Ein Sir im Glück

Ger­hard Stoll

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In sämtlichen 34 Bundesligaspielen der Werkself in einer Saison als Fan live dabei gewesen – alle Achtung und Chapeau, da verdient die schwarz-rote Liebe aber mal so richtig Respekt und Anerkennung! Erst recht, wenn der Fan blind ist und alle Auswärtstouren in Eigenregie meistert. Wir haben ihn vor einiger Zeit an (s)einem ganz besonderen Tag nach Berlin begleitet...

Gerhard Stoll ist am Morgen sehr zeitig aus den Federn, er hat sich zur Einstimmung zu Hause in Hürth noch mal die Vereinshymne gegeben und bei der Stelle „sterben oder siegen“ besonders laut mitgesungen. Wenig später steht er deutlich früher als verabredet um 8.l5 Uhr am Samstagmorgen vor der Douglas-Filiale im Kölner Hauptbahnhof. Da, wo er sich immer mit seinen Begleitungen vor Auswärtsfahrten trifft. Heute ist sein großer Tag, heute wird der 49-jährige blinde Bayer 04-Fan seinen Vierunddreißiger in dieser Saison komplettieren: Alle Bundesliga-Spiele der Werkself hat er dann live vor Ort verfolgt. Die letzte Rundfahrt nach Berlin steht an, es ist seine Königsetappe. Zwölf Stunden später wird er sagen: „Ich glaube nicht, dass das schon mal jemand vor mir geschafft hat.“

 

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Gerhard Stoll ist wie immer überpünktlich am Treffpunkt. Könnte schließlich immer etwas schief gehen oder sich verzögern bei der Anreise per Bus und Bahn. „Jetzt muss nur noch meine Begleitung rechtzeitig kommen“, murmelt er. Ein paar Minuten später drückt ihm Janina die Hand, die 25-Jährige ist heute zum zweiten Mal an seiner Seite. Die erste Tour hatte die Beiden ein paar Wochen zuvor nach Leipzig geführt. Gerhard Stoll waren alle in Frage kommenden Begleiter abgesprungen. Sein Traum vom Vierunddreißiger stand an diesem 28. Spieltag mächtig auf der Kippe.

In seiner Not wandte er sich an den Fan-Beauftragten Paffi. Auch der hatte keinen Ersatz in der Hinterhand, aber eine Idee. Über die Bayer 04-Fanseite auf Facebook wurde ein Aufruf gestartet, fünf Interessenten meldeten sich. Gerhard Stoll entschied sich fürs Losverfahren, Janina machte das Rennen. Glühender Bayer 04-Fan wie er, seit Ewigkeiten Jahreskarte auf der Nordtribüne, auswärts hat sie die Werkself auch schon in der Champions League in Lissabon, Rom und San Sebastian unterstützt. Als Studentin der Sonderpädagogik ist sie quasi vom Fach und kennt sich bestens aus in der Begleitung und Betreuung Behinderter mit unterschiedlichsten Handicaps.

Wenn ich im Stadion bin, läuft bei mir ein Film aus den Siebziger- und Achtziger-Jahren ab

„Fußball bedeutet für mich, Teil einer riesengroßen Gemeinschaft zu sein. Fußball ist für mich mein Ventil, wo ich so richtig aus mir herausgehen kann. Wenn ich im Stadion bin, läuft bei mir ein innerer Film ab. Ein Film der Siebziger- und Achtziger-Jahre. Ein Film aus der Zeit, als ich noch gesehen habe, vor dem Unfall mit 13 Jahren“, hat er mal in einem Interview gesagt.

Gerhard Stoll ist von Geburt an auf dem linken Auge blind. Rechts hat er eine Sehkraft von elf Prozent. Er geht als Sechsjähriger in Düren auf die Blindenschule, jeden Tag wird er mit dem Taxi von seinem Elternhaus in Köln dort hingebracht. Er spielt gerne Fußball, ist Torwart. Oft reagiert er erst sehr spät, wenn die Schüsse auf seinen Kasten kommen. Mit 13 passiert das, was er „Unfall“ nennt. Sein rechtes Auge entzündet sich, die Ärzte sagen ihm und seinen Eltern, dass sie nichts tun können und prognostizieren ein halbes Jahr bis zum völligen Verlust der Sehkraft.

