Ein Auf­stiegs­held wird 70

Harry Gniech im Por­trät

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In seinem Arbeitszimmer hängt sein erstes Trikot aus der Bayer-Jugend eingerahmt hinter Glas an der Wand. Ein schlichtes weinrotes Shirt ohne Nummer und ohne Kreuz auf der Brust, das er sich selbst hatte kaufen müssen. Auf dem Regal daneben stehen seine dunkelroten Adidas-Fußballschuhe – ziemlich verschlissen, von Stollen keine Spur mehr – aus der ersten Bundesliga-Saison 1979/80. Darüber ein Foto von der Aufstiegsmannschaft, deren Mitglied er sein durfte. Er, der Spätberufene, der eine Profi-Karriere eigentlich längst abgehakt hatte. Der einzige gebürtige Leverkusener im Team von Trainer Willibert Kremer, und der erste Spieler aus dem eigenen Fußball-Nachwuchs, der Bundesliga-Profi wurde. Vielleicht verkörpert kein anderer der Aufstiegshelden den Geist der Truppe so wie Harry Gniech, der Teamplayer, der Bodenständige, der Uneitle.

Wenn er heute zurückblickt auf seine Zeit bei Bayer 04, spricht aus fast jedem seiner Worte die pure Dankbarkeit. Sein Weg in den Profi-Fußball war in der Tat auch alles andere als typisch. Mit sechs Jahren melden die Eltern ihn beim TSV Bayer 04 an. In der Leichtathletik stehen die 50 Meter, Schlagball-Weitwurf, Hochsprung und Weitsprung auf dem Programm. Eigentlich will der Junge aber zum Fußball. Was der Vater ihm so lange verbietet, bis der neunjährige Harry gewisse „Zeugnisauflagen“ erfüllt. Als die Noten stimmen, darf er endlich beim Bayer kicken. Von Anfang an wird er im Mittefeld eingesetzt, entwickelt sich schnell zum Spielmacher.

„Ein unglaublich weiter Weg“

Besonders gerne erinnert sich Gniech noch heute an Duelle mit dem Klub von der anderen Rheinseite. „Der FC war damals in unserer Region das Nonplusultra. Da spielten Jungs wie Herbert Neumann oder Jürgen Glowacz. Aber in der C-Jugend und dann auch später bei den A-Junioren haben wir sie weggehauen.“ Einmal, bei einem 2:1-Sieg, macht Gniech beide Tore. Der Junge ist talentiert, keine Frage. Und er darf als A-Jugendlicher auch schon mal bei der ersten Mannschaft von Spieler- und Trainerlegende Theo Kirchberg mittrainieren. „Aber der Weg aus der Jugend in den Lizenzkader war damals in Leverkusen unglaublich weit“, sagt Gniech.

Er kickt also bei den Amateuren in der Verbandsliga, trainiert unter Gerd Kentschke, wird Mannschaftskapitän. Schließt seine Ausbildung zum Industriekaufmann ab und leistet anschließend seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr. Er wird als Stabsdienstsoldat im Verteidigungsministerium in Bonn eingesetzt, im Sicherheitsreferat des Militärischen Abschirmdienstes. Gniech ist „Heimschläfer“, wohnt zu der Zeit Am Kühnsbusch in Schlebusch, im selben Wohnblock wie Henning Krautmacher, der spätere „Höhner“, mit dessen Bruder Uwe er in eine Klasse ging. Immer wieder mal darf Gniech „oben“ bei der Lizenzmannschaft mittrainieren, aber ein erster Einsatz lässt lange auf sich warten.

