Calli wird 75: Immer noch auf der Überholspur

Ein bisschen kürzertreten? Mal runter vom Gaspedal, es ruhiger angehen lassen? Mit 75 könnte einem so etwas durchaus in den Sinn kommen. Aber dem Rheinländer Reiner Calmund anlässlich seines Geburtstages am heutigen Donnerstag ein „Jetz ävver hösch“ zu wünschen, wäre ziemlich daneben. Das schöne kölsche Wort „hösch“ kommt im prall gefüllten Calmund’schen Wortschatz nicht vor. Jetzt mal schön langsam? Nee, ohne Calli.
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Carro und Rolfes gratulieren Calmund

Fernando Carro, Vorsitzender der Geschäftsführung von Bayer 04, sagt: „Reiner Calmund steht für eine sehr erfolgreiche Entwicklung dieses Klubs – er ist als Teil der Bayer 04-Geschichte nicht wegzudenken. Vier Vizemeisterschaften sowie das Champions-League-Finale 2002 fallen in seine Amtszeit. Das sagt beinahe alles. Neben seinen fachlichen Kompetenzen weiß ich den regelmäßigen und persönlichen Austausch mit ihm sehr zu schätzen. Herzlichen Glückwunsch, lieber Calli!“

Simon Rolfes, Geschäftsführer Sport von Bayer 04, betont anlässlich des Geburtstags: „Als ich 2005 als Spieler nach Leverkusen kam, war Calli gerade ein Jahr weg. Ich habe nie direkt mit ihm zusammengearbeitet, aber alle haben von ihm geschwärmt. Er hat Bayer 04 in seinen vielen Jahren als Manager und Geschäftsführer nicht zuletzt durch die internationalen Transfers namhafter Spieler vor allem in Südamerika zu großer Strahlkraft verholfen. Wir telefonieren nach wie vor regelmäßig, der Austausch mit Calli ist immer interessant. Ich wünsche ihm nur das Beste für das neue Lebensjahr.“

Reiner Calmund
Reiner Calmund (l.) im Sommer 2022 mit Fernando Carro, Vorsitzender der Geschäftsführung von Bayer 04.

Jurymitglied und Ratefuchs

Der Mann ist immer noch on fire. Immer noch omnipräsent. Vorige Woche war er gleich zweimal bei großen Fernsehshows zu sehen. Erst als bewährtes Jurymitglied bei „Grill den Henssler“ auf VOX, ein paar Tage später als Ratefuchs beim Prominenten-Special von „Wer wird Millionär?“. Für den guten Zweck erspielte Calli 64.000 Euro im Rahmen des RTL- Spendenmarathons „Wir helfen Kindern“. Seine Teilnahme begründete er in seinem typischen Duktus: „Menschen, denen es etwas besser geht auf dieser Welt, müssen an Menschen – insbesondere an Kinder – denken, denen es nicht so gut geht. Wer das nicht kapiert, muss zum Arzt sich die Stirndecke aufmachen lassen und gucken, ob sich die Rädchen alle richtig drehen.“ Hört sich gesprochen im Original-Calli-Ton natürlich noch viel besser an, als es sich liest.

Ein paar Ratschläge hatte er auch am vergangenen Sonntag bei seinem TV-Aufritt im „Doppelpass“ auf Sport1 parat. Auch hier wieder: Calmund, wie er leibt und lebt – und beim Thema Fußball nun ganz in seinem Element. Emotional und ausladend gestikulierend analysierte er in der Expertenrunde das 2:3 der deutschen Nationalelf gegen die Türkei. Regte sich darüber auf, dass bei dem einen oder anderen der Wecker nicht geklingelt hat. Stichelnd, polternd, im Attacke-Modus. Aber meist mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. So isser, der Calli. So kennt man ihn, so liebt man ihn. Du kannst diesem Mann einfach nichts übelnehmen.

