Er war ein Kind der Bundesliga mit dem Karlsruher SC 1963, erster Jokertorschütze der höchsten deutschen Spielklasse für den 1. FC Kaiserslautern 1967, zweifacher Aufsteiger mit Bayer 04 in die 2. Liga (1975) und die Bundesliga (1979), Retter vor dem Abstieg 1982 und UEFA-Cup-Sieger 1988: Gerd Kentschke hat viel erlebt und erreicht als Fußballer und Trainer. Dabei waren seine Startvoraussetzungen alles andere als optimal. Die Geschichte von Ömmes, wie er von (fast) allen genannt wird, beginnt in einem kleinen Ruhrpott-Städtchen...
Im Herbst 1956 schlug das Schicksal wieder einmal mit voller Wucht im Hause Kentschke zu. Die letzten Kriegsgefangenen waren gerade aus den sowjetischen Lagern entlassen worden. In Herten-Langenbochum hatte man die Heimkehrer mit einem Konzert der Bergmannskapelle herzlich willkommen geheißen. Bruno Kentschke spielte hier die Lyra und Trompete. Der gelernte Dachdecker arbeitete seit Jahren, wie die meisten in Langenbochum, auf der Zeche Schlägel & Eisen. Nach dem Konzert kam er abends kurz nach Hause, um die Instrumente zurückzubringen. Er wolle mit den Kollegen noch einen trinken gehen, sagte das Familienoberhaupt und machte sich auf den Weg. Zehn Minuten später klingelte es an der Tür. „Frau Kentschke, ihren Mann habense gerade totgefahren“, teilte der Polizist kurz und knapp mit. Ein Motorradfahrer hatte Bruno Kentschke in dessen schwarzer Bergmannskleidung zu spät gesehen, als der die Straße überquerte. Straßenlaternen gab es in dem Viertel noch nicht, es war stockdunkel gewesen. Kentschke schlug mit dem Kopf auf dem Bordstein auf und war sofort tot.
„Ich hab’ das im ersten Moment gar nicht richtig wahrgenommen“, erinnert sich Gerd Kentschke an diese Situation. „Es war so unwirklich.“ Er war 14 damals. Der plötzliche Tod des Vaters zog ihm nicht den Boden unter den Füßen weg. Aber das Kapitel Kindheit war beendet. Unbeschwert waren sie für ihn ohnehin nicht gewesen, diese 40er, 50er Jahre.
Gerd Kentschke wurde 1942 geboren, als Nachzügler und siebter Sohn der Familie. Ein Bruder war im Krieg gefallen, ein anderer bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Ein Mitschüler hatte ihn bei einer Käbbelei in der Schule auf die Straße geschubst. Der Bruder fiel und wurde von einer Straßenbahn überfahren. Wie der Vater starb auch er nur einen Steinwurf von der eigenen Haustür entfernt.
Beim Fußballspielen konnte Gerd Kentschke die familiären Schicksalsschläge ausblenden. Das Kicken brachte eine Portion Leichtigkeit in sein Leben. Mit zehn Jahren hatte er angefangen bei Blau-Weiß Langenbochum. Und was für ein Talent in dem Jungen steckte! Der Ball klebte ihm am Fuß, wenn er dribbelte. Und wie der rennen konnte! Die Altvorderen des Vereins staunten. Der kleine Kentschke erinnerte sie an seinen gefallenen Bruder Konrad, der ein richtig guter Fußballer gewesen sein musste. Gerd trat offensichtlich in seine Fußstapfen. Aber jetzt, nach dem Tod des Vaters, musste er sich vor allem um eine Ausbildung kümmern, um die Mutter finanziell unterstützen zu können. Handwerk oder Bergbau - viele Alternativen boten sich nicht. Kentschke entschied sich für letzteres. Denn wenn er es sich recht überlegte, würde er im Bergbau zwei- bis dreimal so viel verdienen wie im Handwerk.
