Heute vor zehn Jahren schoss Eren Derdiyok beim 3:1-Bundesliga-Sieg gegen den VfL Wolfsburg ein Traumtor per Fallrückzieher, das 2011 zum Tor des Monats September gewählt wurde. Im Interview mit bayer04.de erinnert sich der 33-Jährige mit türkischen Wurzeln nicht nur an diesen besonderen Treffer, sondern spricht auch über seine Zeit in der Türkei, einen ungewöhnlichen Wechsel nach Zentralasien und über seinen Schweizer Landsmann Gerardo Seoane.
Eren, auf sportschau.de schrieben sie zu deinem Treffer gegen Wolfsburg: „Ein Tor wie ein Gemälde.“ Welche Bilder hast du im Kopf, wenn du an dieses „Kunstwerk“ denkst?
Derdiyok: Ich habe den Treffer noch so vor Augen, als hätte ich ihn gestern erzielt. Es war so eine Art Kettenreaktion, bei der einfach alles perfekt gepasst hat. Der lange Ball von Stefan Reinartz, der genau die richtige Höhe hatte; wie der Ball dann auf meinem Fuß landet, wie er abspringt, wie er in der Luft steht, wie ich ihn treffe. Das alles war wie eine natürliche Bewegung. Wenn du so eine Situation hundert Mal trainieren würdest, würde dir ein solches Tor vielleicht einmal gelingen. Ich finde es schön, dass der Treffer heute noch so oft über Social Media geteilt wird, dass noch häufig darüber gesprochen wird. Bei Galatasaray ist mir ein paar Jahre später noch einmal ein schönes Tor per Fallrückzieher gelungen, na ja, eigentlich war es eher ein Seitfallzieher. Aber auch der sorgte lange für Gesprächsstoff in der Türkei.
Du bist nach dem Treffer gegen Wolfsburg sofort Richtung Leverkusener Bank zu eurem damaligen Athletiktrainer und Leistungsdiagnostiker Dr. Holger Broich gelaufen und hast ihn umarmt. Hatte das einen besonderen Grund?
Derdiyok: Ich schwebte in dem Moment auf Wolke sieben, es war ein unbeschreibliches Gefühl. In dieser Saison hatte ich bis dahin relativ wenig Einsatzzeiten vom Trainer bekommen. Gegen Wolfsburg stand ich mal wieder in der Startelf. Holger, mit dem ich mich immer super verstanden habe, sagte mir vor dem Spiel: ‚Eren, du machst heute ein Tor.‘ Kommt ja immer wieder mal vor, dass einem jemand ein Tor prophezeit. Da es aber in diesem Fall ein so spezieller Treffer war, wollte ich ihn zumindest ein bisschen mit Holger feiern.
Im Wolfsburger Tor stand dein Schweizer Nationalmannschaftskollege Diego Benaglio. Hat er dir nach dem Spiel gratuliert?
Derdiyok: Nein, nicht direkt nach dem Spiel. Aber ein, zwei Wochen später bei der Nationalmannschaft hat er mich natürlich darauf angesprochen. (lacht) Wenn ich mich richtig erinnere, sagte er irgendetwas in der Art von: ‚Musstest du so ein Ding ausgerechnet gegen mich machen.‘
Du hast insgesamt vier Jahre für Bayer 04 gespielt und in deiner langen Profi-Karriere für keinen Verein mehr Pflichtspiele bestritten. Wie prägend war die Zeit in Leverkusen für dich?
Derdiyok: Sie war total wichtig. Leverkusen war und ist etwas ganz Besonderes für mich. Bayer war mein erster Klub im Ausland. Ich bin dort extrem gut und herzlich aufgenommen worden. Jeder kümmerte sich um mich. Deshalb fühlte ich mich als Anfang 20-Jähriger gleich wohl und kam in meiner ersten Saison zu vielen Einsätzen. Jupp Heynckes setzte auf mich und gab mir sehr viel Selbstvertrauen. In den folgenden Saisons hatte ich sicher einige Ups and Downs. Irgendwann war klar, dass ich mich verändern musste. Aber mein Verhältnis zu Bayer 04 ist immer super gewesen.
