Im Sommer 2019 wurde die Riege der Ehrenspielführer um Rüdiger Vollborn und Stefan Kießling erweitert. bayer04.de nutzt die aktuell spielfreie Zeit, um sich im fünften Abschnitt der sechsteiligen Serie Stefan Kießling – seit dem 1. Oktober 2018 Referent der Geschäftsführung bei Bayer 04 – zu widmen.
Zwölf Jahre lang trug er das Trikot mit dem Kreuz auf der Brust. 131 Bundesliga-Tore erzielte Stefan Kießling in 344 Spielen für Bayer 04. Insgesamt brachte es Kies auf 403 Partien in der höchsten deutschen Spielklasse (davon 59 Einsätze für den 1. FC Nürnberg). Im Mai 2018 beendete die langjährige Nr. 11 der Werkself ihre große Karriere. Mehr als ein Jahrzehnt hat Stefan Kießling die 40-jährige Bundesliga-Geschichte von Bayer 04 mitgeprägt. Grund genug, noch einmal auf seine außergewöhnliche aktive Laufbahn zurückzublicken.
Vereinslegende, Sympathieträger und absolute Identifikationsfigur. Diese Attribute verkörpert an der Bismarckstraße keiner so gut wie Stefan Kießling. Fast 20 Jahre trennen den heute zweifachen Vater von seinen Anfängen im deutschen Profifußball, als er nahe seines Geburtsortes Lichtenfels in Oberfranken bei Eintracht Bamberg die Fußballschuhe schnürte. Weder seine Familie noch er selbst konnten sich im Sommer 1999 ausmalen, welch außergewöhnliche und von Höhen und Tiefen geprägte Karriere auf den Jungen wartete, der nach seinem Wechsel zum 1. FC Nürnberg 2001 nicht nur seine eigenen, sondern auch die Fußballschuhe seiner Mitspieler putze.
Eine Verhaltensweise, die ihn nicht zuletzt bis zu seinem letzten Spiel für die Werkself am 12. Mai 2018 sondern auch weit darüber hinaus auszeichnet. Bis heute gilt der 1,91 Meter große Hüne als absoluter Publikumsliebling in der BayArena. Einen Ruf, den sich der inzwischen 36-Jährige nicht nur dank seiner Treffer und Siege bei den Anhängern erarbeitete. Daher wirkt es fast schon erstaunlich, dass in einer statistisch total erfassten Fußball-Welt nicht zu erfahren ist, wie oft die Fans in Schwarz und Rot ihren ausgemachten Favoriten, den Profi Stefan Kießling, während dessen zwölfjähriger Profi-Laufbahn unter dem Bayer-Kreuz als „Zaunkönig“ auf die herausgehobene Position oberhalb des Rasens, seines eigentlichen Arbeitsplatzes, berufen haben, um gemeinsam mit ihm Tore oder Siege oder am besten gleich beides zu bejubeln. Gefühlt sein halbes Sportlerleben hat Kies hier, verschwitzt und happy, auf Augenhöhe und hautnah mit den eingefleischtesten Anhängern zugebracht und immer wieder das legendäre „UFFTA – UFFTA – UFFTA“ angestimmt.
Stefan Kießling und die Bayer 04-Fans – das passt einfach! „Unsere Fans investieren so viel für ihren Klub. Wenn ich daran denke, dass sie zum Beispiel monatelang an der Choreografie für mein letztes Spiel gearbeitet haben. Das ist doch unglaublich“, sagte der ehemalige Nürnberger. Der Weg zum „Fußball-Gott“ der BayArena erwies sich allerdings als sehr weit. Der Neuling, den der Klub für seinerzeit beachtliche 7,5 Millionen Euro angeheuert hatte, war jung, mit einem guten Torriecher ausgestattet, ehrgeizig, aber unreif. Er sollte neben Dimitar Berbatov stürmen, einem ungemein eleganten Spieler, einem Schleicher, der sich zu diesem Zeitpunkt schon international einen guten Namen gemacht hatte.