Mit 15 fing Gerd Kentschke auf der Zeche Schlägel & Eisen an, dem größten Arbeitgeber und Wohnungsvermieter von Langenbochum. Auch die Kentschkes lebten in einem Reihenhaus, dass die Zeche ihren Arbeitern zur Miete zur Verfügung stellte. Als Gerd Kentschke das erste Ausbildungsjahr als Jungbergmann hinter sich hatte, starb seine Mutter. Mit 19 war er Vollwaise geworden und musste raus aus dem Reihenhaus. Er zog zu seinem Bruder Helmut, der verheiratet war und zwei Kinder hatte. Jeden Tag machte sich Kentschke morgens um vier Uhr auf den Weg zur Arbeit. Um fünf Uhr stieg er in den Korb, fuhr mit 18 Metern pro Sekunde 1.000 Meter tief und stellte die Materialwagen für die Kohlehauer zusammen: Stempel, Holz, Eisen, mit denen die Decken abgestützt wurden. Fünf Kilometer ging’s mit der Lok durch die Stollen. Später, nach der Lehre, bestand seine Aufgabe darin, die Meißel der Kumpel auszutauschen. Kentschke band sich sein „Arschleder“ um die Lenden, das gegen Bodennässe, Kälte und Durchwetzung schützte. Dann rutschte er auf dem Hosenboden die engen Schächte runter. Sammelte die stumpfen Meißel ein, brachte sie nach oben in die Schleiferei und nahm frisches Material auf. Damit fuhr er auf dem Allerwertesten wieder in die Schächte ein.
„Es war im Vergleich zu den Kohlehauern nicht die ganz schwere Maloche“, sagt Kentschke. „Die Kohlehauer schufteten bei der großen Hitze da unten mit nacktem Oberkörper, nur mit Unterbuchse und Schuhen bekleidet.“ Er selber musste nie in einem richtigen Kohlenstreb ran, wo einen der Vorarbeiter vor Schichtbeginn fragte: „Wie viele Meter heute? Du 10? Du 11? Du 12? Wie, du schaffst keine 12?“ Aber einfach war die Arbeit auch für ihn nicht. Vor allem der ständige Temperaturwechsel machte ihm zu schaffen. Unten im Stollen diese feuchte Hitze. Oben in der Schleiferei diese Kälte. „Da habe ich mir die Wirbelsäule kaputtgemacht.“ Als Gerd die Ausbildung als Jungbergmann hinter sich hatte, starb seine Mutter. Mit 19 war er Vollwaise geworden und musste raus aus dem Reihenhaus. Er zog zu seinem Bruder Helmut, der verheiratet war und zwei Kinder hatte.
Inzwischen war aus Gerd, dem talentierten Jungen, ein außergewöhnlich guter Fußballer geworden, der es bis in die Auswahlmannschaften des Landesverbandes Westfalen geschafft hatte. 1958 absolvierte er in Chesterfield gegen England sein erstes Länderspiel für die deutsche Schülernationalmannschaft, deren Trainer Dettmar Cramer hieß. 24 Jahre später sollten die beiden noch einmal zusammenarbeiten.
Mit seinen Brüdern Günter, Helmut und Heinz, die allesamt bei Blau-Weiß Langenbochum kickten, aber nicht das Talent des Jüngsten hatten, stand Gerd oft in der rappelvollen Glückauf-Kampfbahn in Gelsenkirchen. Schalke und Dortmund waren die großen Vereine vor seiner Haustür. Was wäre das gewesen, wenn er hier mal in der Nachwuchsabteilung hätte vorspielen können! Aber ihn, den Flügelflitzer aus Langenbochum, hatten sie dort nicht auf dem Schirm.