Wenige Wochen nach dem letzten Bundesliga-Spieltag mit Bayer 04 in der Saison 2011/12 ist dir in der Schweizer Nationalmannschaft etwas gelungen, was bislang nur wenige Spieler geschafft haben: Du hast beim 5:3-Sieg in einem Testspiel gegen Deutschland drei Tore erzielt…
Derdiyok: Oh ja, das war ein fantastischer Abend für die Schweiz und natürlich ein ganz besonderer auch für mich. Wir spielten in meinem Geburtsort Basel vor vollem Haus, es war ein Testspiel kurz vor Beginn der Europameisterschaft. Unser Trainer war Ottmar Hitzfeld und mein Leverkusener Mannschaftskollege Tranquillo Barnetta brachte mich dreimal in Position und ich habe dreimal getroffen. Großartig! Es war ein sehr emotionales Spiel.
Nach fünf Jahren in der Bundesliga bist du 2014 in die Türkei gegangen. War der Wechsel in die Süper Lig für dich, der du ja auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, eine Herzensangelegenheit?
Derdiyok: Ja, definitiv. Ich hätte schon früher in die Türkei gehen können, wollte mich aber erst einmal in Deutschland durchsetzen. 2014 spürte ich einfach, dass ich einen Neuanfang in einer neuen Liga brauchte. Und da fand ich die Türkei auch aufgrund meiner familiären Wurzeln besonders reizvoll. Es wurde vor allem bei Galatasaray mit zwei Meistertiteln und dem Gewinn des Superpokals ja auch eine sehr erfolgreiche Zeit für mich.
Weniger naheliegend war deine Entscheidung für einen Wechsel nach Usbekistan zu Pakhtakor Tashkent im Januar 2020. Wie kam es dazu?
Derdiyok: Ich spielte seit einem halben Jahr in Göztepe, einem Klub in Izmir. Da stimmte die Chemie zwischen uns aber nicht. Dann rief mich mein ehemaliger Trainer Shota Arveladze an, der mich damals nach Kasimpasa in die Türkei geholt hatte. Shota war jetzt Coach von Pakhtakor. Er wollte mich unbedingt haben und glaubte, das könnte eine gute Erfahrung für mich sein. Und es wurden dann auch sportlich erfolgreiche anderthalb Jahre. Wir spielten in der asiatischen Champions League und kamen dort bis ins Viertelfinale, wir wurden usbekischer Meister, Pokalsieger und Supercup-Sieger. In der Liga dort gibt es drei, vier dominierende Vereine, das Leistungsgefälle ist schon enorm. Aber in der AFC Champions League sind Tempo und spielerisches Niveau höher, da begegnen sich die Teams auf Augenhöhe.
Gegen welche Teams habt ihr gespielt?
Derdiyok: Unter anderem gegen Mannschaften aus dem Iran, aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Wegen der Pandemie wurden viele Spiele in einer Turnierform in Katar und Dubai ausgetragen. Wir haben uns als Mannschaft gut präsentiert und sind etwas unglücklich im Viertelfinale gegen Persepolis Teheran ausgeschieden.
Und wie war das Leben in Zentralasien?
Derdiyok: Die usbekische und die türkische Kultur haben viele Gemeinsamkeiten, auch die Sprachen ähneln sich. Ich hatte jedenfalls kaum Probleme mit der Verständigung und kam mir auch überhaupt nicht fremd vor. Na klar, die Corona-Pandemie hat das Leben auch dort erschwert. Aber insgesamt fühlten sich auch meine Frau und meine beiden Töchter sehr wohl in Tashkent. Die Mädchen gingen dort auf eine internationale Schule. Wir hatten insgesamt eine gute Zeit dort.
Seit wenigen Wochen spielst du wieder in der Türkei, beim Zweitligisten MKE Ankaragücü und scheinst in Topform zu sein. Am vergangenen Wochenende hast du drei Tore erzielt. Insgesamt kommst du schon auf sechs Treffer in sieben Spielen. Es scheint perfekt für dich zu laufen.