Von der Hardthöhe zur Premiere

Irgendwann 1973 lädt ihn Friedhelm Renno, sein ehemaliger A-Jugendtrainer und nun Interimscoach der ersten Mannschaft, tatsächlich zu einem Spiel in Spich ein. Gniech düst direkt vom Verteidigungsministerium auf der Hardthöhe rüber und spielt eine Halbzeit. „Ich hatte überhaupt keine Vorbereitung auf die Partie, keinen Kontakt zur Mannschaft und lange nicht mit ihr trainiert.“ Das Spiel für die Lizenzmannschaft bleibt zunächst Episode. Aber Gniech ist nicht traurig drum. Er hat ohnehin andere Pläne. Nach dem Wehrdienst studiert er Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule Köln.

Das Thema Profifußball war eigentlich durch für mich, mit 26 fängst du so etwas nicht mehr an.

Und als er gerade sein BWL-Studium abgeschlossen hat – er ist jetzt 26 – spricht ihn Willibert Kremer an. „Kannst du uns helfen, Harry?“, fragt ihn der Coach, dessen Team in der 2. Liga fünf Spieltage vor Saisonende im Abstiegskampf steckt. Gniech war skeptisch. „Das Thema Profifußball war eigentlich durch für mich, mit 26 fängst du so etwas normalerweise nicht mehr an.“ Auf der anderen Seite ist ihm schnell klar, dass sich über den Fußball und dank seines abgeschlossenen Studiums seine Chance auf eine Stelle im Bayer-Werk erhöhen würde. „Willibert versprach mir einen Profi-Vertrag, wenn ich in den verbleibenden fünf Spielen einen guten Eindruck machen würde. Und auch das mit dem Job im Konzern sollte dann klappen, sagte er.“

Profi und Werksangestellter

Zunächst einmal besteht Harry Gniech seine Probezeit auf dem Rasen mit Bravour. Am 29. April 1978 bestreitet er beim 2:1-Sieg gegen Tennis Borussia Berlin sein erstes Zweitligaspiel für Bayer 04. Und auch die letzten vier Partien mit ihm in der Startelf werden allesamt gewonnen. Bayer 04 klettert von Platz 15 auf Platz 8. Mit 26 erhält Gniech seinen ersten Profi-Vertrag und, wichtiger noch, einen Job in der Rechtsabteilung der Bayer AG, Abteilung Kreditsicherung. Sein Chef dort ist Dr. Jürgen Schwericke, der nebenbei als Präsident der Sportvereinigung Bayer 04 Leverkusen fungiert.

Es läuft jetzt für Harry Gniech, den Leverkusener Jung‘. Er hat inzwischen in der Oswald-Spengler-Straße in Steinbüchel die Wohnung von Frank-Michael Schonert übernommen, dem ehemaligen Torjäger der Werkself, dem er als Fan auf der Tribüne des Ulrich-Haberland-Stadions oft zugeschaut hatte. „Ein Spiel von ihm werde ich nie vergessen“, erzählt Gniech und beginnt zu lachen, „Frank hatte in der Partie zwei, drei dicke Chancen versiebt und damals ohnehin einen schweren Stand bei den Fans. Als er ausgewechselt wurde, zog er seine Fußballschuhe aus und schmiss sie mit ziemlicher Wucht ins Publikum. Sie verfehlten dabei nur knapp die Ehefrau von Willibert Kremer.“ Kein Wunder, dass die Aktion nicht nur bei den Anhängern, sondern auch beim Trainer nicht gut ankam. Schonerts Tage in Leverkusen waren jedenfalls gezählt. Die von Harry Gniech hingegen schienen jetzt erst richtig anzufangen.

Der Glücksbringer

Der Spätstarter ist in der Saison 78/79 bei Kremer gesetzt. Gleich im Auftaktspiel beim großen Aufstiegsfavoriten Fortuna Köln schießt Gniech in der 14. Minute das erste Saisontor für die Leverkusener, die am Ende 3:1 gewinnen und damit eine phänomenale Serie starten. Die Truppe siegt neunmal in Folge, ist als einzige von 58 Mannschaften im bezahlten Fußball in Deutschland noch ohne Punktverlust. Und Harry Gniech scheint ihr Glücksbringer zu sein. Beim 4:1-Sieg gegen den DSC Wanne-Eickel am 29. September 1978 steht er zum 14. Mal in Folge seit seinem ersten Einsatz gegen Tennis Borussia Berlin in der Startelf, 14 Mal gewann die Werkself.

