ist fantastisch“, sagte Rivers Sportdirektor und Uruguay-Legende Enzo Francescoli, und der so Gelobte fühlte sich danach einfach nur „wie im Traum“.
Marcelo Gallardo, Alarios Trainer bei River, sagte über ihn: „Alario ist wichtig, weil er die wichtigen Tore macht.“ Die Süddeutsche zitierte den früheren argentinischen Nationalspieler Diego Latorre in einer Kolumne für die Zeitung La Nación: „Alario vereinigt das Zeitlose mit dem Zeitgemäßen“, heißt es da, „den Killerinstinkt der klassischen Mittelstürmer mit der Fähigkeit, am Kombinationsspiel moderner Prägung teilzunehmen“.
Eine Ahnung davon erhält man auch bei Ansicht eines Videos auf der Internet-Plattform Youtube, in der besondere Szenen und Tore Alarios gelistet werden. Die breite Palette seiner Vorzüge darin spricht für sich: unglaublich gutes Timing beim Kopfball, der trotz seiner überschaubaren Größe von 1,84 m wuchtig und präzise kommt, ein Knipser-Näschen für den richtigen Riecher im Abschluss, gediegene Technik, strammer Schuss und flinker Antritt. Und dann auch noch ein kämpfender Teamplayer, der beschwerliche Wege nach hinten nicht scheut. Solche Jungs wachsen nicht eben auf Bäumen.
Nur folgerichtig, dass Alario auch schon im hellblau-weiß gestreiften Dress für Argentinien aufgelaufen ist. Vor gut einem Jahr das Debüt an der Seite von Lionel Messi, im Juni im dritten Länderspiel sein erstes Tor beim 6:0 gegen Singapur. Gut möglich, dass das auch auf dieser Ebene für ihn erst der Anfang ist, sollte er so weitermachen mit seinem rasanten sportlichen Wachstumstempo. „Er hat unglaublich gute Laufwege, ein absoluter Vollblutstürmer“, schwärmte Werkself-Kapitän Lars Bender im kicker über seinen neuesten Kollegen, der auch in seinem zweiten Heimspiel gegen Wolfsburg und anschließend im Pokal gegen Union Berlin traf.
Lucas Alario selbst pflockt die Messlatte seiner Möglichkeiten ebenfalls auf anspruchsvoller Höhe fest: „Robert Lewandowski ist ein Spieler, der meinen Stil widerspiegelt. Ich schaue mir viel von ihm ab.“ Wenn es die 13 aber auch künftig so macht wie einst Ulf Kirsten, ist‘s mindestens ebenso recht.