Im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat sich Kies unlängst an den Start erinnert: „Berbatov wechselte zu Tottenham, und plötzlich lastete viel Verantwortung auf meinen Schultern. Das war ein Druck, den ich bis dahin nicht kannte und mit dem ich auch nicht umgehen konnte. Für viele war ich damals schon die teuerste Bratwurst aus Nürnberg. Ich habe eben ein bisschen Zeit gebraucht, um anzukommen.“ Dieser schlappe Bratwurst-Vergleich, der aus der Feder eines BILD-Redakteurs stammt, sollte sich schon bald als fette Fehleinschätzung herausstellen. Der Neuling ackerte, hängte sich in jede Trainingseinheit so rein, als sei es die letzte, und ließ sich vor allem durch nichts und niemanden entmutigen.
Er war gekommen, daran ließ er keinen Zweifel, um zu bleiben. Dass es am Ende zwölf Jahre unter dem Bayer-Kreuz geworden sind, war indes nicht unbedingt abzusehen. Bayer 04-Ehrenspielführer Bernd Schneider, der in seiner Bindung an Klub und Fans ähnlich gestrickt ist und über Jahre mit Kies spielte: „Er hatte es anfangs sehr schwer. Ich habe oft seine Leidenschaft und seinen Willen bewundert, die ihn immer wieder ranbrachten. Stefan ist zweifellos eine wichtige Figur in der Historie von Bayer 04. Als Typ ist er rücksichtsvoll, zuvorkommend, humorvoll“, sagte die ehemalige Nummer 25 von Bayer 04, die im Mai 2010 die Fußballschuhe an den Nagel hing.
Über welch Potenzial der WM-Dritte von 2010 verfügte, zeigte sich nicht nur in der Saison 2007/08, in der sich Kießling mit 16 Pflichtspieltoren und 9 Vorlagen in den Kreis der Nationalmannschaft unter Joachim Löw spielte, im Sommer jedoch den Sprung auf den EM-Zug verpasste und die Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz vor dem heimischen TV verfolgen musste. Eine Beziehung, die sich im Laufe der Zeit nicht wirklich verbesserte, ihm jedoch die Möglichkeit gab, sich bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, für die der Mittelstürmer dank einer herausragenden Saison (21 Tore, 7 Vorlagen) – die für Bayer 04 unter Trainer Jupp Heynckes mit dem zweiten Platz endete – zu beweisen.
Zwar durfte sich Deutschland über die Bronze-Medaille freuen, doch kam Kies nicht über die Reservistenrolle hinaus. Die ehemalige Nummer 11 der Werkself hat das aber weder beeindruckt noch beeinflusst, er hat es einfach akzeptiert. In einer Phase, in der es in der Nationalmannschaft nicht wirklich rund lief, reihte der „Kilometerfresser“, wie ihn die Frankfurter Rundschau zu seinem Karriereende nannte, eine Bestleistung an die nächste, für die er sich 2013 buchstäblich in letzter Minute gegen den Hamburger SV und seinen Ex-Teamkollegen René Adler mit der Torjägerkanone (25 Tore) belohnte.
Doch auch in solchen Momenten denkt ein Spieler wie Stefan Kießling nicht an seinen Einzelerfolg, sondern an das gesamte Team. „Jeder Titel im Fußball ist ein Mannschaftstitel. Meine Torjägerkanone war ein Erfolg der gesamten Mannschaft und von allen Staff-Mitgliedern.“ Als Dank machte er allen Beteiligten im Zuge seines Erfolgs ein kleines Geschenk. „Ich ließ extra für alle ein kleines Duplikat der Torjägerkanone anfertigen und hab sie persönlich als Dankeschön an meine Mitstreiter überreicht.“ Stefan Kießling, eine Identifikationsfigur und Teamplayer durch und durch. „Er war nicht nur ungemein fleißig, sondern ein Spieler, der alles für die Mannschaft gemacht hat, offensiv wie defensiv. So einen teamfähigen Spieler gibt es heutzutage nur noch selten“, erinnert sich Jupp Heynckes an seinen ehemaligen Schützling, der auf der Zielgeraden seiner aktiven Zeit immer wieder mit Hüftproblemen zu kämpfen hatte.