So kickte Kentschke bis zu seinem 20. Lebensjahr bei Blau-Weiß in der Bezirksliga und arbeitete weiter unter Tage. In der Mannschaft nannte ihn jeder nur „Ömmes“ - den Spitznamen hatte schon sein Bruder Helmut von den Kumpel im Bergbau verpasst bekommen. „Der war vom Körperbau son bisgen knubbelig. Wenne bei uns Kohle am machen warst, und du bist auf’n dickeren Stein gestoßen, dann sachten die Kumpel, boah, leck mich inne Täsch, schon wieder so’n scheiß Ömmes da am rumliegen“, ruhrpottlert Kentschke. Er war zwar ein ganz Schmächtiger, aber als Helmut mit dem Fußball aufhörte und er selber anfing, da war er einfach der neue Ömmes.
1962 gelang Kentschke endlich der Durchbruch: Er spielte mal wieder mit der Westfalenauswahl um den Länderpokal. In Hannover ging es gegen die Kontrahenten aus Niedersachsen. Kentschke erwischte einen Sahnetag, schoss zwei Tore beim 4:2-Sieg. Unter den Zuschauern befand sich Helmut Hodel, der Vizepräsident des Karlsruher SC. Und der war ziemlich angetan von diesem blonden Wirbelwind auf der linken Seite. Plötzlich kam Bewegung in die Chose. Kentschke lag inzwischen auch ein Angebot des Zweitligisten TSV Marl-Hüls vor. Nicht schlecht, dachte Ömmes, als eines Tages der Vorsitzende des Vereins zu Hause vorbeischaute und ihn mit einem schicken Auto zu ködern versuchte. „Kuckma da ausm Fenster, wenne bei uns unterschreibst, is dat deiner!“ Ömmes zögerte - aber nur kurz. Denn auch der KSC hatte bei ihm angefragt und gute Chancen, im kommenden Jahr in der neu gegründeten Bundesliga zu spielen. Was gab’s da noch groß zu überlegen? „Die Bundesliga hatte schon damals eine enorme Strahlkraft. Ganz Deutschland freute sich auf diese Eliteliga. Für mich, der ich aus einem kleinen Verein kam, war so ein Angebot wie ein Sechser im Lotto.“
Manche aus seiner Mannschaft freuten sich für ihn. Die meisten aber winkten ab: „Der Ömmes, der packt dat nich!“ Hinter vorgehaltener Hand spotteten sie: „Kuck’n dir doch an, 1,72 Meter, nur 68 Kilo aufn Rippen. Nee, dat packt der Ömmes nich!“ Denen würde er es zeigen. Er hatte schon ganz andere Dinge gemeistert in seinem Leben. Und wenn er etwas gut konnte, dann Fußball spielen. Schmächtiges Kerlchen hin oder her. Als die Tinte unter dem Vertrag getrocknet war, begann in Baden-Württemberg eine neue Welt für den Mann aus dem Ruhrpott. Er wohnte zur Untermiete bei einer Familie, arbeitete vormittags bei der Stadtverwaltung Karlsruhe im Ausländeramt. Nachmittags trainierte er mit den neuen Mannschaftskameraden unter Coach Kurt Sommerlatt. Zu seinen Mitspielern zählte auch Rolf Kahn, dessen Sohn Oliver später die Nummer 1 bei den Bayern und in der Nationalelf werden sollte.
Kentschke fieberte dem ersten Bundesligaspieltag entgegen. Aber die Wirbelsäule bereitete ihm wieder Probleme. Das Auftaktspiel sah er nur von der Tribüne aus. Als einer von 40.000 Zuschauern im Wildparkstadion. Gegner war der Meidericher SV. Bei den Gästen spielten in Torhüter Manfred Manglitz und Mittelfeldspieler Heinz Höher zwei ehemalige Leverkusener. Der prominenteste Mann auf dem Platz aber war der Boss. Helmut „Aus-dem-Hintergrund-müsste-Rahn-schießen“ erzielte einen Treffer an diesem 24. August 1963. Die Meidericher gewannen unter den Augen von Bundestrainer Sepp Herberger mit 4:1. Der Start war für den KSC gründlich in die Hose gegangen. Auch in den folgenden vier Partien setzte es klare Niederlagen. Immerhin: Gerd Kentschke durfte am fünften Spieltag beim 1:3 gegen Borussia Dortmund am 21. September seine Bundesliga-Premiere feiern. Am zehnten Spieltag erzielte Ömmes gegen Preußen Münster sein erstes Tor in der höchsten deutschen Spielklasse.
