Anpa­cker, Abräu­mer und Fan-Lieb­ling

Cars­ten Rame­low

Im Sommer 2019 wurde die Riege der Ehrenspielführer um Rüdiger Vollborn und Stefan Kießling erweitert. Bayer04.de nutzt die aktuell spielfreie Zeit, um in den kommenden Wochen jeweils freitags diesen verdienten Werkself-Legenden zu danken. Die sechsteilige Serie startet mit Carsten Ramelow, der am heutigen Freitag seinen 46. Geburtstag feiert. Happy Birthday, Calle!

Eine große Geburtstagsfeier wird es angesichts der aktuellen Gesundheitslage natürlich nicht geben, nur der engste Familienkreis ist vor Ort, Sohn Julian, der in den USA im zweiten Semester Biomedizin studiert, wird per Skype zugeschaltet. „Wir werden es also ganz ruhig angehen lassen“, sagt Calle. Was ihm nicht viel ausmacht. Ruhig lebt er ohnehin seit knapp 18 Jahren in seinem Domizil im Bergischen. Ganz am Ende einer Stichstraße in Kürten-Bechen steht sein Haus, dahinter kommt nur noch weites Feld, eine Tannenbaumschonung und Wald. Ab und zu wagen sich die Rehe mal bis ans Grundstück, Bussarde kreisen über dem Acker auf der Suche nach Wühlmäusen, beim Bauer nebenan grasen die Ziegen. Wildschweine hat‘s auch schon mal in der Gegend. Hier könnten sich auch Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Oder die Waltons. „Wenn uns Leute aus Berlin besuchen, staunen die immer, wie urlaubsmäßig schön die Natur hier ist“, sagt Carsten Ramelow.

„Diesen Rückzugsort als Ausgleich habe ich schon immer gebraucht.“ Mit seiner Ehefrau Steffi, Tochter Melina und zahlreichen Tieren lebt Calle hier fernab vom Großstadtlärm.

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Steffi und Carsten Ramelow mit Schäferhund Duke.

Duke, der weiße Schäferhund der Familie, ist ein inzwischen zwölfjähriger Rüde. „Wir wollten immer einen Hund haben, wenn ich aufhöre. Vorher war dazu ja keine richtige Gelegenheit, weil ich so viel unterwegs war als Spieler.“ 2008, nach dem Ende seiner langen Karriere, kam Duke dazu, „als kleiner Eisbärwelpe“, wie Calle schmunzelnd anmerkt.

Duke ist sozusagen der Chef im Rudel des tierischen Anhangs der Familie Ramelow. Im großzügigen Garten leben die übrigen Mitbewohner. Im Teich schwimmen Kois und Schildkröten, auf der Wasseroberfläche gesichert durch ein Netz. Die Greifvögel und Fischreiher sind halt nicht weit. Ein paar Meter weiter steht unter einem hoch gespannten Schutznetz ein Stall mit Seramas-Hühnern, der kleinsten Hühnerrasse. Unweit davon entfernt liegen Ziegelsteine auf Magazinbeuten, in deren Inneren gewaltig Leben wuselt. Mehrere Bienenvölker haben hier ihr Zuhause. Steffi und Sohn Julian haben vor etlichen Jahren im Ort den Imkerschein erworben, neun Monate dauerte die Ausbildung an den Wochenenden. Bis zu 60 Kilo Honig gibt’s pro Jahr als Ausbeute im Hause Ramelow.

„Jetzt sind wir Kleinbauern und echte Landeier, das hätte ich mir früher auch nie träumen lassen“, sagt Carsten. Groß geworden ist er schließlich mit dem anderen Extrem, in einem 17-stöckigen Berliner Hochhaus in Neukölln-Buckow. „Aber ich war immer gerne draußen als Junge und bin auf Bäume geklettert, Nähe zur Natur war schon immer meins.“ Davon hat er jetzt definitiv reichlich.

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Calle, der Imker: Bis zu 60 Kilogramm Honig pro Jahr produzieren seine Bienen.
Jetzt sind wir Kleinbauern und echte LandeierCarsten Ramelow

Auch beruflich hat Calle genug zu tun. Er ist Mitgesellschafter und Teilhaber der Booker GmbH, ein bundesweit erfolgreicher Dienstleister im Bereich Ticketing und Veranstaltungsvermarktung mit Sitz in Hürth. „Ich muss aber nicht jeden Tag ins Büro und kann mir das ganz gut einteilen. Die reine Bürozeit wär‘ sowieso nichts für mich, ich bin oft vertrieblich in Deutschland unterwegs und hab‘ gerne Kontakt zu Menschen“, sagt Ramelow, der schon immer der Gegenentwurf zum abgehobenen Fußballstar war:  bodenständig und geerdet, interessiert und verbindlich, fest verwurzelt in der dörflichen Gemeinschaft.