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„Diese Serie hatte nicht unbedingt mit mir zu tun“, sagt Gniech mit einem Schmunzeln, „aber der Willibert war eben ein bisschen abergläubisch und das fand ich gar nicht schlecht“. Kremer weiß freilich auch, was er an seinem Mittelfeldspieler hat, der taktisch diszipliniert seinen Dienst meist auf der rechten Seite verrichtet, über einen guten Pass verfügt, Torgefahr ausstrahlt und bis zur totalen Erschöpfung rennt. Oft nimmt ihn Kremer nach 65, 70 Minuten runter und wechselt dann Peter Hermann oder Matthias Brücken, den Joker mit Tor-Garantie, für ihn ein.

Gniech spielt meist den unauffälligen Part, aber dem „Kicker“ fällt trotzdem auf, „dass er, für die Zuschauer oft gar nicht so offensichtlich, im Mittelfeld wertvolle Arbeit leistet“. Keiner für die Galerie also, keiner für die Glanzlichter. Eher einer für die Hintergrundbeleuchtung. Wäre Gniech heute Profi, würden die Trainer ihn schätzen als Spieler und Typ, der für die Team-Statik von immenser Bedeutung ist.

„Das letzte Mosaiksteinchen“

Wie wichtig der Mann aus der eigenen Jugend tatsächlich für das Mannschaftsgefüge war, wie man früher sagte, macht sein damaliger Mitspieler Jürgen Gelsdorf deutlich: „Harry war das letzte Mosaiksteinchen, das unserer Truppe damals gefehlt hat. Ein absoluter Glücksfall, den ja lange keiner auf der Rechnung hatte.“ Gelsdorf, heute Fußball-Abteilungsleiter beim TSV Bayer 04, zieht einen interessanten Vergleich: „Harry war vom Spieler-Typ einer wie Joshua Kimmich: lauf- und zweikampfstark und dabei technisch sehr gut. Und außerdem immer gut drauf.“

Auch Matthes Brücken, der mit 23 Treffern erfolgreichste Torschütze der Aufstiegssaison, schwärmt von seinem Kollegen und Kumpel: „Harry war sich nie zu schade für die Drecksarbeit, er hat sich absolut in den Dienst der Mannschaft gestellt. Er war aggressiv im Zweikampf, hatte aber auch ein gutes Auge.“ Und, das fügt Brücken mit einem Augenzwinkern hinzu: „Harry war nicht nur unser laufstärkster Spieler auf dem Platz, sondern auch der mit der größten Ausdauer in der 3. Halbzeit.“

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Gniech macht in der Saison 1978/79 insgesamt 32 von 38 Spielen, zu Beginn der Rückrunde muss er einige Wochen wegen einer Lungenentzündung pausieren. Aber trotz der auch für ihn so erfolgreichen Spielzeit, an deren Ende Bayer 04 erstmals in die Bundesliga aufsteigt, bleibt er auf dem Teppich und, was seine fußballerische Zukunft betrifft, realistisch. „Die 2. Liga war für mich ein Traum. Ich kam aus der Verbandsliga und habe das schon als großen Sprung empfunden. Aber nun spielte ich Bundesliga und stieß hier an meine Grenzen“, sagt Gniech ganz offen. Immerhin kommt er auch in der höchsten deutschen Spielklasse in der ersten Saison noch 22 Mal zum Einsatz, wenn er auch nicht mehr so häufig in der Startelf steht. Das erste Saisonspiel im Münchener Olympiastadion, bei dem er eingewechselt wird, ist ihm in besonderer Erinnerung wegen all der großen Namen – Schwarzenbeck, Breitner, Rummenigge –, die das Bayern-Trikot tragen. Beim zweiten Spiel gegen Hertha BSC, dem ersten Bundesliga-Auftritt vor eigenem Publikum, steht er von Anfang an auf dem Platz und bereitet beim 2:1-Sieg das erste Tor von Kurt Eigl vor. Dass ihm sein eigener und einziger Saisontreffer beim 2:3 in Stuttgart keine Erwähnung wert ist, ist typisch Gniech.

