„Im Käfig habe ich alles gelernt“

Nadiem Amiri im gro­ßen Inter­view

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Für Nadiem Amiri ist es wie eine Reise in die eigene Vergangenheit. Der Bolzplatz in Leverkusen-Rheindorf, an dem sich der Mittelfeldspieler mit der Redaktion des Werks11 Magazins zum Fototermin trifft, erinnert ihn an seine Kindheit. In den staubigen Fußballkäfigen von Ludwigshafen ist er sportlich sozialisiert worden. Es ist der richtige Ort, um mit dem 24 Jahre alten Mittelfeldspieler der Werkself ein Gespräch über Führungsspieler, Siegermentalität und Werte zu führen.

Nadiem, du hast dich selbst einmal scherzhaft als „Straßenköter“ bezeichnet. Einer, der auf dem Bolzplatz, in so einem Käfig wie hier, fußballerisch sozialisiert worden ist. Was ist das Besondere daran?
Amiri: „Ich glaube, Spieler, die auf dem Bolzplatz groß geworden sind, die haben dieses ‚Sieger-Gen' in sich, diese totale ‚Gewinner-Mentalität'. Weil du gegen deine Freunde einfach nicht verlieren willst, erst recht nicht, wenn du der bessere Fußballer bist. Ich hasse es zu verlieren. Dort habe ich auch gelernt, mich gegen Ältere durchzusetzen, nie aufzugeben. Und meine fußballerische Technik kommt von dort, weil es einfach viel schwieriger ist als auf feinem Rasen. Mich hat das sehr geprägt. Ich bin sehr, sehr dankbar für die Zeit.“

Wie sah diese Kindheit denn konkret aus?
Amiri: „Immer direkt nach der Schule ging es los. Ich hatte vier beste Freunde, mit denen ich von der ersten bis zur neunten Klasse zusammen war. Wir kommen alle aus Mundenheim (Stadtteil von Ludwigshafen; Anm. d. Red.), haben immer zusammen gekickt. Ich bin dann immer von der Schule kurz nach Hause, meine Mutter hat Essen gekocht, und ich habe dann direkt gesagt ‚Mama, ich muss ganz schnell wieder weg‘.“

Und bist dann kicken gegangen.
Amiri: „Meine Mutter hatte immer Angst, dass mir etwas passiert und mich deshalb immer überall hingefahren, auch zum Bolzplatz. Manchmal hat sie mich dann abends nicht am selben Bolzplatz wiedergefunden, aber an einem der anderen war ich dann. (lacht) So sah mein Tag aus, wir sind da quasi groß geworden. Ich habe meiner Mama immer gesagt, dass ich heute keine Hausaufgaben zu erledigen habe, auch wenn es meist gelogen war. Die Aufgaben habe ich dann am nächsten Tag kurz vor der Stunde gemacht. Ich war in der Schule sicher nicht der Beste, aber Gott sei Dank bin ich auf der anderen Seite ein schlauer Junge gewesen und wusste, was im Leben wichtig ist: Respekt. Da hat mir der Bolzplatz in gewisser Weise mehr beigebracht als die Schule. Im Käfig habe ich alles gelernt.“

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Wie meinst du das?
Amiri:
„Jeder weiß natürlich, dass die Schule wichtig ist. Und das würde ich auch nicht bezweifeln. Aber ich glaube, durch dein Umfeld wirst du noch stärker geprägt, da kommst du in Situationen, die du nicht erwartest. In der Schule kann dir ein Lehrer sagen ‚Hier, lerne dies und das!‘, aber draußen, im richtigen Leben, da lernst du eigentlich alles. Natürlich ist es auch wichtig, dass du eine gute, intakte Familie hast. Das beeinflusst die Erziehung, deinen Charakter. Mein Leben, das war auf jeden Fall auch der Bolzplatz, dieses Kicken mit den Freunden, unter vielen Menschen und Kulturen. Egal, ob die Jungs dann älter, jünger, dicker, dünner, schlecht oder gut waren: Wir haben trotzdem alle zusammengespielt und keiner wurde ausgegrenzt oder irgendwas. Alle sind gleich.“

Es ging euch um gegenseitigen Respekt.
Amiri: „Auf dem Bolzplatz wurde keiner ausgeschlossen. Wir waren immer offen. Wir wollten immer, dass viele da sind. Da kamen die Kinder von überall her. Wir haben nie gesagt: ‚Nein, ihr dürft nicht mitmachen.‘ Wir haben das so aufgeteilt, dass alle spielen können. So sind wir erzogen worden. Und wenn wir nicht genug zu essen oder trinken hatten, wurde immer alles geteilt. Und das macht meine Familie und mich bis heute stark. Ich glaube, deshalb bekam ich vom lieben Gott das alles geschenkt, was ich jetzt habe.“

Hast du denn noch Kontakt zu einigen der Jungs von früher?
Amiri: „Ja, eigentlich zu allen. Den Alexander Esswein etwa kenn ich‘, seit ich ein kleiner Junge bin;  Baris Atik war dabei, der Bochumer Danny Blum ist der beste Freund meines Bruders. Und mit Hakan Çalhanoğlu haben wir zuletzt auch mal wieder in der Halle gekickt. Also, da gibt es schon ein paar aus unserer Ecke, die es in den Profifußball geschafft haben. Die Zeit ist natürlich nicht mehr so gegeben für ausgiebige Treffen während der Saison. Aber in der Sommerpause zum Beispiel gehen wir schon noch gern mal auf den Hartgummiplatz zocken.“

Auf dem Bolzplatz wurde keiner ausgeschlossen. So sind wir erzogen worden.