Er war jetzt Stammspieler eines Bundesligisten, sein Traum in Erfüllung gegangen. 600 Mark pro Monat bekam er. Dazu ein Handgeld von 1.500 Mark in der Saison. Er verdiente gut. Statt unter Tage auf dem Arschleder die Schächte runterzurutschen, stürmte Ömmes jetzt auf gepflegtem Rasen durch die Bundesligastadien. Es hätte schlimmer kommen können.
Was ihn wunderte: Die Spieler ließen es abseits des Platzes ordentlich krachen und kaum eine Party aus. „Ich will ’nen Cowboy als Mann!“ Zu Gittes Sommerhit schwangen auch die Karlsruher Bundesliga-Pioniere ihre Hüften in den Tanzlokalen. Gerd Kentschke wollte nur eines: Schnellstmöglich seine Annemarie aus Herten-Langenbochum nach Baden holen. Diese ganze Feierei und Trinkerei - nein, das hatte er sich anders vorgestellt. War er nicht von einem kleinen Provinzverein in die große Fußballwelt hinausgezogen, um ein echter Profi zu werden? Und jetzt „wurde hier gesoffen, was das Zeug hält“. Vor allem Wein. Nach dem Training, nach den Spielen und immer wieder mal zwischendurch: Wein.
Kentschke fühlte sich in diesem Trubel nicht wohl. Ein halbes Jahr hielt er es aus. Dann holte er seine große Liebe endlich nach Karlsruhe. Annemarie hatte in Herten-Langenbochum in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kentschkes gewohnt. Mit ihrem fußballbegeisterten Vater war sie oft auf dem Sportplatz gewesen und hatte Gerd beim Spielen zugesehen. Als sie nach Karlsruhe kam, zog sie zu einer Familie, die die Kantine in der Finanzdirektion Karlsruhe betrieb. Als unverheiratetes Paar geziemte es sich 1963 noch nicht, zusammenzuleben. 1964 gaben sich Gerd und Annemarie das Ja-Wort.
Sportlich lief es für Kentschke in seiner ersten Bundesliga-Saison ziemlich gut. 23 Spiele absolvierte er für den KSC, schoss dabei sechs Tore. Ömmes „Der-packt-dat-nich“ Kentschke hatte es doch geschafft - und war sogar dem DFB aufgefallen. Am 29. April 1964 debütierte er in der U23. Beim 1:0-Sieg gegen die Tschechoslowakei spielte er an der Seite von Günter Netzer. Sein zweiter Einsatz für eine nationale Auswahl blieb sein letzter. Die Konkurrenz auf den Außenbahnen war groß. Stan Libuda von Schalke 04, Lothar Emmerich von Borussia Dortmund und Gerd „Charly“ Dörfel vom Hamburger SV hießen die Platzhirsche. „Ja, sie waren vielleicht besser als ich“, sagt Kentschke. „Aber sie spielten eben auch in besseren Vereinen. In Karlsruhe ging es für uns immer nur um den Klassenerhalt.“ Auf den 13. Platz in der ersten Saison folgte der 15. Rang in der zweiten und der 16. Platz in der dritten Spielzeit beim KSC. Irgendwie kam er hier nicht voran. Es wurde Zeit für einen Wechsel.