Vereinstreue ist, glaubt man den Gesten vieler Spieler, in Zeiten des modernen Fußball-Nomadentums längst ein wohlfeiles Gut mit sehr begrenztem Haltbarkeitsdatum geworden. Stefan Kießling ist Bayer 04 als Spieler zwölf Jahre lang treu geblieben, obwohl es an interessanten Anfragen und konkreten Angeboten nie gemangelt hat, was bei der Klasse des Spielers auch verwundert hätte. Er hat immer wieder seinen Vertrag verlängert, hat sein privates und berufliches Wohlbefinden dargetan und seine Karriere stets aufs Neue von der Zuneigung der Fans tragen lassen. „Weil es für mich immer wichtig war mich wohlzufühlen. Ich hatte nie den Drang, woanders den nächsten Schritt zu machen. Von wegen Weiterentwicklung und so. Ich konnte und kann mich auch bei Bayer 04 sehr gut weiterentwickeln“, sagte er.
Dass er sich zu Beginn seiner Karriere jedoch voll auf den Fußball konzentrierte, stand damals etwas auf der Kippe. „Ich habe mal ein Praktikum als Koch gemacht und hätte danach sogar eine Ausbildung zum Koch in einem Fünf-Sterne-Hotel absolvieren können. Aber als ich damals mit meiner Mutter im Gespräch mit dem Hotelchef saß und der mir mitteilte, dass ich alle zwei Wochen auch samstags und sonntags arbeiten müsse, stand ich auf und sagte nur: ‚Okay Mama, das klärst du dann.‘ Ich habe ja damals schon Fußball gespielt, das hätte nie beides funktioniert“, erinnert sich der Hobbykoch. „Das Kochen macht mir nach wie vor noch sehr großen Spaß.“ Grund genug, um im März 2018 sein erstes Kochbuch mit dem Namen „Erfolgsrezepte – Wie Sie mit ihren Kochkünsten punkten“ auf den Markt zu bringen. Dass er sich auch nach seiner aktiven Zeit noch gerne hinter den Herd stellt, bewies er in jüngerer Vergangenheit in seinem alten Wohnzimmer gleich mehrfach. Gemeinsam mit Mannschaftskoch Alexander Wagner bekochte der ehemalige Stürmer im vergangenen Jahr in der Barmenia-Lounge 17 Silberlöwen und stand darüber hinaus für etliche Fragen und Fotos zur Verfügung.
Heimat! Ein Begriff, der unserer Vereinslegende wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Nicht nur sportlich schlug er tiefe Wurzeln, auch privat fand er im Rheinland sein ganz großes Glück. „Leverkusen und der Verein sind längst mein Zuhause. Hier habe ich meine Frau Norina kennengelernt, hier sind meine Kinder geboren worden. Und hier bin ich erwachsen geworden.“
Neben dem Kochen teilt der gebürtige Bamberger seine Leidenschaft auch für Krimis, wie er uns vor einigen Jahren im Rahmen eines Interviews mit Schauspieler Jan-Gregor Kremp („Der Alte“) verriet: „Ich bin quasi mit Krimis aufgewachsen. Ich erinnere mich noch, wie wir früher immer Krimis mit der ganzen Familie im Fernsehen geguckt haben. Es war dann immer ein schönes Ratespiel, wer denn der Täter ist. Heute lese ich viele Krimis und Thriller, weil ich einfach diese Spannung liebe, diesen ganz bestimmten Plot.“ Doch auch Stefan Kießling musste sich im Laufe seiner Karriere mit der Rolle als „Bösewicht“ auseinandersetzen und daraus seine ganz persönlichen Lehren ziehen. „Nach dem Phantomtor in Hoffenheim war das absolut keine schöne Phase für mich. Als Reaktion darauf habe ich ein paar Monate später meinen Facebook-Account gelöscht“, so Kießling.
