„Was macht ihr denn hier?“

Heute vor 35 Jah­ren: das erste UEFA-Cup-Spiel

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Die Werkself ist am Donnerstagabend erfolgreich gegen Ferencvaros Budapest in die Europa League gestartet. Heute vor genau 35 Jahren trug Bayer 04 sein allererstes Spiel im Vorgänger-Wettbewerb aus, dem UEFA-Cup. Bei Kalmar FF gewann die Mannschaft von Trainer Erich Ribbeck mit 4:1. Rund 300 Fans wollten damals bei der internationalen Premiere ihres Klubs dabei sein – und haben auf der beschwerlichen Tour nach Schweden einige Abenteuer erlebt. Wir erinnern uns mit einigen von ihnen an das erste Mal.

Früher konnte das Reisen so unkompliziert sein. Lästige Online-Suche nach dem billigsten Billigflieger? Ach was, einfach rein ins Auto und los. Ewiges Scrollen auf booking.com und Co. nach dem passenden Hotel? Nicht nötig, vor Ort wird sich schon was finden. Und überhaupt: No risk, no fun – das war doch schon immer das Motto der richtigen Abenteurer.

Mit dieser Einstellung machten sich fünf Jungs aus Leverkusen vor 35 Jahren auf den Weg nach Südschweden. In einem kleinen blauen Opel Kadett. Jockel, der Fahrer, hatte erst zwei Wochen zuvor seine Führerschein-Prüfung bestanden. Das Auto gehörte seiner Mutter. Von den anderen Mitreisenden besaß noch keiner die Fahrerlaubnis. Drei Dinge hatten die Freunde gemeinsam: ihre Leidenschaft für Schwarz-Rot, ihren Pioniergeist, unbedingt beim ersten UEFA-Cup-Spiel von Bayer 04 dabei sein zu wollen und ihre Körpergröße.

Sie alle waren lange Kerls. Theo, ein Hüne von über 1,90 Meter, nahm auf dem Beifahrersitz Platz; Dirk, Andreas und „der Schotte“ zwängten sich auf die Rückbank. Eine enge Kiste im wahrsten Sinne des Wortes. „Das alles machte einen ziemlich kompakten Eindruck“, erinnert sich Jockel und muss grinsen: „Und wir hatten keine Ahnung, wie lange wir unterwegs sein würden.“

Auf der „Peter Pan“ nach Trelleborg

Heute berechnet Google Maps für die Strecke Leverkusen – Kalmar rund 1.100 Kilometer.

Damals überschlugen die Fans die Entfernung nur Pi mal Daumen. Als Jockel, der mit bürgerlichem Namen Jörg Redmann heißt, im Radio gehört hatte, dass Bayer 04 in der ersten Runde des UEFA-Cups in Kalmar spielen würde, holte er sofort seinen alten Diercke-Weltatlas aus dem Regal. Kalmar? Wer kannte denn schon Kalmar? Jockel jedenfalls nicht. „Aber für mich stand fest: Da musst du hin!“

Seit Anfang der 70er Jahre ist er Fan von Bayer 04, war bei Heimspielen immer im Stadion, schon zu Zweitliga-Zeiten. Jörg Redmann hat den Bundesliga-Aufstieg miterlebt. Jetzt wollte er natürlich auch die internationale Premiere seines Klubs live erleben. 

Am Montagabend, zwei Tage vor dem Spiel, ging’s los Richtung Norden. Den groben Streckenverlauf hatten sich die Jungs auf einer Karte angeschaut. Der Ghettoblaster auf Theos Oberschenkeln hielt die Truppe wach, am frühen Dienstagmorgen war Travemünde erreicht. Auf die fünfstündige Autofahrt folgten rund acht entspannte Stunden auf der Fähre „Peter Pan“ nach Trelleborg. „Keiner von uns war jemals zuvor auf einer Fähre gewesen, wir staunten, was es hier alles zu entdecken gab: Einen Duty-Free-Shop und man konnte sogar in die Sauna gehen“, erzählt Jockel.

Irgendwann am Dienstagnachmittag kam das Quintett in Kalmar an. War nicht viel los in diesem kleinen, etwas verschlafenen Küstenort in Smaland. Von hier aus konnte man über den Kalmarsund auf die gegenüberliegende Insel Öland schauen, auf der die schwedische Königsfamilie seit über 100 Jahren ihre Sommerresidenz, Schloss Solliden, hat.

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Angekommen in Kalmar: der „Schotte“, Theo, Jockel, Andreas und Herbert aus Offenbach (v.l.).