Die Kentschkes, inzwischen zu dritt, zogen 1966 nach Kaiserslautern. Der FCK hatte einen großen Namen, es war schließlich der Verein von Fritz und Ottmar Walter, von Werner Liebrich, Horst Eckel und Werner Kohlmeyer, den Weltmeistern von 1954. Auf dem Betzenberg wollte Ömmes in andere Tabellenregionen vorstoßen. Eine berechtigte Hoffnung. Denn bei den „Roten Teufeln“ standen ja auch jetzt wieder einige erfahrene Recken im Kader: Mittelstürmer Manfred Rummel, Linksaußen Helmut Kapitulski, Uwe Klimaschefski, der ehemalige Leverkusener. Und zusammen mit Kentschke fing ein Spieler beim FCK an, der sich bei Hertha BSC den Ruf eines „Eisenfußes“ redlich verdient hatte: Otto Rehhagel. „Der Otto war so’n Bauerntyp. Der hat immer dazwischen gekloppt und die Sohle drauf gehalten“, sagt Kentschke. „Er war aber auch abseits des Platzes total fußballbesessen. Der hat jedes Spiel für sich selbst analysiert, dann diskutierte er mit dem Trainer über die Taktik. Otto sah man in Kaiserlautern oft in Cafés sitzen. Da saß er dann stundenlang und studierte stapelweise Sportzeitungen. Der hatte immer schon das Trainergen in sich.“
Ganz anders Uwe Klimaschefski. Der war ein schräger Vogel. Einer, der gerne Späße auf Kosten anderer machte. Oder um es mit den Worten von Gerd Kentschke zu sagen: „Klima hatte nur Scheiße im Kopp.“ Er schmierte Mannschaftskollegen fiese Salben in die Unterhosen. Und er schreckte auch vor dem Präsidenten nicht zurück. Bei einem gemeinsamen Essen mit der Mannschaft hatte sich „Klima“ in der Küche einen Weinkorken besorgt. Er steckte auf der einen Seite Streichhölzer rein, auf die andere schmierte er Senf. Damit befestigte er den Korken unter dem Holzstuhl des Präsidenten, als der mal kurz auf Toilette war. Klimaschefski wartete unter dem Tisch auf dessen Rückkehr, dann zündete er die Streichhölzer an. „Der Korken wurde so heiß, dass es keine Minute dauerte, bis der Präsident wie ein HB-Männchen vom Stuhl hochsprang. Er hatte sich den Hintern verbrannt. Und wir kriegten uns nicht mehr ein.“ Als Kentschke diese kleine Anekdote erzählt, kommen ihm vor Lachen fast die Tränen.
Die erste Saison am Betze lief großartig. Unter Gyula Lorant landeten die Lauterer 1966/67 auf dem 5. Platz. Kentschke trug mit seinen 26 Einsätzen und acht Toren wesentlich zum erfolgreichen Abschneiden bei. Aber auch in der Pfalz war Ömmes nicht nur auf dem Platz gefordert. Ständig wurde die Mannschaft von Winzern zu Weinfesten eingeladen. Schlimm war das mit der Trinkerei. Oft kam man erst um 2 Uhr morgens in die Federn.
In seiner zweiten Saison beim FCK schrieb Kentschke Geschichte. Bis zur Spielzeit 1967/68 waren Auswechslungen nicht erlaubt gewesen. Nun durfte ein Wechsel pro Team vorgenommen werden. Am 26. August 1967, dem zweiten Spieltag, trat Kaiserslautern beim Hamburger SV an. Uwe Seeler hatte den HSV im Volksparkstadion früh in Führung gebracht. Kentschke wurde in der 75. Minute für Heinz-Dieter Hasebrink eingewechselt und erzielte in der 90. Minute den Ausgleich. Das erste Joker-Tor der Bundesliga-Geschichte war „ein Murmeltor“, erinnert sich Kentschke. Torhüter und Verteidiger waren sich nicht einig. „Ein klassischer Fall von ‚Nimm’ du ihn, ich hab’ ihn sicher‘. Ich hielt wenige Meter vor dem Tor einfach meinen rechten Fuß hin und drin war das Ding.“
Ausgerechnet ihm, der in seinen insgesamt 222 Bundesligaspielen nur sieben Mal eingewechselt worden war und ansonsten immer in der Startformation gestanden hatte, war nun dieser historische Joker-Treffer gelungen.