Abseits des Bolzplatzes begann deine Vereinskarriere beim heimischen Ludwigshafener SC.
Amiri: „Da habe ich angefangen, bin dann aber zum 1. FC Kaiserslautern gewechselt und habe dort gespielt, bis ich 13 Jahre alt war. Dann haben sie mich rausgeworfen. Zu schlecht. Es reicht nicht, haben sie gesagt. Für mich war das ein Glücksfall. Ich muss fast dankbar dafür sein. (lacht)

So kamst du über Waldhof Mannheim und den Nachwuchs der TSG Hoffenheim zu deinem ersten Profivertrag. Erinnerst du dich noch an diesen Moment?
Amiri: „Es war mein 18. Geburtstag, der 27. Oktober 2014. Ein Montag, ich weiß es genau. Ich habe am Sonntagabend in den Geburtstag reingefeiert, alle Freunde wussten, am Montag unterschreibe ich den Vertrag. Ich war fix und fertig, dabei habe ich noch nie in meinem Leben Alkohol getrunken. Aber ich hatte so wenig Schlaf und bin dann mit meinen Eltern zur TSG-Geschäftsstelle gefahren. Ich war todmüde und zugleich total euphorisiert.“

Für deine Eltern dürfte es auch sehr speziell gewesen sein. 
Amiri: „Meine Eltern haben geweint, weil sie wussten, es hat sich gelohnt. Auch wenn ich noch nichts erreicht hatte, das erste Gehalt natürlich recht niedrig und das Geld entsprechend auch ruckzuck fast weg. Meine Eltern und ich wussten: Jetzt liegt alles in meiner Hand, jetzt muss ich mein Bestes geben. Und so wie es dann gekommen ist, bin ich natürlich ebenso überglücklich wie meine Eltern.“

Deine Eltern mussten damals vor dem Krieg aus Afghanistan nach Deutschland flüchten und hier wieder bei Null anfangen. Ihre Disziplin, ihr Aufstiegswille haben dich vermutlich geprägt.
Amiri: „Absolut. Mein Vater hat damals zu Beginn tagsüber Autos verkauft und nach Feierabend abends bei Burger King geputzt, wenn alles geschlossen war. Meine Mutter hat als Altenpflegerin gearbeitet. Meine Eltern haben sich alles selbst aufgebaut, obwohl sie nicht einmal die Sprache konnten, als sie nach Deutschland kamen. Diese Einstellung haben sie mir mitgegeben: Egal, was du hast, egal, was du bist: Du bist immer der gleiche Mensch, immer gleich viel wert. Und du musst für deine Ziele kämpfen. Das haben mir meine Eltern immer gesagt: ‚Egal, was du willst: Du kannst alles erreichen auf dieser Welt, nur musst du es wirklich wollen.‘ Also nicht nur sagen ‚Ich will das‘, sondern dann auch wirklich alles dafür tun. Ich bin dankbar für jeden Widerstand, jeden schweren Moment: Das hat mich alles geprägt, immer stärker gemacht. Ich glaube, dass ich das auch ausstrahle, dass ich alles erreichen will. Unbedingt.“

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Ist es diese Rolle des emotionalen Leaders, die du jetzt auch bei der Werkself zunehmend ausfüllen möchtest?
Amiri: „Ich mache nichts, um jetzt einfach mal cool zu sein oder eine Show abzuziehen. Das bin einfach ich, das sind meine Emotionen. Und ich glaube, in dieser Saison sieht man, dass ich mich hier auch extrem wohlfühle und richtig angekommen bin. Natürlich versuche ich, der Mannschaft mit meiner Mentalität zu helfen. Ich glaube, in der Saison bin ich schon ein Stück weit mehr in die Rolle einer Führungsspielers hineingewachsen. Ich habe das Gefühl auch in mir, dass ich einer sein kann. Das meine ich nicht arrogant, aber schon selbstbewusst.“

Wie würdest du deine eigene Entwicklung hier bei Bayer 04 beschreiben?
Amiri: „Ich habe das erste Jahr einfach gebraucht, um anzukommen. Ich war sieben Jahre in Hoffenheim, dann das erste Mal weg von zu Hause. Ich bin ein Familienmensch, brauche diesen Kontakt. Ich hatte, gerade zu Corona-Zeiten, meine Familie aber nicht bei mir, dann ist es mir nochmal schwerer gefallen. Es haben ein paar Möbel gefehlt, die Wohnung war ein bisschen leer und kalt. Inzwischen sind meine Eltern regelmäßig hier, ich habe meine Freundin öfter hier in Düsseldorf, da ihr Studium digital läuft, ich habe meine Nachbarn kennengelernt. Ich bin jetzt privat und auch im Verein komplett angekommen, habe mir auch ein gewisses Standing erarbeitet.“