Schon früh auf vielen Hochzeiten getanzt

Einen „erfindungsreichen Virtuosen im Umgang mit Sprachbildern“, so hat ihn der Sportjournalist Karlheinz Wagner einmal bezeichnet. Virtuos und erfindungsreich ist Calmund tatsächlich immer gewesen, schon von klein auf. In Brühl 1948 geboren und aufgewachsen in Frechen, im Landkölner Braunkohle-Revier, entwickelte sich das „durchtriebene Kerlchen mit einer Klappe so groß wie die Baggerlöcher in der Gegend“ (Selbstbeschreibung in seiner Autobiografie „fußballbekloppt!“) zu einem jungen Mann, der schon früh auf vielen Hochzeiten tanzte. Der Messdiener war und Akkordeonspieler. Der eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann machte, Sessel und Sofas verkaufte, nebenbei als freier Lokalsport-Redakteur nicht nur für die Kölnische Rundschau schrieb, sondern diese Zeitung auch noch als Bote austrug. Der seinen Wehrdienst ableistete und anschließend auf dem zweiten Bildungsweg BWL studierte. Kurz: Calli drehte schon als 20-Jähriger voll im roten Bereich. Gab es etwas zu organisieren, für das er sich begeistern konnte, dann brannte er „wie eine Fackel“.

„Wir wollten Bundesliga machen. Und wir machten Bundesliga.“Reiner Calmund

Vor allem ohne Fußball konnte er nicht. Als der Deutsche Fußball-Bund einen Lehrgang zum „DFB-Organisationsleiter“ anbot, nutzt Calmund die Chance. Seine Karriere als Mittelfeldspieler bei der SpVgg Frechen 20 war nach einem Knochenabriss im linken Knöchel früh beendet. Machte aber nix, für eine große Laufbahn als Profi hätte es ohnehin nicht gereicht. Calli wurde in seinem Klub Trainer der B-Jugend und coachte darüber hinaus die C-Jugend-Kreisauswahl. Im Kölner Umland kannte er bald jeden Platz, jeden Fußballer, jeden Obmann und jeden Trainer.

Stadionsprecher und Seelentröster

Als er an einem regnerischen Novembertag 1976 Willibert Kremer bei einem Auswahlspiel in der Verbandssportschule Hennef traf, begann für Calli das Kapitel Leverkusen. Kremer, seinerzeit Trainer des damaligen Zweitligaklubs Bayer 04, lotste den umtriebigen Calmund unters Bayer-Kreuz. „Er brauchte einen, der ein bisschen Gas gab in allen Abteilungen, vor allen Dingen aber in der Jugendabteilung“, erinnert sich Calli, der hauptberuflich fortan als Betriebswirt in der Personalabteilung der Bayer AG arbeitete. Nach Dienstschluss übernahm er den Fahrdienst für die A-Jugendlichen von Bayer 04, organisierte alles „von den Bällen bis zu den Eckfahnen, von den Trikots bis zu den Schuhen“. Er gefiel sich in der Rolle des Hans Dampf in allen Gassen. „Ich gab den Stadionsprecher und den Seelentröster, den Hau-Drauf und den Motivator, den Taktikfuchs und den Clown.“

Als der Klub 1979 in die Bundesliga aufstieg, bekleidete Calmund offiziell das Amt des 2. Vorsitzenden der Fußballabteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen, kümmerte sich um Jugendarbeit und Nachwuchsförderung, war verantwortlich für die Amateure und baute eine Scouting-Abteilung auf, die schnell zu den besten in Deutschland zählen sollte. Reiner Calmund war längst das, wozu die TikTok-Generation heute gerne aufruft: Sei ein Macher! „Wir wollten Bundesliga machen. Und wir machten Bundesliga. Wenn auch von der Hand in den Mund“, blickt Calmund auf die Anfangsjahre im Oberhaus zurück.