Doch so richtig wollte ihm der erhoffte Karrieresprung auch in Kaiserslautern nicht gelingen. Kentschke erlebte hier in vier Jahren vier Trainer. Gyula Lorant, Otto Knefler, Egon Piechaczek und Dietrich Weise. Nach der guten ersten Saison ging es für die Mannschaft in den kommenden Jahren wieder bergab ins untere Mittelfeld der Liga. Seine persönlich beste Saison legte Kentschke 1968/69 hin. In 34 Spielen, bis auf eines alle über die volle Distanz, schoss der Außenstürmer elf Tore. Schalke 04 hatte jetzt ernsthaftes Interesse an ihm bekundet und war bereit, eine ordentliche Ablöse an Kaiserslautern zu zahlen. Kentschke hätte sofort unterschrieben. Aber die Lauterer ließen ihn nicht aus seinem Vertrag.
Sein letztes Jahr am Betze lief nicht gut. Außerdem plagte Annemarie das Heimweh. Sie wollte zurück in die alte Heimat, wieder in die Nähe der eigenen Familie. Kentschke wechselte 1970 zum MSV Duisburg. Und schlitterte hier in die schlimmste Krise seiner Karriere. Ömmes, inzwischen 28, ließ sich in den Bundesliga-Skandal verwickeln. Sein letztes Bundesligaspiel machte er am 19. Februar 1972 beim 2:0-Sieg gegen Hertha BSC. Anderthalb Monate später wurde er zunächst zu einer Sperre von zehn Jahren und 2.500 DM verurteilt. Seine Karriere schien beendet. Er durfte zwar weiter trainieren beim MSV. Aber ob und wie es für ihn weitergehen würde, stand in den Sternen.
Im August 1973 folgte die Begnadigung. Und noch einmal nahm seine Geschichte eine ganz neue Wendung. „Im Nachhinein hatte ich ein zweites Mal einen Sechser im Lotto gewonnen“, sagt Ömmes mit Blick auf seine Leverkusener Zeit.
1973 war Bayer 04 auf dem Tiefpunkt angelangt und in die Verbandsliga Mittelrhein abgestiegen. „Die konnten einen abgehalfterten Bundesligaspieler wie mich offenbar gut gebrauchen“, sagt Kentschke und schmunzelt. Bayer 04 wollte schnellstmöglich wieder raus aus dem Amateurlager – Kentschke wollte eine Zukunft als Fußballer und eine gesicherte Existenz. Bayer 04 bot ihm beides. So kam der Mann aus dem Pott an die Dhünn, bestand ein Probetraining, „obwohl Hans-Werner Marx mich ordentlich zusammengefaltet hatte“, arbeitete vormittags in der Personalabteilung der Bayer AG und trainierte nachmittags mit den Fußballern. Kentschke erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen voll und ganz und wurde 1975 zu einer Art Aufstiegsheld.
Im entscheidenden Spiel der Aufstiegsrunde zur Zweiten Liga gegen Arminia Hannover zeigte er nicht nur nach eigenem Empfinden sein bestes Spiel im Leverkusener Trikot. „Gerd Kentschke kämpfte und rackerte und wurde zum Vater des großen Sieges“ hieß es damals nach dem 3:2-Sieg im „Leverkusener Anzeiger“.