Hier ist er mittendrin, nicht nur dabei – und liebt und genießt das. Als Dimitrios und Antonios, das griechische Besitzerpaar der Taverna Kalyva, des ersten Restaurants am Platz in Kürten-Bechen, ihr 22-jähriges Jubiläum im Ort begingen, hat Ramelow heimlich eine Überraschungsparty auf die Beine gestellt. „Weil‘s zwei tolle Menschen sind, denen man gern mal was zurückgeben möchte.“ Da hat er dann die Umgebung mobilisiert, Feuerwehr, Theatergruppe und den großen Karnevalsverein und alle für die Idee gewonnen. Und sich diebisch gefreut, dass die griechischen Gastgeber von dem Ganzen nichts mitbekamen, bis es so weit war. 170 Leute sind zusammengekommen – und die rauschende Feier endete zu vorgerückter Stunde damit, dass alle am Kreisverkehr in Bechen Sirtaki tanzten und den nächtlichen Durchgangsverkehr lahmlegten. Flashmob geht auch liebenswert.

Es ist nur ein Beispiel für die gelebte Nachbarschaft der Familie Ramelow. „Wenn es um die Gemeinschaft geht, bin ich sofort dabei. Wenn jeder einen kleinen Teil beiträgt, kann man auch Großes bewirken.“ So wie beim örtlichen Fußballverein SV Bechen 1930, deren erste Formation in den Tiefen der Kreisliga B beheimatet ist. Da hat sich Ramelow dafür stark gemacht, dass der Ascheboden in einen Naturrasenplatz umgewandelt wird, hat Sponsoren besorgt, Spenden zusammengetrommelt und ein tolles Eröffnungsevent inszeniert. Beim Einweihungsspiel 2014 bildeten Klaus Toppmöller, Hans Sarpei und Ulf Kirsten das Trainertrio, auch Jens Nowotny, der nicht weit entfernt wohnt, folgte dem Ruf seines alten Kumpels Calle, Boris Zivkovic kam aus Kroatien angeflogen, Thomas Häßler war dabei und am Rande achtete Dieter Trzolek als Physiotherapeut auf die Unversehrheit der Muskeln und Beine.

Anpacken war schon immer mein DingCarsten Ramelow

Bei einem Karnevalsumzug in Bechen vor einigen Jahren gingen 50 Leute in selbst genähten Bienchenkostümen durch die Straßen. Carsten Ramelow, auch als Berliner Bub‘ dem rheinischen Brauchtum längst aufgeschlossen gegenüber, hatte für diesen Anlass passend Biene Maja und Willi als Riesenfiguren in Pappmaché ersteigert und mit einem Anhänger angeschleppt. Da ist und bleibt er eben einfach ein Teamplayer. Calle, der Kümmerer. Wenn der benachbarte Bauer die Heuernte einfährt, ist er natürlich dabei und nimmt wie selbstverständlich die Mistgabel in die Hand. „Das ist hier einfach ein schönes Miteinander, man hilft sich, und man hilft sich gern. Anpacken war schon immer mein Ding, da mach‘ ich auch gern mal die Drecksarbeit für andere.“ Eine Eigenschaft, die ihn früher auch auf‘m Platz ausgezeichnet hat. Die Fans haben ihn auch dafür geliebt und riefen ihn in ihrer Verehrung auch schon mal gern zum „Carsten-Ramelow-Fußballgott“ aus.