Immer hart am Limit

Für ihn begann spätestens jetzt ein Leben auf der Überholspur. Immer hart am Limit und manchmal nah am Kreislaufzusammenbruch. Fast-Abstiege (1982, 1996, 2003), zwei Titel (1988 im UEFA-Cup und 1993 im DFB-Pokal) und etliche „Vize-Titel“ (zu viele, um sie hier aufzulisten): Der Gemüts- und Genussmensch Calmund hat alle Höhen und Tiefen des Klubs in einer Intensität erlebt und durchlitten wie kein Zweiter. Es ging immer rauf und runter auf der Achterbahn der Gefühle, mehrfache Loopings inbegriffen.

Reiner Calmund
Ausgelassene Stimmung in der Kabine: Reiner Calmund (Mitte) feiert den DFB-Pokalsieg 1993 mit Franco Foda (l.) und dem damaligen Fußball-Abteilungsleiter Kurt Vossen.

Wie nah ihm Erfolg, vor allem aber Misserfolg ging, stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Im Abstiegskampf ein kalkweißes Nervenbündel, bei der verspielten Meisterschaft 2002 ein weinendes Häufchen Elend, das gemeinsam mit den Fans leidet. Wie er sein Herz auf der Zunge trägt, so zeigt er seine Emotionen mit dem ganzen Körper. Mehr Identifikation mit seinem Arbeitgeber geht nicht. Arbeitgeber? Völlig falsches Wort. Nein, für Calmund ist Bayer 04 fast 30 Jahre lang Lebensinhalt gewesen. In dieser Zeit zwischen 1976 und 2004 hat keiner den Klub so geprägt wie er. Mit seinem untrüglichen Gespür für die richtigen Leute am richtigen Platz hat er Bayer 04 nicht nur vom Graue-Maus-Image befreit, das dem Klub bis fast Mitte der 1990-er Jahre noch anhaftete. Unter ihm etablierte sich Schwarz-Rot auch in der nationalen und internationalen Spitze.

Gedanklich schneller als die Konkurrenz

Calmund holte Spieler wie Rüdiger Vollborn, Jorginho, Andreas Thom, Ulf Kirsten, Bernd Schuster, Rudi Völler, Emerson, Michael Ballack, Bernd Schneider, Lucio, Dimitar Berbatov und viele andere unters Kreuz, die als Stars kamen oder sich hier zu solchen entwickeln sollten. „Ich glaube, sein Erfolg basierte zum großen Teil darauf, dass er gedanklich schneller war als seine Konkurrenten“, sagte Jorginho, nach Tita der zweite Brasilianer bei Bayer, einmal über Calmund. Der Manager selbst sah das ähnlich. Einer seiner Lieblingssprüche, den er gerne mantraartig wiederholte: „Die Großen fressen nicht die Kleinen, sondern die Schnellen fressen die Langsamen.“

Manchmal, das gab er in seiner Autobiografie zu, legte er dabei ein Tempo vor, dem er selbst kaum folgen konnte. Bayer 04 profitierte jedenfalls von seiner hohen Drehzahl und von seiner unglaublichen Hartnäckigkeit. Calmund engagierte Trainer wie Dragoslav Stepanovic, Christoph Daum und Klaus Toppmöller. Und er band viele Klublegenden wie Jürgen Gelsdorf, Peter Hermann, Norbert Ziegler, Thomas Hörster und Rüdiger Vollborn langfristig in die Strukturen von Bayer 04 ein. Auch Rudi Völler machte unter Calmund die ersten Schritte in seiner zweiten Karriere als Sportdirektor und späterer Geschäftsführer Sport.   