Mit dem Aufstieg in die Zweite Liga startete Ömmes bei Bayer 04 richtig durch. Nicht mehr als Spieler – er war inzwischen 33 und machte nur noch ein paar Partien für die Schwarz-Roten. Als Trainer aber erlebte er viele Höhen des Klubs hautnah mit. Zunächst übernahm er die A-Junioren, 1977 die Amateure. Dann wurde er Co-Trainer unter Willibert Kremer, stieg 1979 mit dem Klub in die Bundesliga auf. Sein zweiter Aufstieg mit dem Klub innerhalb von vier Jahren. „Er war extrem wichtig für die Stimmung im Team“, erinnert sich Jürgen Gelsdorf. „Im Trainingslager vor unserer Aufstiegssaison 1978/79 hatte es tagelang nur gegossen, die Mannschaft war schlecht drauf. Aus Frust besorgten wir uns zwei, drei Kästen Bier, Ömmes kam dazu, trank mit, und erzählte Witze, dass wir am Boden lagen. Am nächsten Tag sah die Welt schon wieder besser aus. Ömmes war ein anspruchsvoller Trainer, blieb aber immer der Kumpeltyp und ein liebenswerter, unkomplizierter Mensch.“
Anfang der 80er Jahre wurde seine Liebenswürdigkeit allerdings auf eine harte Probe gestellt. Kentschke übernahm, nachdem der Verein sich von Chefcoach Willibert Kremer getrennt hatte, im November 1981 die sportliche Verantwortung. Ein Himmelfahrtskommando. „Die Truppe war total zerrissen. Das Miteinander, der Teamgeist, all das, was die Aufstiegsmannschaft von 1979 ausgezeichnet hatte, war weg.“ Einige Neuzugänge hatten das Teamgefüge durcheinander gewirbelt. Die Mischung stimmte nicht. In diesen Wochen und Monaten sah man Kentschke oft verzweifelt am Spielfeldrand. Wild gestikulierend, schreiend, hadernd. „Die Anspannung war riesengroß. Es hätte ja in die Hose gehen können. Und dann wäre auch ich der Blödmann gewesen.“ Mit Ach und Krach rettete sich Bayer 04 in die Bundesliga-Relegation.
Für die kommende Saison hatte der Verein bereits Dettmar Cramer verpflichtet. Der renommierte, charismatische Trainer, der mit Bayern München zweimal den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte, war auch bei beiden Spielen gegen Kickers Offenbach schon zugegen. Hielt sich aber - mal mehr, mal weniger - im Hintergrund auf. Die Relegationsspiele wurden zur Nervenschlacht. Gerdchen, sagte Cramer zu Kentschke, mach du das mal mit Offenbach. Gerdchen, so hatte Cramer ihn schon genannt, als Kentschke 1956 sein Schützling bei der Schüler-Nationalmannschaft gewesen war. Natürlich machte Kentschke das mit Offenbach. Wer denn sonst! Er war ja noch der Trainer. Aber Cramer zog die Aufmerksamkeit auf sich. Ob er nun von der Tribüne aus das Spiel verfolgte, oder neben Kentschke von der Bank aus. Die Kameras folgten vor allem Cramer. Wie selbstverständlich gab er auch das Interview nach dem erlösenden 2:1-Sieg im Rückspiel, bei dem Peter Szech beide Treffer erzielte. Kentschke war’s egal, er brauchte das Rampenlicht nicht. Hauptsache der Verein war gerettet. „Aber nach dem Abpfiff dachte ich auch: Jawoll, ich hab’s geschafft“, erinnert sich Kentschke an einen der emotionalsten Momente der Vereinsgeschichte.
So schwer das vergangene halbe Jahr auch gewesen sein mochte: Er hatte doch Gefallen gefunden am Cheftrainer-Dasein. Wäre damals ein Angebot von einem anderen Profiverein gekommen, hätte er es vermutlich angenommen. Es kam aber keines. „Nicht ein einziges“, sagt Kentschke. Er war enttäuscht. Immerhin hatte er gerade eine Mannschaft vor dem Abstieg gerettet. Nun gut, würde er eben wieder ins zweite Glied rücken. Und sich in dieser Position einbringen. Dass es sich als Segen erweisen sollte, einen Mann wie ihn weiter in den eigenen Reihen zu haben, zeigte sich in den kommenden Jahren. Kentschke blieb Co-Trainer der Profis und Trainer der Amateure in Personalunion. Das zahlte sich insbesondere bei der Arbeit mit Erich Ribbeck aus, der 1985 Chefcoach wurde und auf Talente aus dem eigenen Nachwuchs setzte. Kentschke hatte ein gutes Auge für Jungs aus seiner Amateurmannschaft, die man guten Gewissens bei den Profis einsetzen konnte. Der größte Titel der Bayer 04-Historie wäre ohne diese Talente kaum möglich gewesen. Denn auf dem Weg zum UEFA-Cup-Sieg 1988 fielen verletzungsbedingt immer wieder Stammkräfte aus. „Ich legte großen Wert auf Gerds Urteil, nicht zuletzt was unsere Nachwuchsspieler betraf. Gerade in der Saison, als wir den UEFA-Cup gewannen, sprangen Talente wie Peter Zanter, Erich Seckler, Jean-Pierre de Keyser, Knut Reinhardt und Marcus Feinbier in die Bresche“, sagt Erich Ribbeck. Kentschke hatte ihm diese Spieler ans Herz gelegt.