Jeden Tag schwindet sie ein ganz klein wenig mehr. „Früher war das bei unseren Schulausflügen so, dass die, die ein bisschen sehen, immer denen halfen, die gar nicht mehr sehen konnten.“ Der junge Gerhard gehört auf einmal zur anderen Gruppe. Die Klassenkameraden, die er bis dahin unterstützen konnte, müssen ihn nun führen. „Das war ganz brutal.“ Er reagiert in dieser Zeit zunehmend aggressiv auf seine Umwelt.

 

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Seinen Lebensmut verliert er nicht. Der Arzt sagt zu ihm: „Das Schlimmste, was du jetzt machen kannst, ist aufgeben. Du musst sehen, dass du einen Beruf lernst.“ Stoll macht den Hauptschulabschluss, holt danach in Soest die Mittlere Reife nach und macht eine Ausbildung zum Bürokaufmann. „Zum Klavierstimmen fehlte mir die Geduld, da blieb ja nur das Büro“, sagt er. 1990 fängt er nach einem Praktikum bei der Bezirksregierung Köln als Telefonist an, ab 1994 ist er dort als Verwaltungsbeamter tätig. Erst ein Jahr in der Ordensabteilung, wo das Bundesverdienstkreuz am Band verliehen wird, dann acht Jahre in der zweiten Instanz in der Einbürgerung.

In der Zeit hat er sich ein dickes Fell angeeignet. „Da war oft richtig Feuer in der Bude. Wenn ich mir das alles zu Herzen genommen hätte, was ich da zu hören bekam, als Menschen abgewiesen wurden, die sich nicht benommen haben, säße ich jetzt nicht hier.“ Inzwischen arbeitet er im Dezernat 46 in der Lehreraus- und -fortbildung. Da geht’s wieder entschieden ruhiger und gesitteter zu.

Als Gerhard Stoll in jungen Jahren noch sehen konnte, ist er einmal im Stadion gewesen. In Müngersdorf hat er Schumacher, Littbarski, Woodcock, Schuster, Neumann, Konopka oder Simmet spielen sehen. Der FC war aber nie sein Ding, den Kölner Klubnamen nimmt er schon aus Prinzip nicht in den Mund. „Sülz 07“ heißen die bei ihm nur. 16 Jahre lang von 1983 bis 1999 ist er Anhänger von Fortuna Köln und im „Fanclub Südstadt“ aktiv. Wenig später wechselt er die Fronten und verschenkt sein Fanherz an die Werkself. Als der verstorbene Bayer 04-Fußball-Abteilungsleiter Kurt Vossen 1999 auf einer Versammlung im Ramada-Hotel die Blindenreportage in der BayArena ankündigt und einführt, ist Stoll Feuer und Flamme. Ein paar Wochen später beim Heimspiel gegen Unterhaching ist er erstmals im Leverkusener Stadion.

Es ist der Beginn einer glühenden Leidenschaft, die ihn nicht mehr loslässt. Meist sitzt er auf der Südtribüne, manchmal muss er aber einfach in die Kurve. „Da ist das Wir-Gefühl größer und man klopft sich auch mal aus Verbundenheit auf die Schulter.“ Letztmals mittendrin im Fan-Trubel ist er 2006 auf Schalke und erlebt die denkwürdige 4:7-Niederlage von Bayer 04. Es könnte langweiligere letzte Male geben.

Gerhard Stoll erlebt die Spiele der Werkself sehr emotional, sein Ventil eben. 2002 im Halbfinale gegen Manchester United ist er beim Ausgleichstreffer von Oli Neuville vor Freude so hoch gesprungen, dass ihm der Kopfhörer um die Ohren geflogen ist. Das Spiel gehört zu seinen erinnerungswürdigsten Momenten, wie auch die Abstiegskrimis 2003 gegen 1860 München und in Nürnberg.

Sein gefühlsstärkstes Erlebnis mit Bayer 04 überhaupt hat er aber bei einer vergleichsweise unspektakulären Begegnung, im September 2010 in der Europa League gegen Rosenborg Trondheim. Vier Wochen zuvor bekam er in einer vierstündigen Akut-Operation eine mechanische Herzklappe eingesetzt, nachdem er zuvor kaum noch Luft gekriegt hatte und vom Kardiologen sofort in die Kölner Uni-Klinik eingewiesen worden war. Es stand Spitz auf Knopf, aber Gerhard Stoll gewann auch diesen Kampf. Danach war seine Motorik völlig im Eimer, auch die Geschmacksnerven funktionierten wegen der Medikamente nicht mehr. „Ich musste komplett von vorne anfangen, das Laufen neu lernen, die Finger bewegen, alles.“