Spürst du die wachsende Anerkennung des Umfelds?
Amiri: „Es kommt zumindest immer mal wieder jemand zu mir und sagt mir, dass ich dieses Leader-Gen in mir habe und auch vorangehen soll. Auf dem Platz bin ich ohnehin jemand, der viel redet, weil ich damit der Mannschaft helfen will. Aber ich bin jetzt keiner, der in der Kabine oder beim Training besonders laut wird. Wenn ich etwas  mit einem Spieler klären will, dann sage ich es ihm persönlich und nicht vor der Mannschaft. Grundsätzlich sollten wir alle dazu bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Und wer dann die Gruppe führt, das ergibt sich automatisch. Das entwickelt sich. Wir haben sehr viele junge Spieler, da kann es etwas dauern, bis eine Hierarchie entsteht. In dem Prozess stecken wir drin.“

Eine dieser Szenen, die exemplarisch waren für deine veränderte Rolle in der Mannschaft, ist dieser Ballgewinn im Derby gegen Köln beim Stand von 4:0 – und der folgende emotionale Ausbruch.
Amiri: „Die ganze Aktion, das bin einfach zu einhundert Prozent ich. Ich probiere etwas nach vorne, verliere den Ball und gehe direkt wieder hinterher. Als ich dann den Zweikampf gewonnen hatte, ist es einfach aus mir herausgebrochen. Und auf dem Platz hat die ganze Mannschaft geschrien, alle haben es gefeiert. Da wurde es im Stadion kurz laut, obwohl gar keine Zuschauer da waren. Da habe ich gemerkt: ‚Ja, das sind wir alle.‘ Diese Szene hat, glaube ich, unsere Gesamt-Leistung in der Hinrunde widergespiegelt. Da war die Energie da, alles zu geben, in jedem Moment. Ich glaube, die Hinrunde war von uns allen überragend.“

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Die Rückrunde verlief bisher leider weniger erfolgreich.
Amiri: „Wir haben als komplette Mannschaft eine schwächere Phase. Bei mir kam, zeitgleich mit der Corona-Infektion, das Leistungstief, das bei jedem in einer Saison mal vorkommen kann. Ich hatte sehr viele Spiele in den Beinen, fühlte mich etwas ausgelaugt. Dann bin ich in ein kleines Loch gefallen, was menschlich ist.“

Wie ist die Corona-Erkrankung bei dir verlaufen?
Amiri: „Ich hatte drei, vier Tage starke Gliederschmerzen, dazu Kopfschmerzen. Ich war einfach extrem platt und hatte Probleme, richtig tief Luft zu holen. Als ich anschließend im Europa-League-Spiel gegen Bern von Anfang an gespielt habe, ging in der Halbzeit gar nichts mehr. Ich hatte derartige Schmerzen in der Lunge, dass ich einen Gang zurückschalten musste.“

Aber jetzt geht es körperlich wieder aufwärts?
Amiri: „Ja, ich fühle mich jetzt wieder besser. Mich interessiert da nicht, was die Zeitungen schreiben, wie sie mich bewerten. Das ist mir egal. Wenn der Trainer hingegen zu mir kommt und sagt, ‚Du hast ein gutes Spiel gemacht‘, dann reicht mir das. Ich bin selbst auch schon länger dabei, so dass ich weiß, ob ich gut oder eher schlecht gespielt habe. Die körperlichen Werte zeigen es, dass ich wieder topfit bin. Jetzt greife ich wieder an, werde meinen Teil zum Erfolg der Mannschaft beitragen.“

Welche früheren oder aktuellen Mitspieler haben dich denn bei dem Thema Mentalität geprägt?
Amiri: „Auf jeden Fall die Benders. Wenn ich Lars und Sven sehe, kann ich sagen: Mehr Führungsspieler geht gar nicht. Sie strahlen alles aus, nach außen wie nach innen. Wie sie mit den Spielern umgehen, mit der ganzen Mannschaft, zwischendurch auch mal laut werden, Klartext reden. Sie sind für mich die absoluten Führungsspieler; die besten, die ich bis jetzt in meiner Karriere hatte.“

Ihr verletzungsbedingtes Fehlen mag auch einer der Gründe sein, warum ihr zuletzt eine schwächere Phase hattet?
Amiri: „Wir spüren natürlich, wie sehr sie fehlen – und man sieht es auch im Spiel. Wenn die Beiden als Führungsspieler auf dem Platz stehen, gibt uns das nochmal eine ganz andere Ausstrahlung. Wir wünschen uns natürlich, dass beide für den Saison-Endspurt noch einmal zurückkommen und uns helfen können. Wir möchten ihnen ja auch einen geilen Abschluss bescheren.“

Das Interview mit Nadiem Amiri ist dem Werks11 Magazin Nr. 30 entnommen. Die Bayer 04-Clubmitglieder halten die neueste Ausgabe immer exklusiv als Erstes in den Händen. HIER geht's zu allen Ausgaben.