Wechsel nach zwei Jahrzehnten

In der zweiten Bundesliga-Spielzeit ist der inzwischen 29-Jährige nur noch Ergänzungsspieler, sein Vertrag wird nicht verlängert. Das schmerzt ihn, der dem Verein seit frühester Kindheit angehört. Aber er kann die Entscheidung seines Klubs nachvollziehen. Zurück zu den Amateuren will er nicht, um Jüngeren nicht im Weg zu stehen. Angebote aus der 2. Liga wie das vom SC Freiburg schlägt er aus, weil er seinen Job bei der Bayer AG behalten möchte. Also wechselt Gniech im Sommer 1981 nach über zwei Jahrzehnten bei Bayer 04 zum Oberligisten Viktoria Köln. Vier Jahre bleibt er hier und geht 1985 noch einmal für zwei Jahre ins Bergische Land, steigt mit Tura Wermelskirchen erst in die Landesliga-, später in die Verbandsliga auf. Mit 36 ist dann endgültig Schluss, Harry Gniech kickt nur noch eine Zeit lang für die Bayer 04-Traditionsmannschaft, die der ehemalige Manager Heinz Heitmann vor allem aus der Bundesliga-Aufstiegsmannschaft rekrutiert.

Freunde fürs Leben

Mit vielen aus diesem Team verbindet Gniech bis heute eine tiefe Freundschaft. Noch immer trifft er sich mit einigen der ehemaligen Weggefährten mehrmals im Jahr zum Frühstück in Wiesdorf. Sogar die Ehefrauen sind miteinander befreundet.

Harry Gniech macht auch mit 70 Jahren noch einen durchtrainierten Eindruck. Was nicht nur daran liegt, dass er viel Tennis spielt, sondern auch damit zu tun hat, dass er heute wieder dort aktiv ist, wo er als sechsjähriger Junge angefangen hat – in der Leichtathletik-Abteilung des TSV Bayer 04. In einer Gruppe, in der auch Olympiasiegerin Ulrike Nasse-Meyfarth mitmischt, hält er sich fit. „Mit Gymnastik und vor allem mit viel Krafttraining“, sagt Gniech. Man sieht’s ihm an. Aber seine Kraft wird auch gebraucht – nicht nur die körperliche.

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Der Vater zweier erwachsener Töchter und vierfache Großvater kümmert sich seit Jahren um seine 91-jährige Mutter und um seine jüngere Schwester, die schon lange an einer Kleinhirn-Atrophie leidet, einer Schrumpfung des Gehirns. Beide wohnen gleich nebenan, beide sitzen im Rollstuhl. Gniech hat nicht nur Pflegekräfte organisiert, er packt bei der Pflege auch selbst jeden Tag mit an. Erledigt Einkäufe und Behördengänge, bringt seine Schwester zweimal in der Woche zu einer Gruppe bei der Lebenshilfe Leverkusen. „Früher hat sie selbst Fußball gespielt in Bürrig und beim SV Bergfried, sie war und ist ein Riesen Bayer-Fan“, sagt Gniech. Die Betreuung von Mutter und Schwester ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Aber dass diese Aufgabe auch an die Substanz geht, mag er nicht verhehlen. Und Corona habe alles noch einmal komplizierter und schwieriger gemacht.

Auch deshalb feiert Harry Gniech seinen 70. Geburtstag erst einmal nur im Familienkreis. Aber irgendwann in den nächsten Wochen, so viel steht fest, wird er auch mit den ehemaligen Mannschaftskollegen und Freunden darauf anstoßen.