Wenn ich lernen musste, mir meinen Orientierungssinn wieder zu erarbeiten, war mir ein Begleiter nur im Weg

Nach Intensivstation und vier Wochen Reha war sein erster Gedanke, wieder zum Fußball zu gehen. Alle erklärten ihn für verrückt, aber Stoll setzte noch einen drauf – und machte sich völlig allein auf den Weg in die BayArena. „Wenn ich lernen musste, mir meinen Orientierungssinn wieder zu erarbeiten, war mir ein Begleiter nur im Weg. Und ich dachte, wenn du das schaffst, wird der Rest auch wieder kommen.“ Bayer 04 gewann an jenem 16. September in der BayArena gegen Rosenborg 4:0. An diesem Abend hätte Gerhard Stoll auch bei einer Niederlage innerlich jubiliert.

In den vergangenen Jahren hat er immer so um die 30 Bundesligaspiele der Werkself pro Saison verfolgt. „Ich musste immer sehen, dass ich wegkam am Wochenende.“ In der vorigen Spielzeit wären es eigentlich 33 gewesen, doch weil er in der KVB-Station am Appellhofplatz mit beiden Füßen auf Schmierseife ausrutschte und zwischen zwei Wagons auf die Gleise rutschte, verpasste er wegen eines Bänderrisses zwei Partien. Seine Enttäuschung darüber konterte Björn Nass, einer der Blindenreporter von Bayer 04 in der BayArena, mit einem Vorschlag: „Dann mach‘ doch nächste Saison einen Vierunddreißiger.“

 

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An diesem Samstagmorgen auf der Abschlussfahrt nach Berlin trägt Gerhard Stoll, der in seiner sonstigen Freizeit Hörbücher verschlingt – mit Vorliebe Krimis, bei denen es den Täter zu ermitteln gilt, oder Karl-May-Vertonungen – , unter seiner Lederjacke ein schwarzes Bayer 04-Shirt. „Tartan Army“ hat er in großen Lettern auf die Brust flocken lassen, so nennen sich die Fans der schottischen Nationalmannschaft. „Ich hatte 15 Jahre lang eine schottische Freundin. Die ist jetzt zwar weg, aber der Slogan bleibt.“ Die Trennung hat ihm damals fast das Herz rausgerissen. Den Pullover trägt er trotzdem voller Stolz, wie eine textile Narbe. Auch da ist er hart im Nehmen. Die Ex-Freundin hat ihm auch seinen Spitznamen verpasst, mit dem er heute nahezu jede seiner E-Mails unterzeichnet: „Sir Gerhard“. Das trifft es ziemlich gut, Stoll weiß, was sich gehört, als Fußballfan wie als Verwaltungsbeamter.

Als ihn während der Zugfahrt ein dringendes Bedürfnis überkommt, will er aufstehen, aber Begleiterin Janina bedeutet ihm noch ein paar Minuten zu warten, weil auf dem Gang noch zwei Frauen vor der Toilette stehen. Als Stoll seinen Blindenstock vom Kleiderhaken nimmt, bleibt sie ganz entspannt und unaufgeregt sitzen, behält die Szene aber aufmerksam im Blick. „Er wird jetzt wahrscheinlich die Schritte zählen und dann punktgenau wieder hierhin zurückkommen“, sagt sie. Stoll findet sicher an seinen Platz zurück und klärt auf: „Ich gehe nur nach Gefühl. Wenn du mal Schritte zur Seite machen musst, um auszuweichen, ist es schwierig mit dem Zählen und dem Ankommen.“ So also sieht blindes Vertrauen in die eigenen Kräfte aus.