Mit dem aktiven Kicken ist es jetzt nicht mehr so weit her, ab und an tritt er noch mal im Trikot der Traditionsmannschaft von Bayer 04 auf. „Aber eher sporadisch“, sagt er, „ich muss immer gucken, was der Körper sagt.“ Acht Operationen am Knie, vier auf jeder Seite, lassen sich nicht wegreden. „Aber ich kann nicht klagen“, sagt Calle, „ich kann joggen und auch die Gartenarbeit komplett bewältigen. Da brauchst du dann sowieso kein anderes Krafttraining mehr.“

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Bindung zum Ball hat er aber immer noch. Dafür sorgt auch schon seine langjährige ehrenamtliche Tätigkeit als Vizepräsident der VDV, der Vereinigung der Vertragsfußballer, einer Spielergewerkschaft, die ihre über 1.300 Mitglieder mit professionellen Serviceleistungen in den Bereichen Vorsorge, Recht, Bildung, Berufsplanung, Medizin, Sportpsychologie, Medienschulung, Wettbewerbsintegrität und Vereinslosentraining unterstützt. In Duisburg-Wedau stellt die VDV einmal im Jahr ein großes professionelles Camp mit Trainingswochen und Testspielen auf die Beine, „als Plattform für die vereinslosen Jungs, um sich für neue Klubs präsentieren zu können“.

Er selbst hatte da in seiner Karriere ein glückliches Händchen, als er im Winter 1996 von Hertha BSC zu Bayer 04 wechselte, nachdem er der Werkself gut zwei Jahre zuvor noch im Dress der Hertha-Amateure als Gegner im Pokalendspiel begegnet war. Gleich in seinem dritten Bundesligaspiel für Schwarz-Rot trat Calle ausnahmsweise mal als Torjäger in Erscheinung. Beim 2:0 gegen Hansa Rostock am 19. März 1996, einen Tag vor seinem 22. Geburtstag, erzielte er beide Treffer - es sollte sein einziger Doppelpack für Bayer 04 bleiben.

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WM-Finale 2002: Carsten Ramelow und Bernd Schneider boten beim 0:2 gegen Brasilien jeweils eine ganz starke Leistung.

13 Jahre als Profi in Leverkusen mit weit über 400 Pflichtspielen für die Werkself, 333 davon in der Bundesliga, insgesamt acht Vizetitel (siehe Interview und Infokasten zur Person): Die persönliche Bilanz von Carsten Ramelow ist beeindruckend. Der Abschied 2008, als die Knie dann endgültig streikten und auch keine Unterstützung der damaligen U23 von Ulf Kirsten mehr zuließen, war nicht ganz ohne für ihn. „Die Umstellung ist schon schwierig, du musst eine neue Aufgabe im Leben finden.“ Längst hat er sich‘s da gut zurechtgelegt, mit der richtigen Mischung aus Arbeit und Freizeit. In der er ja wie beschrieben eher selten nichts tut.

In der BayArena ist Ramelow nur noch unregelmäßig anzutreffen. „Ich bin immer noch gerne da, aber es ist über die letzten Jahre doch schon weniger geworden. Mit Kieß hab‘ ich ab und an noch Kontakt, wir haben so eine gemeinsame Wellenlänge“, sagt Calle.

Im folgenden Interview erinnert sich der Ehrenspielführer noch einmal an die ganz besondere Saison 2001/02:

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„Die Erlebnisse sind wichtiger als Medaillen"

Carsten, vier Tage vor dem Finale in Glasgow habt ihr das Pokalfinale in Berlin gegen Schalke verloren und musstet zusehen, wie die Schalker im Konfetti-Regen gefeiert haben. Ihr musstet am 15. Mai 2002 das gleiche Szenarium nach der Niederlage gegen Real Madrid noch einmal über euch ergehen lassen. Welche Gedanken gingen dir da in diesem Moment durch den Kopf?

Ramelow: Ich habe vor kurzem mal einen guten Spruch von Diego Simeone gelesen, der als Trainer von Atlético Madrid auch oft ein Finale verloren hat: Man muss sich immer bewusst sein, dass man ein Endspiel auch verlieren kann. Diese Einstellung hatte ich schon immer. Ich war eigentlich nie niedergeschlagen, habe nie geweint oder mich emotional runtergezogen. Ich bekam in meiner Karriere, salopp gesagt, so viel auf die Fresse, da habe ich gelernt, mit Niederlagen umzugehen. Niederlagen sind nicht schön, das ist klar. Aber nach zwei, drei Trauertagen musst du bereit sein für das nächste Finale.

Gegen welchen Gegner habt ihr euch eigentlich bessere Chancen auf einen Titel ausgerechnet, gegen Schalke 04 oder gegen Real Madrid?