Wie in einem Pippi-Langstrumpf-Ort

„Wir liefen ein bisschen durch die Stadt, guckten uns auch schon mal das Stadion an, wo gerade Schüler-Leichtathletikmeisterschaften stattfanden.“ Die Zuschauer aus Leverkusen feuerten an und sorgten in ihren Kutten für einiges Aufsehen. „Wir kamen uns vor wie in einem Pippi-Langstrumpf-Ort“, sagt Jockel. „Wir fühlten uns willkommen und fanden das alles total spannend.“

Bier hieß hier „Öl“ und ein Liter davon kostete 20 D-Mark. Aber klar, dass Alkohol teuer war in Schweden, wusste man schließlich. Also hatte die Reisegruppe vorgesorgt und einiges an flüssigem Vorrat mitgebracht aus Deutschland.

Abends schlenderten die fünf Leverkusener noch einmal durch die Straßen und sahen vor einem Hotel einige größere Metallkoffer stehen, auf denen Bayer 04-Logos klebten. Sie hatten das Mannschaftshotel entdeckt und warfen – wenn man schon mal hier war – einen Blick ins Foyer. Dort plauderte Chefcoach Erich Ribbeck mit seinem Co-Trainer Gerd Kentschke und einigen Betreuern. „Sie waren ziemlich erstaunt, als sie uns erblickten. ‚Was macht ihr denn hier?‘, wollten sie wissen.“ Was für eine Frage. Na ja, man wolle das Spiel gucken. „Aber das findet doch erst morgen statt“, sagte Ribbeck. Richtig, man sei eben ein bisschen eher angereist, um noch etwas von der Stadt zu sehen, antworteten die Fans.

Ribbeck bestellte Schnittchen für die Fans

„Habt ihr schon etwas gegessen“, wollte Ribbeck wissen. Auf das Herumdrucksen der Gruppe hin orderte der Trainer in der Hotelküche eine große Platte mit Schnittchen. „Wir unterhielten uns fast eine Stunde und machten uns dann wieder auf den Weg.“ Aber wohin jetzt? Ein Hotel war nicht gebucht. Die Jungs hatten sich gleich nach ihrer Ankunft in Kalmar ein Wartehäuschen in der Nähe des Busbahnhofs als Nachtquartier ausgeguckt. „Das war zwar nicht komplett geschlossen, schien uns aber ganz geeignet.“ Weil keiner von ihnen einen Schlafsack eingepackt hatte und die September-Nacht kälter als erwartet wurde, drohte es, ungemütlich zu werden.

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Mittendrin statt nur dabei: Trainer Erich Ribbeck im Mannschaftstraining.


„Irgendwann hörten wir in der Ferne Schlachtgesänge, die wir gut kannten: ’Hurra, hurra, der Bayer, der ist da.‘“ Sie hätten am liebsten gleich lauthals mitgesungen, so groß sei die Freude über eine weitere unverhoffte Begegnung gewesen. Einer der näherkommenden Sänger war Michael Varutti. Der hatte sich mit anderen Freunden schon Tage zuvor ein Ferienhaus in Vetlanda gemietet und den Besuch des UEFA-Cup-Spiels mit einem Kurzurlaub verbunden. „Ein Holzhaus in Schweden-Rot mitten im Wald an einem kleinen See mit nix drumherum – wie man es aus den Reiseprospekten kannte. Auch ein Boot gehörte dazu“, erzählt Varutti, der mit einem der Freunde, einem Fan der Offenbacher Kickers, die rund 140 Kilometer von Vetlanda nach Kalmar fuhr. Hier suchten sich die beiden ein günstiges Hotelzimmer. Als sie auf Jockel und die anderen stießen – man kannte sich natürlich damals innerhalb der noch überschaubaren Leverkusener Fanszene – boten sie den Frierenden an, doch bei ihnen im Hotelzimmer zu übernachten. „Viel geschlafen haben wir trotzdem nicht, weil’s mit sieben Mann in einem kleinen Doppelzimmer recht eng war“, sagt Jockel. „Aber immer noch besser, als sich im Wartehäuschen den Arsch abzufrieren.“  

Elchfleisch auf dem Teller, Salz im Bier

Im Laufe des Mittwochs, dem Spieltag, trudelten weitere Werkself-Fans in Kalmar ein. Rund 100 Anhänger waren mit den zwei von der Fanszene organisierten Bussen angereist. Darunter Volker Burkandt und Manni Wirsch. Bayer 04 hatte ihnen und den anderen Busreisenden noch Fanartikel mit auf den Weg gegeben: Fähnchen, Aufkleber, Wimpel, Schals und einiges mehr. „Das verteilten wir später an die Fans von Kalmar in deren Stadion“, sagt Volker, „die haben sich wirklich darüber gefreut“. Und ein bisschen Werbung in eigener Sache konnte auch nicht schaden.

Erst einmal aber wollten auch die Leverkusener Neuankömmlinge die Stadt besichtigen und sich kulinarisch akklimatisieren. Während Manni zum ersten Mal in seinem Leben Elchfleisch probierte, wunderte sich Michael „Toni“ Schumacher, der eine 16-stündige Bahnfahrt hinter sich hatte, über eine Eigenart der Schweden beim Bier trinken. „In den Kneipen kippten sich die Leute Salz in ihr ‚Lettöl‘-Bier, damit sich eine Schaumkrone entwickelte.“ Andere Länder, andere Sitten.