Angst darfst du da nicht zeigen, das spüren deine Gegner. Das ist kein Streichelzoo da draußen

Das zeichnet ihn auch grundsätzlich aus. Stoll ist kein furchtsamer Mensch. Einige Male ist er bei seinen Bayer 04-Touren jedoch nur knapp einer üblen Abreibung entgangen. Vor ein paar Jahren begegneten ihm in Berlin extreme „Hertha-Frösche“, die auf Randale aus waren und ihn mit „da ist ein Leverkusen-Schwein, kommt, dem hauen wir auf die Fresse“ anpöbelten. Zum Glück war rechtzeitig Polizei schützend zur Stelle. „Das war eng“, sagt Stoll. Wie auch mal Freitagsabend, als er von der Arbeit kommend in der Straßenbahn saß und von vier oder fünf Kölner Hools, die auf dem Weg zu einem FC-Spiel waren, als Bayer 04-Anhänger identifiziert wurde. „Die hatten mein Gesicht mal im Internet gesehen und machten sofort Theater. Am Neumarkt sagten sie zu mir: ,Du kannst froh sein, dass wir hier raus müssen, sonst würden wir was ganz anderes mit dir machen.‘“

So ähnliche Worte hatte er damals auch manchmal zu hören bekommen, als er bei der Bezirksregierung noch für die Einbürgerung zuständig war. „Angst darfst du da nicht zeigen, das spüren deine Gegner. Das ist kein Streichelzoo da draußen, da ist mehr das Gesetz der Prärie gefragt“, sagt er. Da schlägt ein bisschen der Karl-May-Liebhaber in ihm durch.

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Ein Begleiter ist ein Begleiter und kein Coach

Was seinen Vierunddreißiger angeht, hat er zu Saisonbeginn nicht wirklich damit gerechnet, dass er es auch tatsächlich packen würde. „Als ich wusste, dass wir unter der Woche das Spiel in Darmstadt haben würden, habe ich gedacht, das schaffst du nie“, sagt Stoll, der bei Auswärtsfahrten grundsätzlich alles selbst organisiert, Eintrittskarten kauft, Hotelzimmer reserviert, wenn nötig, die Züge ausfindig macht und die Fahrkarten besorgt. „Ein Begleiter ist ein Begleiter und kein Coach“, sagt er. Irgendwann nachts gegen 2 Uhr war er auch von dieser Tour zum Böllenfalltor wieder zurück.

Weitaus schwieriger gestaltete sich da schon die Fahrt zum Spiel in Hamburg an einem Freitagabend im Februar. Da war so ziemlich alles schief gegangen: Begleiter sprangen ab, die angedachte private Übernachtungsmöglichkeit in Pinneberg zerschlug sich, Stoll musste die Zugfahrt nach Hamburg allein antreten, die folgende Hotelbuchung war in der Bestätigung auf einen Tag zu früh ausgestellt, was vor Ort reichlich Ärger, Diskussionen und Stornogebühren nach sich zog, das Zimmer im Erdgeschoss lag direkt an einer Feiermeile, die Nachtschwärmer übergaben sich direkt vor seinem Fenster, auf der Rückfahrt musste er in Bremen aus dem Zug raus, weil sein Ticket erst für eine spätere Bahn gültig war, das Zugpersonal begegnete ihm mit eisiger Kälte und am Ende verpasste er sogar noch den Anschlussbus nach Hause nach Hürth. „Es war die größte logistische Herausforderung in meinem Leben.“ Frei nach dem Motto: Wer eine Reise tut, kann viel erzählen...

In Stuttgart hat er einst mal die erste Halbzeit verpasst, weil der Zug auf der Fahrt eine Tür verloren hatte. Dafür kam er durch die ungeplante Verzögerung mit dem früheren Profi Uwe Leifeld ins Gespräch, der als Chefscout des VfL Bochum unterwegs war. Man plauderte aus dem Leben und trank ein Bier zusammen, Leifeld erzählte seinem blinden Zuhörer von seiner Karriere und seiner Lotto-Annahmestelle in Münster, später bekam Stoll von ihm noch eine Autogrammkarte zugeschickt. „Man muss es halt nehmen, wie es kommt.“ Darin hat er ziemliche Übung entwickelt.

Im Olympiastadion müssen Gerhard Stoll und Janina ihre blauen Sitze erst mal mit einer Packung Tempos von einem hartnäckigen gelben Pollenbelag befreien. Die Stimmung im Stadion 45 Minuten vor Anpfiff findet er eher mau. „Hier ist ja kaum was los. Dagegen ist bei uns in der BayArena Volksfest.“ Bei der Verkündung der Mannschaftsaufstellung von Bayer 04 ruft Stoll die Nachnamen laut mit: „Leno! Tah! Kießling!“ Über Kopfhörer wird er mit dem Kommentar der beiden Berliner Blindenreporter versorgt, die das Geschehen auf dem Rasen erfreulich objektiv und keineswegs aus der blau-weißen Vereinsbrille darstellen. Stoll ist voll im Spiel und geht mit, er zuckt zusammen, reißt bei den Toren die Arme hoch und ruft ab und an Anweisungen aufs Spielfeld: „Langsam aufbauen jetzt.“ „Jetzt zieh‘ ab.“