Freund und „Pottsau“

So gewieft und trickreich, so ehrgeizig und mit allen Wassern gewaschen er als Manager und Geschäftsführer auch war. Bei allem Streben nach dem größtmöglichen sportlichen Erfolg war Calmund nie nur der Big Boss, der XXL-Manager, sondern vielen auch ein guter Freund und Mentor, Kumpel, Vertrauensperson, Ratgeber. Einer, bei dem man sich ausheulen konnte. Einer, der sich mit seiner ganzen Leibesfülle hinter einen stellte, wenn’s ungemütlich wurde. Ja, er konnte einen intern in den Senkel stellen, aber er haute nie jemanden aus seiner Bayer 04-Familie öffentlich in die Pfanne. Er kam in der Halbzeitpause wutschnaubend in die Kabine, griff sprachlich, wenn’s sein musste, auch gerne mal tief „in die Asi-Kiste“, wenn er deutlich werden musste. Einmal brach er sich einen Zeh, als er vor versammelter Mannschaft wutentbrannt vor einen Medizinkoffer trat. Der Mann konnte zur „Pottsau“ (O-Ton Calmund) werden.

Reiner Calmund

Selbst Ulf Kirsten, den Calmund seinen „Einkauf des Jahrhunderts“ nennt, bekam das zu spüren. Der „Schwatte“ hatte in einem Trainingslager in den USA seinen Ruf als „Motzki“ einmal mehr bestätigt. Calmund platzte der Kragen. Seine Disziplinarmaßnahme bereitete Kirsten „einen der schlimmsten Tage meines Lebens“. Der unter extremer Flugangst leidende Torjäger durfte nicht mit der Mannschaft zurück nach Deutschland, sondern musste die zehn Stunden Flug allein in einem normalen Linienflieger absitzen. „Ein Horror“, erinnert sich Kirsten. Nur zu überleben „mit einer Flasche Rotwein und drei, vier Gläsern Bier“. Aber auch er verzieh seinem Peiniger bald nach der Rückkehr „wegen einer tiefen Zuneigung“. Und Calmund hielt die Rolle des Wüterichs ja auch selten lange durch. Meist gewannen seine Herzenswärme und sein Helfersyndrom schnell wieder die Oberhand.

Für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter legte Calli seine Hand ins Feuer. Auch die Fans wussten ihre Belange bei ihm in guten Händen. Auf sein Wort war Verlass. Noch heute fühlt er sich den Anhängern von Schwarz-Rot aufs Engste verbunden. Kleines Beispiel gefällig? Als er Anfang dieses Jahres von einem Bayer-Fan zu dessen 60. Geburtstag nach Leverkusen eingeladen wurde, fuhr Calmund selbstverständlich hin zur kleinen Party. Auch solche Termine, fernab von jeder Öffentlichkeit, sind ihm wichtig. Eine Ehrensache.

Kein bisschen „hösch“

Fast 20 Jahre liegt sein Abschied aus dem operativen Geschäft bei Bayer 04 nun schon zurück. Ruhiger um ihn geworden ist es selbstverständlich nicht. Die Marke Reiner Calmund hat ihr Portfolio in den vergangenen zwei Jahrzehnten noch einmal ordentlich erweitert. Er war der Big Boss in der gleichnamigen RTL Reality-Show, er war WM- und EM-Botschafter, Kolumnist, Berater und Buchautor, Protagonist der preisgekrönten Doku „Calli do Brasil“, ist immer noch gern gesehener Gast in Talk-, Quiz-, Infotainment- und Comedyshows, als Fußballexperte bei vielen TV-Sendern gefragt, Redner auf Kongressen und Unternehmensveranstaltungen, Podcaster (Echte Champions XXL) und Testimonial. Die „Welt“ nannte ihn einmal „den Rentner mit den 13 Jobs“. Wenn das mal hinkommt. Nicht zu vergessen sein unermüdliches Engagement vor allem für Kinder. Calmund arbeitet ehrenamtlich für mehrere Stiftungen und Vereine.

Rastlos, immer unterwegs zum nächsten Termin, mittendrin im Gewimmel. Wir sehen: „Hösch“ und Reiner Calmund – das wird auch in Zukunft nicht zusammenpassen. Gut so!

In diesem Sinne: Happy Birthday, Calli!

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