Ramelow: In diesem Jahr hatten wir eine sehr, sehr gute Mannschaft und deshalb auch viel Selbstvertrauen. Schalke 04 mussten wir schon gar nicht fürchten und Real Madrid auch nicht. Natürlich kannte man die Qualitäten der Spanier, doch an einem guten Tag sind auch sie zu schlagen. Aber auch wir kannten unsere Qualitäten und wussten, dass wir als Mannschaft gut sind.

Wie hat euch Trainer Klaus Toppmöller für das Spiel in Glasgow eingestellt? Schließlich musste ja auch die Pokalniederlage verarbeitet werden. Kannst du dich noch daran erinnern?

Ramelow: Ehrlich gesagt nicht mehr so genau. Jede Formulierung habe ich nicht mehr Kopf. Er konnte uns aber immer mit seiner Lockerheit bestens motivieren. Er hat uns gesagt, dass wir so wenig Fehler wie möglich machen sollten, weil eine Klassemannschaft wie Real Madrid so etwas sofort bestraft. Das haben wir auch ganz gut umgesetzt und eigentlich nur wenige Fehler gemacht.

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Wieder Vize: Auch im Champions-League-Finale 2002 gegen RealMadrid überzeugten Ramelow und Co. - nur das Ergebnis stimmte nicht.

Noch heute behaupten viele Experten, hätte Madrid nicht einen Torwartwechsel vornehmen müssen, hätte Bayer 04 das Spiel gewonnen. Das war übrigens auch die Auffassung bei den Verantwortlichen von Real Madrid. Siehst du das auch so?

Ramelow: Im Fußball gibt es ja nie den Gegenbeweis. Ich denke mal, dass wir Iker Casillas, damals noch ein ganz junger Torwart, erst so richtig warmgeschossen haben. Er konnte sich mehrfach auszeichnen und wurde immer sicherer. Leider hat er an diesem Tag gezeigt, über welche Qualitäten er damals schon verfügte. Er hat nicht umsonst eine solche Karriere hingelegt. Wir hatten in Glasgow unsere Chancen, konnten sie aber leider nicht nutzen. Ob es am Torwartwechsel lag? Wer kann diese Frage heute schon definitiv beantworten?

Nach dem 1:1 von Lucio wart ihr wieder auf Augenhöhe, vielleicht sogar die bessere Mannschaft. Ging da ein Ruck durch die Mannschaft? Was dachtest du in diesem Augenblick?

Ramelow: Ich dachte nur: Sieh mal an, die sind auch verwundbar, Real Madrid ist tatsächlich auch zu schlagen. Doch dann folgte leider das Traumtor von Zidane zum 2:1. Er machte letztlich den Unterschied. So einen Spieler wie ihn hatten wir nicht in unseren Reihen. Wir hauten uns noch mehr rein, erspielten uns auch Möglichkeiten, doch konnten sie leider nicht in Tore ummünzen. Im Nachhinein behaupte ich einfach mal: Einer wie Zidane bei uns hätte sicherlich die eine oder andere Chance, die wir hatten, verwandelt. Aber das ist natürlich nur reine Spekulation.

Wenig später beim WM-Finale in Yokohama gegen Brasilien gehörtest du zu unserer Nationalmannschaft – und gefeiert hat wieder mal der Gegner.

Ramelow: Ich habe in meiner Karriere acht Silbermedaillen gewonnen. Natürlich wäre es schön gewesen, die eine oder andere würde in Gold glänzen. Dadurch wäre ich aber ganz sicher kein anderer Mensch. In einer Saison deutscher Vize-Meister, deutscher Vize-Pokalgewinner, Vize-Champions League-Gewinner und Vize-Weltmeister - also viermal Vize, das hat es noch nie zuvor gegeben und wird es sicherlich auch nie mehr geben. Ich war dabei und die Erlebnisse, die kann mir keiner mehr nehmen, die sind wichtiger als Medaillen.     

Zur Person:

Geburtsdatum und -ort: 
20. März 1974 in Berlin

Vereine: 
Tasmania Neukölln, Tennis Borussia Berlin, Hertha Zehlendorf, SC Siemensstadt, Hertha BSC, Bayer 04

Bundesligaspiele:
333

Bundesligatore:
22

Erfolge:
46 Länderspiele für Deutschland, Vizeweltmeister 2002, Champions-League-Vize 2002, Vize-Pokalsieger 1993 und 2002, Deutscher Vizemeister 1997, 1999, 2000, 2002