Welchen Alltag der Reisefreund beschreibt, spiegelt sich in seiner Tätigkeit wider, die er seit dem 1. Oktober 2018 bei Bayer 04 innehat. An der Seite von Rudi Völler ist Stefan Kießling als Referent der Geschäftsführung tätig. Die Umstellung vom Rasenplatz auf den Bürostuhl hinter dem Schreibtisch ist dem zweifachen Familienvater nicht wirklich schwer gefallen. „Was auf dem Platz passiert, kenne ich alles. Jetzt kommt dazu, dass ich hautnah erlebe und erfahre, wie ein Verein eigentlich arbeitet, wie er geführt wird, wie die verschiedenen Abteilungen arbeiten, wie alles miteinander verknüpft ist, worauf Wert gelegt wird. Das ist eine spannende Aufgabe, die mich ganz fordert und zugleich auch fördert“, sagt der Sympathieträger mit einer klaren Vision:
„Was für mich wichtig ist: Ich möchte helfen Entscheidungen zu treffen, wenn es darum geht, Strukturen aufzubauen oder Dinge im Verein zu verändern. Ich möchte Dinge beeinflussen können. Und dass ich das tun darf, dafür bin ich dankbar. Ich bin dort, wo ich zwölf Jahre lang gespielt habe, wo ich mich immer pudelwohl gefühlt habe und wo bei mir auch die Liebe hingefallen ist.“ In seiner Position fühlt er sich jedenfalls absolut willkommen und bestätigt. „Natürlich möchte ich hier etwas mitgestalten, im Prinzip bin ich ja immer eingebunden, ob das jetzt Spielerverpflichtungen sind oder Umbaumaßnahmen, Strukturen. Meine Meinung ist da auf jeden Fall gefragt. Es ist ein gesunder, guter Austausch, den wir miteinander pflegen. Ich kann mit allen reden.“
Leverkusen, BayArena, Bismarckstraße: Auch nach zwölf Jahren aktiver Zeit geht es für den absoluten Publikumsliebling genau dort weiter, wo vieles begann. „UFFTA - UFFTA - UFFTA . . .“ auf einen großen Sportler.
Eine Karriere in Zahlen:
1. BL-Spiel für Bayer 04
am 12. August 2006 beim 3:0-Saisonstart gegen Alemannia Aachen. Stefan lieferte den Assist zum 3:0 von Simon Rolfes.
1. BL-Tor für Bayer 04
am 11. November 2006 zum zwischenzeitlichen 1:1 bei der 2:3-Heimniederlage gegen Bayern München.
144
Tore (131 für Bayer 04/13 für Nürnberg), die Stefan Kießling erzielte, bedeuten Platz 17 in der ewigen Bundesliga-Statistik. Ulf Kirsten ist in dieser Rangliste 6. mit 181 Toren, Rudi Völler 22. mit 132 Einschüssen.
Das schnellste Tor
Beim 3:1-Heimsieg gegen den 1. FC Kaiserslautern im April 2012 traf Kies bereits nach 24 Sekunden zur Führung.
Die Nr. 1 der Lüfte
Seit Erfassung der Kopfballtore in der Spielzeit 2004/05 war kein Spieler so oft im Luftkampf erfolgreich wie Kies, der 40 Mal per Kopf traf. Zweiter in dieser Liste sind Kevin Kuranyi und Mario Gomez mit jeweils 34 Kopfballtoren.
Zwei Hattricks, 16 Doppelpacks
In 16 Spielen traf Kies doppelt, zweimal gelang ihm sogar ein Hattrick: beim 4:0 im November 2009 gegen den VfB Stuttgart sowie im Mai 2012 beim 4:1 in Nürnberg.
Der Schwabenschreck
Am häufigsten traf er gegen den VfB Stuttgart: 14 Mal in 21 Spielen.
Spiel Nr. 279
Mit dem 1:0-Siegtreffer im Mai 2013 beim Hamburger SV erfüllt sich für Kies mit dem Gewinn der Torjägerkrone ein großer Traum. Seitdem sind keinem deutschen Profi mehr als 25 Bundesliga-Treffer in einer Spielzeit gelungen.