 

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Beim 2:0 von Kai Havertz geht er richtig aus dem Sattel und brüllt ein langgezogenes „Jaaaa“, was durchaus feindselige Blicke der umgebenden Hertha-Fans nach sich zieht. „Hau‘ doch ab“, ist laut und vernehmlich vom Logenbalkon direkt über ihm zu hören. Mit jedem weiteren Bayer 04-Treffer werden die Gesichter drumherum immer entsetzter, auch der Krakeeler hinter Stoll und Janina schweigt nur noch betreten. Eine Parade von Bernd Leno zu Beginn der zweiten Hälfte gegen Ibisevic kommentiert er geradezu enthusiastisch: „Jawoll, super!“

Am Ende heißt es 6:2 für die Werkself, der blinde Bayer 04-Fan und seine Begleiterin verlassen im Entenmarsch dicht gedrängt zwischen den Herthaner Anhängern zufrieden das Stadion Richtung S-Bahn. „Das hätten wir. War sportlich ‘ne Scheiß-Saison, aber es ist geschafft. Abhaken und auf Wiedersehen“, sagt er. Als er die Ergebnisse der anderen Bundesligaspiele hört und dass Wolfsburg in die Relegation gegen Braunschweig muss, fügt er hinzu: „Das ist ja ein Ding. Die Blindenreportagen bei beiden Vereinen spricht ein- und derselbe Kommentator, Paul Bessler.“ Stoll kennt sich bestens aus in seinem Metier.

Was die Qualität der Berliner Blindenreportage angeht, die ihn das Duell auf dem Rasen erst hautnah‘ miterleben lässt, geht sein Daumen nach oben: „Das war gut. Da gibt’s nämlich in den einzelnen Stadien erhebliche Unterschiede.“ Beim Spiel in Darmstadt war Kai Havertz mal allein aufs gegnerische Tor zugelaufen, aber der Blindenkommentator der Lilien hat in dem Moment irgendwelche Facebook-Grüße übermittelt. So was kommt gar nicht gut bei Stoll.

„Wir Blinden sind die besten Zuhörer“, sagt er und schreibt dem 98er-Kollegen etwas ins Stammbuch: „Jeder Freistoß, jeder Schuss ist ein Satz, jeder Spielzug ist ein Kapitel, jede Halbzeit ist ein Buch. Aus diesen Sachen kannst du einen Thriller machen oder einen Krimi, nur bitte kein Märchen.“ Beim jährlichen Expertenforum, der Schulung für Blindenreporter in der Sportschule Kaiserau im Januar, ist er immer dabei als geladener Gast, sein Feedback und seine Expertise für die Männer am Mikro sind gefragt.

Ich rufe immer meine Mutter an, aber erst seit der Geschichte mit dem Herz

Auf dem Bahnsteig in Berlin-Spandau ist jegliche Anspannung aus seinem Gesicht gewichen, jetzt, wo er seine Schlussrunde mit Bravour gemeistert hat: „Die Befriedigung ist groß, nun auch den letzten Haken gesetzt zu haben.“ Bevor es wieder in den Zug nach Köln geht, ruft Gerhard Stoll noch seine 74-jährige Mutter an und teilt ihr mit, dass er sich jetzt wieder auf den Heimweg macht. Das ist inzwischen ein Ritual bei den Auswärtstouren, „aber erst seit der Geschichte mit meinem Herz“. „Alles in Ordnung“, spricht er ins Handy, „6:2 haben wir gewonnen.“

 

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Im ICE Richtung Heimat stoßen wir mit einem frisch gezapften Bier auf seine Saison an. „Mein erstes seit Januar“, sagt Gerhard Stoll und nimmt einen tiefen Schluck. Auf der eher schweigsamen Rückfahrt huscht kurz hinter Hamm ein verklärtes Lächeln über sein Gesicht und bleibt da eine ganze Weile haften. Die eine oder andere Etappe seines Vierunddreißigers läuft gerade noch mal vor seinem geistigen Auge ab. Es ist das letzte einprägsame Bild an diesem langen Tag. Es trägt den Titel: Ein Sir im Glück.

Ralph Elsen