Derdiyok: Ja, ich brauchte eine kurze Anlaufphase, aber jetzt bin ich tatsächlich in Top-Form. Wir sind nach sieben Spieltagen Tabellenzweiter, unser klares Ziel ist der Aufstieg in die erste türkische Liga. Es wird eine spannende Saison.
Du bist jetzt 33 und dein Vertrag läuft bis 2023. Hast du schon Pläne für die Zeit nach deiner aktiven Karriere?
Derdiyok: Nein, ich habe immer noch so viel Spaß am Fußball und bin wirklich in einem Top-Fitnesszustand. Deshalb will ich so lange spielen, wie es geht und möglichst auch nach 2023 noch ein paar Jahre mitnehmen. Jupp Heynckes hat mal gesagt: Es gibt keine jungen und alten Fußballer, sondern nur gute und schlechte. Das ist auch meine Devise.
Hast du noch Kontakt zu ehemaligen Bayer 04-Kollegen?
Derdiyok: Ja, sogar noch zu sehr vielen. Mit Simon Rolfes telefoniere ich hin und wieder, auch mit Stefan Kießling. Den Kies habe ich sogar mal zufällig in Dubai getroffen, als er mit seiner Familie die Weltreise machte. Wir hatten dasselbe Hotel und liefen uns am Pool über den Weg. Auch zu Tranquillo Barnetta, Gonzo (Gonzalo Castro, d. Red.), Renato Augusto, Ömer Toprak und Karim Bellarabi habe ich noch Kontakt.
Über das sportliche Geschehen in Leverkusen bist du also auf dem Laufenden?
Derdiyok: Ja, absolut. Die Mannschaft hat richtig gut angefangen in dieser Saison. Ich hoffe, dass sie das bis zum Ende durchziehen kann. Es macht Spaß, ihr zuzusehen.
Gegen Bayer 04-Cheftrainer Gerardo Seoane hast du in deinen Schweizer Zeiten in den Saisons 2007/08 und 2008/09 einige Male selber gespielt. Du warst Stürmer beim FC Basel, er Abwehrspieler beim FC Luzern. Kannst du dich an das eine oder andere Duell noch erinnern?
Derdiyok: Nein, ganz ehrlich, dass wir mal persönlich aufeinandergetroffen sind, war mir gar nicht bewusst. Aber ich habe natürlich später seine Trainerlaufbahn mit Interesse verfolgt. Er hat bei den BSC Young Boys richtig was aufgebaut, den Verein nicht nur in der Schweiz zur Nummer 1 gemacht, sondern auch in Europa etabliert. Was für einen guten Fußball sie dort unter Seoane spielten, hat Leverkusen ja in der vergangenen Saison selber zu spüren bekommen. Jetzt traue ich ihm auch mit Bayer 04 eine Menge zu.
Eren Derdiyok kam am 12. Juni 1988 in Basel zur Welt. Mit dem Fußballspielen begann er bei den BSC Old Boys, wechselte 2006 zum FC Basel (89 Pflichtspiele, 25 Tore) und wurde mit dem Klub einmal Schweizer Meister und zweimal Cupsieger. Im Sommer 2009 verpflichtete Bayer 04 den Stürmer. Derdiyok blieb bis 2012, ging dann zur TSG Hoffenheim, um 2013 auf Leihbasis wieder nach Leverkusen zurückzukehren. Für Bayer 04 absolvierte Derdiyok in insgesamt vier Jahren 138 Pflichtspiele und schoss 35 Tore.
2014 ging der Schweizer, dessen kurdische Eltern aus der türkischen Provinz Tuncali stammen, für mehrere Jahre in die Türkei mit Stationen bei Kasimpasa SK, Galatasaray Istanbul und Göztepe Izmir. Mit Galatasaray wurde Derdiyok zweimal in Folge Türkischer Meister (2018 und 2019). 2020 im Januar wechselte er nach Usbekistan zu Pakhtakor Tashkent, wurde mit dem Klub Meister, Pokal- und Supercup-Sieger. Seit August 2021 steht der ehemalige Schweizer Nationalspieler (60 Länderspiele, 11 Tore) beim türkischen Zweitliga-Klub Ankaragücü unter Vertrag.