Und als es im Final-Rückspiel gegen Espanyol Barcelona ins Elfmeterschießen ging, da schnappte sich Ömmes Torhüter Rüdiger Vollborn. Rudi, sagte Kentschke, versuch, so lange es geht, stehen zu bleiben. Wenn fünf Leute Elfmeter schießen, gibt’s immer einen, der genau auf die Mitte hält. Der Spanier Zuniga machte es beim vierten Elfer genauso, Vollborn blieb stehen, hielt den Ball mühelos, reckte die rechte Faust in Richtung Kentschke, der zwölf Meter weiter an der Torauslinie auf ihn wartete, so, als wolle er ihm sagen, na, Ömmes, wie habe ich das gemacht! Auch beim letzten Elfer von Losada blieb Vollborn stehen, aber der hatte den Ball ohnehin in den Leverkusener Nachthimmel gedroschen. Kentschke und Ribbeck umarmten sich an diesem Abend innig am Mittelkreis. Ein paar Wochen später würden sich ihre Wege trennen, weil Ribbeck seinen Vertrag nicht verlängert hatte. „Mit Erich konnte man Pferde stehlen“, sagt Kentschke. „Die Zeiten mit ihm und mit Willibert Kremer waren die schönsten meiner Trainerlaufbahn.“
1990 hatten sich Gerd und Annemarie Kentschke ein Haus im Bergischen gebaut. Wermelskirchen wurde der neue Lebensmittelpunkt der Familie. Ömmes, der so viel Geschichte des Vereins mitgeschrieben hatte, war längst in der Traditionsmannschaft von Bayer 04 aktiv. Zunächst als Spieler, später als deren Trainer. Inzwischen ist er seit 24 Jahren Coach der Bayer 04-Traditionsmannschaft. Seine Spieler sprechen ihn immer noch respektvoll mit „Trainer“ an. Dabei hat das, was Gerd Kentschke heute macht, nur noch wenig mit dem zu tun, was man landläufig unter einem Trainer versteht. Kentschke stellte keine Hütchen mehr auf, lässt keine Spielzüge mehr einüben, feilt nicht mehr an taktischen Systemen. „Eigentlich bin ich nur derjenige, der die Bälle und die Leibchen mitbringt, bei Spielen die Mannschaft aufstellt und die Aus- und Einwechslungen vornimmt“, sagt Kentschke. Aber das ist natürlich Unsinn. Er, der in diesem September seinen 75. Geburtstag gefeiert hat, bedeutet weit mehr nicht nur für die Traditionsmannschaft.
„Wenn ich an Bayer 04 denke, denke ich immer auch an Ömmes Kentschke. Kaum einer lebt den Verein so wie er“, sagt Thomas Hörster über seinen ehemaligen Trainer.
Seit 44 Jahren gehört Kentschke dem Klub an. „Vielleicht“, sagt er in der Rückschau, „hätte ich manchmal etwas mehr aufs Gaspedal drücken und etwas cleverer sein müssen, um noch mehr zu erreichen“. Aber er will nicht undankbar klingen. Der Fußball hat ihm so viel gegeben. Noch heute bestimmt er nicht selten den Alltag im Hause Kentschke. Letztlich hat es das Schicksal doch ganz gut mit Ömmes gemeint.