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Michael „Toni“ Schumacher reiste per Bahn an und war 16 Stunden unterwegs.


In der alten Arena, dem „Fredriksskans“, das bereits 1910 eingeweiht worden war, ging es so beschaulich zu wie in der Stadt. Nur rund 2.000 Zuschauer sahen sich das Spiel an. „Man konnte sich im ganzen Stadion frei bewegen, es gab keine Blöcke, keine Absperrgitter und kaum Kontrollen“, erzählt Manni.

Für Ordnung musste nicht gesorgt werden, wer sollte die schon stören? Auch in Jockels Erinnerung waren nur zwei Polizisten vor Ort. Einer davon fühlte sich immerhin bemüßigt, seinen Kumpel Theo, den Hünen, vorsichtshalber zu ermahnen: „Make no trouble and no fighting.“ Nein, warum sollten sie Ärger machen, sie wollten Spaß haben und ihre Mannschaft anfeuern.

Knapp 300 Bayer 04-Fans hatten sich auf der Gegengeraden eingefunden und machten schon vor dem Spiel ordentlich Stimmung. Rüdiger Vollborn konnte kaum glauben, dass so viele Anhänger den weiten Weg nach Schweden auf sich genommen hatten. „Ich war total baff, als ich bei unserem Mittagsspaziergang vor unserem Hotel ein paar Fans von uns traf“, sagt die Torhüter-Legende. Und wie Erich Ribbeck am Abend zuvor brachte auch er nur ein „Was macht ihr denn hier?“ heraus.

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Ballwechsel mit Thomas Hörster

Berührungsängste gab es jedenfalls keine. Auch später im Stadion nicht. Als die Mannschaft eine Stunde vor Anpfiff auf den Platz kam und Thomas Hörster kurz den Leverkusener Fans zuwinkte, rief Theo: „Hey Thommi, soll ich dich ein bisschen warmmachen?“ Hörster hatte offensichtlich nichts dagegen. Jockel erinnert sich: „Also sprang Theo über die Bande und schoss tatsächlich ein paar Bälle mit Thomas Hörster hin und her. Mitten auf dem Platz. Stell‘ dir das heute mal vor einem internationalen Spiel vor!“

Ungewöhnlich auch, dass sich mitgereiste Profis wie Minas Hantzidis, die nicht zum Spielkader zählten, während der Partie zu den Fans auf die Tribüne gesellten. So locker der Umgang zwischen Fans und Mannschaft war, so entspannt gestaltete sich auch das Spiel selbst. Schon nach 19 Minuten hatte Christian Schreier zweimal für die in Weiß spielende Werkself getroffen, Bum-kun Cha und Falko Götz schraubten das Ergebnis nach einer guten Stunde auf 4:0. Kein Wunder, dass im Fredriksskans fast nur die Fans aus Leverkusen zu hören waren. Immerhin durften die heimischen Anhänger noch den Ehrentreffer ihrer Mannschaft bejubeln.

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Fix und fertig

Das erste UEFA-Cup-Spiel der Vereinsgeschichte endete also mit einem souveränen 4:1-Sieg über Kalmar FF. Sehr viel lebhafter als der sportliche Erfolg sind denjenigen, die damals dabei waren, freilich die Reise-Erlebnisse in Erinnerung geblieben. Für die meisten ging es gleich nach dem Abpfiff wieder auf die abenteuerliche Rückfahrt.

„Wir entschieden uns jetzt aber nach Tipps von anderen Fans für die Route über Dänemark, die kürzer sein sollte“, sagt Jockel, der zwei Tage lang kaum geschlafen hatte und nun als Fahranfänger sich und seine Jungs wieder heil nach Hause bringen musste. Verständlich, dass sie alle beim Warten auf die erste Fähre eingenickt waren und die ohne sie abfuhr. Ärgerlicher war schon, dass man, als irgendwann die nächste Fähre bereitstand, den Zündschlüssel nicht mehr fand und auch dieses Schiff verpasste. „Als wir endlich wieder in Leverkusen ankamen, war ich fix und fertig“, erinnert sich Jockel. Aber bereut hat er natürlich keinen einzigen Augenblick.

Wie für viele andere der damals in Schweden dabei gewesenen Fan-Pioniere war Kalmar auch für Jockel, Theo, Manni und Co. erst der Anfang. Viele weitere Touren folgten. Bis heute packt sie regelmäßig das Reisefieber, wenn „der Bayer“ auf dem Kontinent unterwegs ist. Nur ein bisschen komfortabler als in den 80er Jahren darf das Reisen dann heute doch gerne sein…

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